Die Sache mit der Bratwurst
Piper (Verlag)
978-3-492-24262-2 (ISBN)
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Die Religionslehrerin, Islamwissenschaftlerin und Autorin Lamya Kaddor wurde 1978 als Tochter syrischer Einwanderer in Ahlen/NRW geboren. Sie gründete 2010 den Liberal-Islamischen Bund e.V., der sich für ein progressives Islamverständnis einsetzt, und wurde zu einer der zehn einflussreichsten muslimischen Frauen Europas gewählt. Kaddor unterrichtete 13 Jahre selbst auch Islamischen Religionsunterricht in Dinslaken, bis sie sich im September 2016 wegen Morddrohungen nach dem Erscheinen ihres Buchs »Die Zerreißprobe« vom Schuldienst beurlauben ließ. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt „Islamfeindlichkeit im Jugendalter“ an der Universität Duisburg-Essen. Zudem ist sie Kolumnistin u.a. bei t-online.de, dem Kölner Stadtanzeiger und dem Norddeutschen Rundfunk. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt in Duisburg.
»Lamya Kaddor hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben (…).«, monerls-bunte-welt.blogspot.de, 09.05.2018
»Ihr gelingt laut Aussage von Krupp-Leiter Peter Jöckel, nicht nur, viele alltägliche Schwierigkeiten näherzubringen, sondern auch überraschende Lösungen für ein Dilemma.«, Neue Ruhr Zeitung, 24.04.2018
Vorwort Vor acht Jahren wurde ich gebeten, ein Buch über muslimisches Leben in Deutschland zu schreiben. Ich arbeitete an der Universität Münster, sollte Lehrer für islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache ausbilden. Zudem unterrichtete ich selbst Islamkunde in deutscher Sprache. Ich hatte bereits 2008 den deutschlandweit ersten Koran für Kinder und Erwachsene gemeinsam mit Rabeya Müller ins Deutsche übersetzt und kommentiert. Mir war es ein großes Anliegen, bestimmte Themen wie islamische Religionspädagogik, muslimische Jugendliche, Identitätsfragen, Integrationspolitik, Radikalisierung und Grundzüge eines liberalen Islam vorzustellen und zu diskutieren. Viele dieser Themen waren den meisten Menschen in unserem Land fremd. Ich war in gewisser Hinsicht eine Art Pionierin, die über diese Fragen im Kontext des Islam in Deutschland aufklären wollte, daher freute ich mich über die Anfrage. Doch je mehr ich »aufklärte«, desto bekannter wurde ich. Je bekannter ich wurde, desto mehr Aufmerksamkeit aus allen möglichen Lagern bekam ich. Wenn ich »pro-islamisch« in Sachthemen argumentierte, wurde mir von Islamgegnern vorgeworfen, ich sei in Wirklichkeit eine Schläferin. Wenn ich »liberal-islamisch« argumentierte, wurde mir von konservativen beziehungsweise orthodoxen Muslimen vorgeworfen, ich sei gar keine richtige Muslimin. Für die einen bin ich zu viel muslimisch, für die anderen zu wenig. Aber ich fühle mich »dazwischen« ganz gut und sehe keine Veranlassung, an meiner Haltung und meinem Anliegen etwas zu ändern, obwohl auch ich Ausgrenzungserfahrungen in meinem Leben machen musste. »Anderssein« war lange Zeit Teil meiner Identität. Aber diese Erfahrungen waren notwendig, um meinen Standort im Leben zu finden. Denn je mehr ich angegriffen und bedroht wurde, desto mehr reflektierte ich über Sinn und Bedeutung meines eigenen Ichs. Die Zuschreibungen, die man für mich fand und immer noch findet, weil Frauen wie ich manchen suspekt sind, begleiten mich inzwischen fast vierzig Jahre lang. Ich weiß heute mehr