Zehn Tage im Juli (eBook)
220 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00365-1 (ISBN)
Günter Lucks, Jahrgang 1928, war nach der Ausbildung bis 1955 bei der Post tätig. Danach arbeitete er im graphischen Gewerbe, ab 1962 bis zur Rente im Axel Springer Verlag. Dort war er lange Jahre Betriebsrat. Eine Einladung der Bundeswehr in Gründung, ihr als Offizier beizutreten, hatte er abgelehnt. Er lebte in Hamburg, wo er im Dezember 2022 starb.
Günter Lucks, Jahrgang 1928, war nach der Ausbildung bis 1955 bei der Post tätig. Danach arbeitete er im graphischen Gewerbe, ab 1962 bis zur Rente im Axel Springer Verlag. Dort war er lange Jahre Betriebsrat. Eine Einladung der Bundeswehr in Gründung, ihr als Offizier beizutreten, hatte er abgelehnt. Er lebte in Hamburg, wo er im Dezember 2022 starb. Harald Stutte, Jahrgang 1964, studierte Politikwissenschaft und Geschichte. Er arbeitet als Redakteur im Medienverlag RedaktionsNetzwerk Deutschland. Texte von ihm sind in diversen überregionalen Zeitungen wie der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", der "Süddeutschen Zeitung" oder der "Welt am Sonntag" erschienen. Geboren in Leipzig, lebt er seit 1985 in Hamburg.
Vorwort
Die Toten sind unter uns Lebenden. In Wahrheit haben sie uns nie verlassen. Wenn ich durch das Gewerbegebiet in Hamburgs Stadtteil Hammerbrook gehe, entlang der Klinkerfassaden von Rothenburgsort oder Hamm, dann sehe ich die Bilder jener Nacht im Juli 1943. Ich sehe die von Tausenden Brandherden in rotes Licht getauchte nächtliche Stadt. Ich spüre die unerträgliche Hitze dieses Orkans, der durch die Straßenschluchten von Hammerbrook faucht. Ich höre sein markerschütterndes Heulen. Es klang, als hämmere da jemand alle Tasten einer Kirchenorgel gleichzeitig, ein Jaulen, das die Schreie der Menschen übertönte. Ich sehe die Menschen, die um ihr Leben durch den Feuersturm laufen, stürzen, liegen bleiben, im brüllend heißen Atem dieser infernalischen Bombennacht auf halbe Körpergröße schrumpfen. Ich sehe Menschen, die in Lachen aus flüssig gewordenem Straßenasphalt rennen, darin stecken bleiben und qualvoll sterben.
Plötzlich ist es wieder da, das Krachen einstürzender Fassaden. Und ich erinnere mich, wie angesichts dieser elementaren Bedrohung unbekannte, auf das nackte Überleben ausgerichtete Instinkte die Regie über mein Ich übernahmen. Wie ich unwillkürlich Dinge tat, ohne zu wissen, warum, die mein Leben gerettet haben. Wie ich zum Beispiel mit aufgerissenem Mund nach Sauerstoff lechzend inhalierte, was an halbwegs kühler Luft nur noch in den Ritzen des Kopfsteinpflasters der Straße zu finden war. Keuchend kroch ich am Boden herum, weil sich erst meine Nase, dann mein Mund dieser unerträglichen heißen Luft verweigerte. Und ich erinnere mich, wie ich zusammen mit einem mir völlig fremden, uralten Mütterlein – vielleicht wirkte die Frau auch nur so alt? –, wie wir beide aneinandergepresst, diesen Menschenfallen aus Flüssigasphalt ausweichend, durch diese brennenden Straßenschluchten taumelten. Eine schier endlos scheinende Zeit für die nicht einmal tausend Meter Wegstrecke benötigten, die unser zerstörtes Wohnhaus vom rettenden, weil glücklicherweise intakt gebliebenen Schulgebäude in der Norderstraße trennten.
Die Toten dieser Nacht – sie sind für immer unter uns Lebenden. Sie besuchen meine Träume, sie sind in meinen Erinnerungen, auf den Fotos, in den Gesprächen, auch in den Büchern, die ich heute schreibe. In Wahrheit ist mein geliebter Bruder nie von mir gegangen. Hermann, 14 Monate älter als ich, ist für alle Ewigkeit 15 Jahre jung geblieben. Er starb in den ersten Stunden des noch jungen 28. Juli, zwei Tage vor seinem 16. Geburtstag. Unser letzter gemeinsamer Moment, festgehalten in meinem Gedächtnis und in einer Endlos-Wiederholung tausend Mal wiedergegeben. Wie in einem Film, in dem ich als Komparse nur eine Nebenrolle spiele, sehe ich, wie mich Hermann vom Dachboden unseres brennenden Hauses über das Treppenhaus in den noch intakten Eingangsbereich im Parterre trägt. Ich hatte kurz zuvor die Besinnung verloren, weil eine brennende Holzwand eingestürzt war und ich mir reflexhaft die «Volksgasmaske» vom Gesicht gerissen hatte. Ich erinnere mich noch genau, wie heiß sich das flüssig gewordene Gummi der Maske an meinem Hals anfühlte, ich rieche die stechend-toxischen Gase des von den Brandbomben entfachten Feuers, das sich längst im Gebälk unseres Dachbodens ausgebreitet hatte. Bis zu dieser Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943 ist Hermann für mich mein großer Bruder gewesen, der die Rolle unserer abwesenden Eltern übernommen hatte. Zu ihm hatte ich aufgeblickt, ihm vertraute ich, er hatte mich beschützt, wenn mich zum Beispiel größere Jungs bedroht hatten.
Doch in dieser Nacht, die ihn für immer verschlucken sollte, war Hermann in meinen Augen zu einer Art Übermensch geworden, wenn ihm das auch lediglich für die Dauer weniger Stunden vergönnt war. Es ist verrückt: Doch im Angesicht des Untergangs zeigte er sich mir von einer völlig neuen Seite. Von einer unergründlichen Energie getrieben sehe ich ihn bis heute, wie er half, wie er unter dem Eindruck der Katastrophe selbstlos Rettungsmaßnahmen organisierte und in Panik geratene Menschen, viel älter als er und ich, beruhigte und ermutigte.
Wie er mich dann zurückließ, mit dem festen Versprechen, Hilfe zu holen und schnell zurückzukommen. Heute, 76 Jahre später, weiß ich, dass es der Moment meines Lebens war, der mich am deutlichsten geprägt, vermutlich auch traumatisiert hat. Ich war in diesem Moment nicht fähig, ihm zu widersprechen, ihn zu halten, obwohl ich ahnte, dass er im Begriff war, einen schweren Fehler zu begehen. «Du bleibst hier liegen, ich hole Hilfe!» Und dann rannte er hinaus, rannte in diese Nacht, in der der Hamburger Osten einem Meer aus Lava glich. Es war das erste Mal, dass Hermann nicht Wort gehalten hat, nicht Wort halten konnte. Er kam nie zurück. Seine Spur verliert sich in dieser Nacht des Schreckens. Auch mir wurde das beinahe zum Verhängnis, denn ich blieb und wartete eine gefühlte Ewigkeit lang auf ihn, während über mir das Haus brannte.
Ich bin kein Historiker, ich erhebe nicht den Anspruch auf eine exakte, detailgetreue Wiedergabe der Ereignisse vom Juli 1943, jenes Bombeninfernos, das als «Operation Gomorrha» oder «Hamburger Feuersturm» in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Über den Untergang der Hansestadt sind bis heute viele Bücher erschienen, nahezu jedes Detail dieser zehn Tage im Juli 1943 scheint inzwischen aufgearbeitet zu sein.
Dieses Buch soll nicht viel mehr leisten, als unsere Geschichte zu erzählen, die Geschichte von zwei Jungen, die sich in jenen Tagen und Nächten im Zielgebiet der «Operation Gomorrha» aufhielten, des bis dahin schwersten konventionellen Bombardements einer zivilen Stadt, das schätzungsweise 35000 Menschenleben kostete. Das Todesurteil meines Bruders war wohl bereits am 27. Mai 1943 vom Oberbefehlshaber des Bomber Command der Royal Air Force, der Luftstreitkräfte des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland unterzeichnet worden, so weiß man heute. Vier Wörter waren es, die unter Punkt 4 auf dem streng geheimen Einsatzbefehl Nr. 173 das Vorhaben in kalter Präzision umrissen: «Intention: To destroy Hamburg.» Übersetzt bedeutet das: Absicht: Hamburg zu zerstören.