denn je, wie ich mich verstehe: Ich bin Deutsche mit syrischen Wurzeln und muslimischen Glaubens – im Einzelnen bedeutet das für mich, Mutter und Wissenschaftlerin, Frau und selbstbestimmt, liberal und gläubig, frei und denkend, humorvoll und menschlich zu sein. Vielen passt das nicht. Selbstverständlich setzen mir Morddrohungen und Belästigungen zu, denen ich regelmäßig ausgesetzt bin, aber Aufgeben ist nicht mein Weg. Häufig werde ich gefragt, wie ich persönlich damit umgehe und warum ich weitermache. Es wird mir bescheinigt, eine »Muster-Migrantin«, eine »Vorzeige-Muslima« und ein »Energiebündel« zu sein. Da ich mit diesen »Komplimenten« nicht immer d’accord gehe, weil sie nicht unbedingt schmeichelhaft sind, war es mir nun ein Anliegen, Sie, verehrte Leser, mit in »meine Welt« zu nehmen und bestimmte Erfahrungen mit Ihnen zu teilen. An meinem Humor werden Sie dabei allerdings nicht vorbeikommen. Ja, ich bin eine Idealistin, hoffnungslos, aber durchaus hartnäckig. Ich kann mit Schwarz-Weiß wenig anfangen. Bereits als Kind hatte ich Probleme damit. Und seitdem ist es mir ein unbeschreiblich großes Anliegen, zu vermitteln. Und dies in alle möglichen Richtungen. In diesem Sinne wünsche ich eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre. Die meisten Namen in diesem Buch sind verfremdet. Ich habe mich dazu entschieden, weil ich niemanden gefährden möchte. Wegen meiner Arbeit habe ich mit verschiedenen Extremisten, mit Verleumdungskampagnen und Diffamierungen zu tun. Mehrfach haben mir Familienangehörige und Freunde durch die Blume zu verstehen gegeben, dass sie Angst davor haben, in etwas hineingezogen zu werden. Aus Respekt und aus Eigenschutz belasse ich sie daher in der Anonymität. Duisburg im März 2018 Prolog – Der Apfeltraum meiner Mutter »Vor vierzig Jahren hatte ich einen Traum. Ich sah eine riesige Baumkrone mit lauter roten Äpfeln vor mir. Eine Stimme sagte, ich dürfe den schönsten unter ihnen pflücken. Also kletterte ich auf diesen Baum und suchte nach dem schönsten Apfel. Aber kaum bekam ich einen zu fassen, bemerkte ich, dass er eingedrückt oder wurmstichig war. So brachte ich eine lange Zeit zu und suchte nach dem perfekten Stück. Verzweiflung überkam mich. An jedem Apfel fand ich etwas, das mich störte. Aber nach einer Weile entschied ich mich doch. Und ich pflückte den schönsten Apfel, trotz seiner Makel.« Meine Mutter erzählte mir von diesem Traum am Telefon, sie klang sehr ruhig dabei. Obwohl es schon so lang her ist, kann sie sich gut an ihn erinnern. Das ist für sie nicht ungewöhnlich. Araber haben es mit Träumen. Für sie war an diesem Tag der Zeitpunkt gekommen, mir von diesem Traum zu erzählen, denn sie konnte ihn nun deuten. Sie war sich ganz sicher, dieses Traumbild sollte etwas mit mir zu tun haben. Es galt ihr als eine Prophezeiung für mein Leben. Das Deuten und Interpretieren von Träumen spielt in der arabischen Kultur eine besondere Rolle. Meine Eltern besitzen ein arabisches Buch eigens über das Traumdeuten. Und es kam nicht selten vor, dass ich in jungen Jahren einen von beiden mit diesem Buch in den Händen antraf. Heute ist uns die Kunst des Traumdeutens weitgehend abhandengekommen. Sie scheint unserer aufgeklärten Welt zum Opfer gefallen zu sein, ist unter die Räder von Wissenschaft und Rationalität geraten. Dabei ist die Kunst der Traumdeutung vermutlich schon so alt wie der Homo sapiens selbst. In der Antike galt sie den Menschen als eine Gabe, die dem Deuter zu Ruhm und Ehre gereichen konnte. Denken wir beispielsweise an Josef, den Propheten. Die biblische Gestalt, die in Ägypten, einem für ihn fremden Land, vom Sklaven zum Berater des Pharao aufstieg, indem er ihn und sein Volk vor dem Hungertod bewahrte – das alles ausgelöst durch die Deutung von Träumen. Meine Mutter rief mich an einem Sonntag an. Wir reden oft zu dieser Zeit miteinander. Wir sprechen über Gott und die Welt – und das immer in der gleichen Reihenfolge: über ihre Gesundheit, über meine Kinder, unsere Verwandtschaft in Syrien, über Freunde und Bekannte in Deutschland, die Politik im Land und die Politik in Syrien, über meine Arbeit und über den Tod. Ja, Sie haben richtig gelesen. Wir sprechen regelmäßig über den Tod. Als wir uns an jenem Tag wieder einmal darüber austauschten, dass der Tod uns eines Tages ereilen würde, fiel ihr jener Traum ein, den sie vor rund vierzig Jahren geträumt hatte. Sie erzählte von dem Baum und der Stimme, die ihr den schönsten Apfel vom Baum gewährte. Als sie ihre Erzählung mit dem Ergebnis beendete, sie hätte sich den schönsten Apfel vom Baum gepflückt, fragte ich sie natürlich, wie sie dies alles deute. Sie antwortete trocken und selbstbewusst: »Nun, du bist dieser Apfel. Ich habe den Traum kurz vor deiner Geburt gehabt.« Nun kenne ich viele Geschichten, darunter die aus Tausendundeiner Nacht. Aber wenn einem die eigene Mutter eine solche Geschichte erzählt, ist das etwas ganz besonders Schönes. Für meine Mutter mit ihrer eher nüchternen Art war das nichts Aufsehenerregendes, aber mir legte sie damit Wärme ums Herz und spendete mir neue Kraft für das, was da täglich auf mich zukommen sollte in meiner Rolle als Islamwissenschaftlerin, als Vorhut der islamischen Religionspädagogik und des liberalen Islam, als Publizistin, als Lehrerin, als Kind syrischer Eltern, als Muslimin, als Deutsche, als Frau. Fortwährend muss ich meine Kämpfe gegen muslimische Funktionäre, konservative Gläubige, gegen Fundamentalisten und Islamisten auf der einen Seite, sowie gegen Rassisten, Völkische, gegen Islamfeinde, Religionshasser und sonstige Chauvinisten auf der anderen Seite ausfechten. Und das als Frau in durchweg männerdominierten Kreisen zu einer Zeit, in der Social Media über uns hereingebrochen ist. Aber ich bin nun einmal eine sture und unverbesserliche Verfechterin der Maxime: Leben und leben lassen. Bye-bye, geliebte Heimat Mein Vater kam 1975 aus Damaskus nach München. Erst im Jahr darauf holte er meine Mutter und meine beiden Geschwister, meine ältere Schwester und meinen älteren Bruder, nach. Wie üblich unter Minderheiten, hielten sich bereits einige wenige entferntere Verwandte und Bekannte in Ahlen auf. Also hatte mein Vater beschlossen, das Wagnis Deutschland ebenfalls dort zu beginnen. Da war es also: dieses historisch und wirtschaftlich so bedeutende Land mitten in Europa, von dem sie bis dato immer nur gehört hatten. In Deutschland werden Arbeitskräfte gesucht! In Deutschland läuft alles geregelt ab! In Deutschland sind die Menschen korrekt! Es war nicht die Hoffnung auf eine Zukunft, die meinen Vater angelockt hatte. Wie schon die »Gastarbeiter« vor ihm, war er nicht mit dem Ziel gekommen, in Deutschland sesshaft zu werden. Er