Das klingt kalt und unmenschlich. Ich glaube aber nicht, dass Arthur Harris ein schlechter Mensch war, gar ein Mörder. Vielmehr tat der «Commander in Chief of Royal Air Force Bomber Command» das, was man damals von ihm erwartete: ein in seiner Existenz bedrohtes Land, nach Frankreichs Kapitulation 1940 das letzte Bollwerk der Alliierten gegen die Nazis, mit allen Mitteln zu verteidigen. Und diesem fanatischen, zu allem entschlossenen Feind einen größtmöglichen Schaden zuzufügen. Hitlers Krieg hatte keine «ethischen Standards», vom ersten Tag an waren alle Regeln außer Kraft gesetzt. Die Alliierten ließen sich darauf ein. Und die Aufgabe von Harris war es, dem Nazi-Reich maximal zu schaden, also seine Städte zu zerstören. Der 15-jährige Hermann Lucks hatte in diesen Überlegungen keinen Platz. Der kalten und zeitlosen Logik von Kriegen folgend.
Damals war Arthur Harris ein im Vereinigten Königreich gefeierter Mann. Schon nach dem Krieg war er es nicht mehr. Ihm wurde ein ehrenhaftes Gedenken verwehrt. Und das ist eine gute Entwicklung, weil sie zeigt, dass eine neue Zeit begonnen hatte. Aus dem Helden Harris wurde im Großbritannien der Nachkriegszeit das «Monster des Bomber Command». Seinen Piloten wurden Orden verweigert, das Land setzte auf eine «Kampagne des Vergessens». Schlimm ist nicht allein die Tatsache, dass es zu allen Zeiten Militärs gab und gibt, die ihr tödliches Handwerk mit solch kalter Perfektion verstehen wie Luftmarschall Sir Arthur Harris. Schlimm ist es, dass es Situationen gibt, in denen die kalte Logik dieser Militärs die Maximen des Handelns diktieren. Und diesen Krieg haben nicht die Briten begonnen.
Es liegt mir fern, die Ereignisse vom Juli 1943 und ihre Vorgeschichte zu bewerten, ich möchte auch nicht anklagen, weder historisch einordnen noch relativieren. Ich möchte unsere Geschichte erzählen, weil wir nur dann aus unserer Vergangenheit lernen können, wenn wir uns ihr stellen. Seit Jahren bin ich ehrenamtlich in der «Hamburger Zeitzeugenbörse» aktiv, besuche außerdem zusammen mit meinem Koautor Harald Stutte Schulen und erzähle von Krieg und Nazi-Zeit. Die Reaktionen der jungen Menschen sind bemerkenswert. Ich spüre eine große Neugier, ein Interesse an meinen Erlebnissen. Da erreichen mich Fragen von Teenagern, denen man auf den ersten Blick nicht zutrauen würde, dass sie sich für Geschichte interessieren. Und das stimmt mich zuversichtlich. Womöglich gehöre ich ja doch der letzten Generation Deutschlands an, die einen Krieg erleiden musste.
Meine Geschichte spielt zwar in Hamburg, doch sie könnte sich auch im spanischen Guernica, im englischen Coventry, im japanischen Hiroshima, im früheren Leningrad, in Vietnam, Afghanistan, in Tschetschenien oder in Syrien zugetragen haben. Oder überall dort, wo gewöhnliche Menschen in die Mühlen des Krieges geraten sind.
Ich fand es bemerkenswert, wie Hamburg nach dem Krieg mit dem erlittenen Leid umgegangen ist. Obwohl Hamburg die höchste Zahl an zivilen Opfern aller deutschen Städte zu beklagen hatte und 53 Prozent seines Wohnraums verloren hat, hat man die Zerstörung von 1943 nach dem Krieg nie politisch instrumentalisiert. Die Stadt gefiel sich nie in der Rolle permanenter Mahnung oder eines Opferkultes. Und das, obwohl die Ruinen von Hammerbrook, Rothenburgsort oder Hamm die vermutlich größten Friedhöfe dieser Stadt ohne Grabsteine waren. Den Nährboden für neuen Hass...
Erscheint lt. Verlag | 24.3.2020 |
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Zusatzinfo | Mit 12 S. Tafelteil inkl. 1 s/w Karte |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 | |
Schlagworte | Alliierte Angriffe • Alltag im Krieg • Autobiografie • Bombenkrieg • Feuersturm über Hamburg • Lebensgeschichte • Nationalsozialismus • Operation Gomorrha • Sachbuch Geschichte • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-644-00365-3 / 3644003653 |
ISBN-13 | 978-3-644-00365-1 / 9783644003651 |
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Größe: 3,7 MB
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