wollte »nur etwas Geld verdienen« und dann wieder zurück nach Syrien. Heimat und Familie dauerhaft verlassen? Das kam für ihn nicht infrage. So dachten zunächst alle »Gastarbeiter«. G-a-s-t-a-r-b-e-i-t-e-r – dieses Wort ist so unpassend wie vergiftet. Mag die Wortwahl ursprünglich treffend und neutral gedacht gewesen sein, der Realität hielt sie schon nach Kurzem nicht mehr stand. Wer aus einem Land mit schlechteren Lebensumständen in ein Land mit besseren geht, und sei es auch »nur«, um zu arbeiten, wird bereits nach kurzer Zeit automatisch an das Land gebunden. Die Einsamkeit schreit nach Familiennachzug oder Familiengründung, es folgt Nachwuchs, und mit ihm festigt sich die Verwurzelung in der Fremde. Die Kinder gehen in den Kindergarten, in die Schule und mit einem Mal haben sie eine neue Heimat. Bis heute aber pflanzt das Wort »Gastarbeiter« Menschen in Deutschland die Vorstellung in die Köpfe, dass die, die da einst zu uns gekommen sind, Gäste sind – und Gäste verhalten sich wie? Sie sind zurückhaltend, und nach einer Weile gehen sie wieder, bleiben sie zu lange; werden sie zum Ärgernis. Bei den »Gastarbeitern« trug der Begriff dazu bei, allzu lang ihren Selbstbetrug aufrechtzuerhalten. Über Jahrzehnte verharrten sie in dem Glauben: Eines Tages kehren wir wieder zurück in die »Heimat«. Wunderbar selbstironisch und ihrer Zeit voraus, haben sich in den 1990er-Jahren die Rapper um den Ruhrgebiets-Musiker Gandhi Chahine treffend »Sons of Gastarbeita« genannt. Nachdem sich mein Vater eingelebt hatte, beschloss er, nun sei die Zeit gekommen, um seine Familie nachzuholen. Meine Mutter landete am Vormittag des 29. Dezember 1976 mit ihren beiden Kindern auf dem Flughafen München-Riem und betrat erstmals deutschen Boden. Bei der Ankunft stach ihr so viel Fremdes ins Auge: zum Beispiel der Schnee. Natürlich hatte meine Mutter schon Schnee gesehen, in Nordsyrien wird es im Winter kalt, und selbst in Damaskus rieselt mitunter die weiße Pracht vom Himmel, aber eine solche Menge wie in München war auch für sie neu. »Meterhoch lag der Schnee«, erzählt sie noch heute. Draußen vor dem Terminal sah sie Pärchen, die sich in aller Öffentlichkeit küssten. Das gab es in Syrien so kaum, schon gar nicht in den traditionellen ländlichen Regionen, aus denen sie stammte. Meine Eltern wuchsen in einem typisch syrischen Dorf auf, mit patriarchaler Gesellschaftsstruktur und alten Traditionen. In ihrer Kindheit gab es weder fließendes Wasser noch Strom aus der Steckdose. Syrien und die Landbevölkerung waren arm. Als Frau in so einer Gesellschaft aufzuwachsen gestaltete sich für meine Mutter damals nicht einfach. Sie war die jüngste von vier Geschwistern und als Einzige noch nicht verheiratet. Zudem hatten die vier ein Dutzend jüngerer Halbgeschwister, die ihr Vater mit einer Zweitfrau gezeugt hatte. Für die Kleinen war sie die große Schwester. Mama lebte mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer verwitweten Großmutter väterlicherseits zusammen in einem Haus. Ihre älteren Geschwister waren bereits flügge. Direkt nebenan wohnte die Zweitfrau ihres Vaters mit deren Kindern. Zwar erlebten meine Eltern, wie sich das Land technisch langsam modernisierte – in den Siebzigerjahren gab es bereits fließendes Wasser und Stromleitungen auf dem Land –, allerdings versorgten diese die Bevölkerung nur für eine begrenzte Zeit am Tag. Dieser »luxuriöse« Zustand sollte noch bis in die späten Neunzigerjahre hinein andauern. Selbst in Aleppo wurden bis zur Jahrtausendwende Strom und Wasser zu bestimmten Tageszeiten noch abgestellt. Hier in Deutschland war man in gewisser Weise in allen Bereichen weiter. Meine Eltern müssen sich wie in einer Zeitkapsel vorgekommen sein. Ihre Einwanderung bedeutete einen Zeitsprung von vielleicht fünfzig Jahren. Der Fortschritt und der Wohlstand in diesem Land begeisterte sie, aber beides machte ihnen auch Angst. Meinen Vater interessierten die küssenden Pärchen vor dem Flughafen nur wenig, er kannte das schon. Seine Aufmerksamkeit galt den Maschinentypen, die auf dem Rollfeld standen; er war beim syrischen Militär zum Flugzeugtechniker ausgebildet worden. Das machte ihn theoretisch wie praktisch fit für den Umgang mit allerlei Motoren und Maschinen. Seine Ausbildung hatte ihm nicht nur handwerkliches Geschick vermittelt, sondern auch Kreativität, Improvisationsfähigkeit und Einfallsreichtum, denn Ersatzteile ließen sich nicht so ohne Weiteres bestellen wie in anderen Ländern. Sie mussten vielmehr selbst gebastelt oder überbrückt werden. In dieser Hinsicht kam der Mangel in Syrien meinem Vater für seine Jobsuche in Deutschland zugute. Als versierter Mechaniker fand er leicht einen Arbeitsplatz in einer Autowerkstatt. Für meine Eltern gab es viel zu entdecken in diesem Deutschland. Die Neuankömmlinge mussten lernen, sich zurechtzufinden. Das galt zunächst einmal für die Behördengänge. Hierzulande schimpft man oft über die Bürokratie, aber in vielen Ländern wiehert der Amtsschimmel noch um einiges lauter. Von einem Schalter zum anderen geschickt zu werden und wieder zurück über den Umweg diverser anderer Büros, das ist auch in Syrien so. Nur kommen dort oft noch Korruption, Schikane und Willkür hinzu. So erlebten meine Eltern Deutschland in dieser Hinsicht als wahre Wohltat – mal abgesehen von den sprachlichen Hürden. Es wirkte fast surreal auf sie: so viel Ruhe und Ordnung, Verbindlichkeit und verlässliche Informationen im Vergleich zu Syrien. Wenn heute Menschen eine Reise in ein fernes Land tun, studieren sie Ratgeber mit so treffenden Titeln wie »Kulturschock« oder »Kauderwelsch«. Kurz: Sie bereiten sich auf die Fremde vor, erwarten Exotisches und Ungewöhnliches. Meine Eltern waren keine geübten Reisenden. Im Gegenteil. Das Abenteuer ihres Lebens begann für Mama in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Ihr Bruder begleitete sie zum Flughafen. Der Gang zum Check-in fiel ihr schwer, ihre Beine fühlten sich an, als wären die Knochen aus Blei. Sie war neunundzwanzig Jahre alt und hatte zwei Kinder im Alter von vier und fünf Jahren bei sich. Sie hatte Syrien nie zuvor verlassen und sie stand vor ihrem ersten Flug überhaupt – und das ohne Rückreiseticket. Sie sprach weder Deutsch noch Englisch. Nur Arabisch. Mein Onkel machte sich Sorgen. Er bat einen Mitreisenden, einen Blick auf seine Schwester und deren Kinder zu werfen und ihr gegebenenfalls zu helfen. Die Abschiedsumarmung fiel lang und intensiv aus. Man weinte. Die beiden Kinder waren mucksmäuschenstill, schauten meist verlegen auf den Boden und immer nur für einen kurzen Moment blickten sie zu ihrer Mutter hoch. Der Kummer lag schwer auf ihren kleinen Seelen, denn sie wussten kaum, wie sie ihn zu deuten hatten. Mama bemerkte es und fing sich wieder. Sie musste jetzt stark sein. Aufgewühlt und in Sorge um die Kinder stieg sie mit einem starken Gefühl der Ungewissheit ins Flugzeug. Was würde das Leben noch für sie bereithalten? Die drei nahmen ihre Sitzplätze ein und langsam fieberten sie dem Wiedersehen mit ihrem Ehemann beziehungsweise ihrem Vater entgegen. Mitten in die Vorfreude hinein platzte eine Durchsage aus dem Cockpit: »Wir werden nicht in München landen. Wir fliegen jetzt aufgrund des starken Schneesturms nach London.« Was? London? Was bitte soll sie in London? Wo soll sie denn da hin? Was ist mit dem Gepäck? Meine Mutter war kurz davor, in Panik zu geraten. Der Mitreisende, den mein Onkel gebeten hatte aufzupassen, wandte sich an sie und beruhigte sie damit, dass man allen Flugreisenden am Flughafen Heathrow ein Zimmer zur Verfügung stellen werde. Papa stand in München und wartete am Flughafen. Ein Freund hatte ihn mit seinem Auto hingefahren. Nach eineinhalb Stunden erfuhr er von der Umleitung des Flugzeugs. Da wurde auch er richtig nervös, seine Frau konnte sich in dem fremden Land nicht verständigen. Was war mit den Kindern? Papa fragte nach dem Namen des Hotels, nach einer Telefonnummer, nach irgendeiner Möglichkeit, seine Frau zu erreichen. Doch es hieß nur: »Beruhigen Sie sich, es wird alles gut. Die Kollegen in London kümmern sich um Ihre Familie.« Die Fluggesellschaft versicherte ihm, die Maschine werde am nächsten Morgen ganz sicher ankommen. Papa und sein Freund verbrachten die Nacht in der Ankunftshalle. Gegen neun Uhr abends fiel die Tür des Hotelzimmers in London hinter meiner Mutter ins Schloss. Die beiden Kinder waren völlig übermüdet und verstanden nicht, was geschehen war. Sie hatten sich gefreut, ihren Vater wiederzusehen, und nun standen sie in einem spartanischen Zimmer irgendwo weit weg. Nachdem meine Mutter sie ins Bett gebracht hatte, legte sie sich ebenfalls hin und sprach ein Bittgebet (du’â) nach dem anderen. Beim Frühstück traf sie den Mitreisenden wieder, der ihnen ein Omelett und etwas zu trinken bestellte. Dazu gab es »sweet pickled cucumber«. Für meine Mutter etwas völlig Ungewöhnliches: eingelegte Gewürzgurken. Sie fand sie zunächst scheußlich. Gurken müssen doch in Knoblauch und Salz eingelegt werden, fand sie, so wie man es eben in Syrien macht. Der süßliche Geschmack irritierte sie. Doch nach ein paar Wochen sollte sie diese Dinger lieben. Von London aus lief am nächsten Morgen alles glatt. Die kleine Familie stieg wieder ins Flugzeug und landete planmäßig in München. Mama freute sich, alle Koffer bei der Gepäckausgabe vorzufinden. Schließlich hatte sie sich in Syrien so viel Mühe damit gegeben, Lebensmittel so zu konservieren, dass sie sie mitbringen konnte. Getrocknete Minze und Thymian, getrocknete ausgehöhlte Auberginen, Pinienkerne, selbst gemachter Käse, eigenes Olivenöl – das brauchte sie, um sich wenigstens für einige Wochen etwas Heimat in Deutschland bewahren zu können. Den freundlichen Mitreisenden sah sie hier zum letzten Mal, er half ihr noch mit den Koffern, und dann war die Familie endlich wieder vereint. Auf dem Weg zum Auto löcherten die Kinder ihren Vater mit allerlei Fragen, nachdem die erste Verlegenheit gewichen war, schließlich hatten sie ihn fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, sondern nur am Telefon gesprochen, und das ist für Kinder in diesem Alter eine Ewigkeit. Mama war sehr erschöpft, als sie ins Auto stieg. Die Nacht im Hotel war kurz, an Schlaf war vor lauter Aufregung kaum zu denken gewesen. Papas Freund setzte sich ans Steuer. Ächzend zog der alte Ford Taunus an. Sie verließen den Flughafen und fuhren über die A3 gen Norden, dem neuen Leben entgegen. Papa und sein Freund sprachen nicht viel, schauten meist schweigend geradeaus auf die Straße. Meine Mutter betrachtete derweil die fremde Landschaft, die draußen vor der Fensterscheibe vorbeiflog. Sie blickte auf die weißen Anhöhen, die verschneiten Nadelwälder und kleinen Dörfer mit ihren pittoresken Kirchtürmen – Bayern halt. Sogar einen echten Hirsch habe sie am Waldrand stehen sehen, betont sie, wenn sie heute davon erzählt – vielleicht war es aber auch nur das Gemälde eines röhrenden Zwölfenders, den sie später mal bei irgendjemandem über dem Sofa hängen sah und das sich mit ihren Erinnerungen vermischt hatte. Eisiger Wind schnitt ihr ins Gesicht, wenn Papa das Fenster einen Spalt öffnete, um den blauen Qualm seiner Zigarette abziehen zu lassen. Sie fror. Doch es war nicht nur die feuchte Kälte, die ihr unter die Haut ging. Sie atmete schwer, und die Gedanken schossen ihr nur so durch den Kopf. Zu viele neue Eindrücke wechselten sich mit den Bildern der Vergangenheit und den Vorstellungen von der Zukunft ab. Sie nahm die Jacken und legte sie über ihre Kinder, die neben ihr auf der Rückbank saßen. Als sie eingeschlafen waren, fielen auch ihr die Augen zu. Die Autofahrt von München in die nordwestdeutsche Provinz dauerte mehr als acht Stunden. Längst war es dunkel, als sie die Stadtgrenze passierten. Die Kinder waren inzwischen wieder wach und schauten mit großen müden Augen in die nächtliche Stille. Der Schnee war schon seit einer ganzen Weile aus der Landschaft verschwunden. Immerzu durchbrach die Weihnachtsbeleuchtung die Dunkelheit, hier und da konnten sie die Christbäume hinter den Fenstern sehen. Weihnachten war gerade erst vorbei. Das Auto rollte weiter in Richtung ihres neuen Zuhauses in der Klosterstraße. Wie schon meinem Vater ein Jahr zuvor, fiel ihr vor allem eines auf: die Ruhe in Ahlen. Da waren kaum Menschen auf der Straße. Keine Stimmen zu hören. Kein Lachen. Die Bürgersteige hochgeklappt. Ein Mann steht einsam vor einem Kiosk. Es nieselt. Er stellt seinen Mantelkragen hoch. Als das Auto mit Ahlener Neubürgern aus Syrien an ihm vorbeirollt, zündet er sich eine Kippe an, atmet tief ein, und während der Rauch noch entweicht, schaut er über den nassen Asphalt in die trübe Nacht. Beiläufig greift der Mann zu einer Flasche neben ihm und nippt an einem Bier. In der Ferne biegt ein einsamer Opel Ascona um die Ecke. Außer ihm erspäht die einsame syrische Familie niemanden.
Erscheinungsdatum | 27.01.2020 |
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Reihe/Serie | Piper Taschenbuch |
Sprache | deutsch |
Maße | 120 x 187 mm |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Islam | |
Schlagworte | Erinnerung • Familiengeschichte • Flüchtling • Heimat • Identität • Integration • Islam • Islamismus • Kulturclash • Muslimisch • Vergangenheit |
ISBN-10 | 3-492-24262-6 / 3492242626 |
ISBN-13 | 978-3-492-24262-2 / 9783492242622 |
Zustand | Neuware |
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