Philosophische Schriften. Bände 1-6 (eBook)
1930 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-3595-4 (ISBN)
Aristoteles wird 384 v. Chr. in Stagira (Thrakien) geboren und tritt mit 17 Jahren in die Akademie Platons in Athen ein. In den 20 Jahren, die er an der Seite Platons bleibt, entwickelt er immer stärker eigenständige Positionen, die von denen seines Lehrmeisters abweichen. Es folgt eine Zeit der Trennung von der Akademie, in der Aristoteles eine Familie gründet und für 8 Jahre der Erzieher des jungen Alexander des Großen wird. Nach dessen Thronbesteigung kehrt Aristoteles nach Athen zurück und gründet seine eigene Schule, das Lykeion. Dort hält er Vorlesungen und verfaßt die zahlreich überlieferten Manuskripte. Nach Alexanders Tod, erheben sich die Athener gegen die Makedonische Herrschaft, und Aristoteles flieht vor einer Anklage wegen Hochverrats nach Chalkis. Dort stirbt er ein Jahr später im Alter von 62 Jahren. Die Schriften des neben Sokrates und Platon berühmtesten antiken Philosophen zeigen die Entwicklung eines Konzepts von Einzelwissenschaften als eigenständige Disziplinen. Die Frage nach der Grundlage allen Seins ist in der 'Ersten Philosophie', d.h. der Metaphysik jedoch allen anderen Wissenschaften vorgeordnet. Die Rezeption und Wirkung seiner Schriften reicht von der islamischen Welt der Spätantike bis zur einer Wiederbelebung seit dem europäischen Mittelalter. Aristoteles' Lehre, daß die Form eines Gegenstands das organisierende Prinzip seiner Materie sei, kann als Vorläufer einer Theorie des genetischen Codes gelesen werden.
ARISTOTELES
Physik
BUCH I
1. Da Wissen und Verstehen bei allen Sachgebieten, in denen [184a] es Grund-Sätze oder Ursachen oder Grundbausteine gibt, daraus entsteht, daß man eben diese kennen lernt – denn wir sind überzeugt, dann einen jeden Gegenstand zu erkennen, wenn wir seine ersten Ursachen zur Kenntnis gebracht haben und seine ersten Anfänge und (seinen Bestand) bis hin zu den Grundbausteinen –, deshalb ist klar: Auch bei der Wissenschaft von der Natur muß der Versuch gemacht werden, zunächst über die Grundsätze Bestimmungen zu treffen. Es ergibt sich damit der Weg von dem uns Bekannteren und Klareren zu dem in Wirklichkeit Klareren und Bekannteren. – Denn was uns bekannter ist und was an sich, ist nicht dasselbe. – Deshalb muß also auf diese Weise vorgegangen werden: Von dem der Natur nach Undeutlicheren uns aber Klareren hin zu dem, was der Natur nach klarer und bekannter ist. Uns ist aber zu allererst klar und durchsichtig das mehr Vermengte. Später erst werden aus diesem bekannt die Grundbausteine und die Grund-Sätze, wenn man es auseinandernimmt. Deswegen muß der Weg von den Ganzheiten zu den Einzelheiten führen. Denn nach der Sinneswahrnehmung ist immer das Ganze bekannter, Ganzheit bedeutet aber doch so ein Ganzes; denn die allgemeine Ganzheit umfaßt viele Einzelmomente als ihre Teile. – Ganz ähnlich geht es ja doch auch den Wörtern [184b] im Vergleich zur Begriffserklärung: Sie sagen unbestimmt ein Ganzes aus, z. B. »Kreis«, die Bestimmung des Kreises nimmt ihn dann in seine einzelnen Bestandsstücke auseinander. So machen es ja auch die Kinder: Anfangs reden sie jeden Mann mit »Vater« an und mit »Mutter« jede Frau, später unterscheiden sie hier ein jedes genauer.
2. Notwendigerweise muß nun der Anfangsgrund entweder einer sein, oder es gibt mehrere; und wenn es einer ist, so nimmt er entweder Veränderung nicht an sich, wie Parmenides und Melissos sagen, oder er nimmt sie an sich, so lehren die Naturphilosophen, wobei die einen sagen, (dieser erste Grund) sei Luft, die anderen, es sei Wasser. Wenn es nun mehrere sind, muß ihre Anzahl entweder begrenzt oder unbegrenzt sein; und wenn sie begrenzt sind, aber mehr als einer, dann müssen es entweder zwei oder drei oder vier oder irgendeine bestimmte Anzahl sein; und wenn sie unbegrenzt sind, so sind sie entweder, wie Demokrit lehrt, der Gattung nach eins, nur in der Gestalt ❬unterschieden❭, oder sie sind auch der (begrifflichen) Art nach unterschieden, ja entgegengesetzt. Ganz ähnlich verfahren auch die, welche untersuchen, wieviel Seiendes es gibt: Sie suchen nämlich die ersten Bestandsstücke der vorhandenen Dinge auf und fragen dann, ob das eines ist oder viele, und wenn viele, ob eine begrenzte oder unbegrenzte Anzahl. Also auch sie tun nichts anderes: bei den anfänglichen Bausteinen fragen sie nach Ein- oder Mehrzahl.
Die Untersuchung, ob das Seiende eines und unwandelbar [185a] ist, ist keine Untersuchung im Bereich der Naturforschung. Wie ja auch der Geometer demjenigen keine Erklärungen mehr geben kann, der seine Grund-Sätze aufhebt, sondern dies entweder Sache einer anderen Wissenschaft ist oder einer Allgemeinwissenschaft, nicht anders verhält es sich bei der Frage nach den Anfängen: Es gibt nämlich gar keinen Anfang mehr, wenn nur eins und in diesem Sinne eines da ist. Denn »Anfang« ist immer Anfang »von etwas«, einem oder mehrerem. Die Untersuchung also, ob in diesem Sinne eines ist, gleicht dem Versuch, gegen eine x-beliebige These zu argumentieren von der Sorte, was nur um der bloßen Behauptung willen gesagt wird – z. B. die Heraklitische These, oder wenn jemand behaupten wollte, das Seiende sei ein Mensch –, oder dem Versuch, eine eristische Argumentation aufzuklären; – was denn auch beide diese Erklärungen an sich haben, sowohl die des Melissos wie die des Parmenides: Sie machen erstens falsche Annahmen und sind zweitens in sich nicht schlüssig. Dabei ist die des Melissos besonders billig und enthält gar keine wirkliche Schwierigkeit, sondern wenn nur eine einzige Ungereimtheit zugegeben wird, so folgt daraus der Rest. Das ist nun wirklich nichts Schwieriges.
Für uns dagegen soll die Grundannahme sein: Die natürlichen Gegenstände unterliegen entweder alle oder zum Teil dem Wechsel. Das ist klar, wenn man von der Einzelerscheinung ausgeht. Außerdem ist es auch nicht sinnvoll, alles aufklären zu wollen, sondern nur bei solchen Fehlern, die jemand von Grundsätzen aus herleitend macht; wo das nicht so ist, dort ist es nicht sinnvoll; z. B. die Kreisquadratur mittels der Schnitte – diesen Versuch zu diskutieren, ist Aufgabe eines Geometers, für den Versuch Antiphons aber gilt das nicht.
Indessen, da sie zwar nicht über Natur handeln, es ihnen aber doch geschieht, für die Naturwissenschaft kennzeichnende Schwierigkeiten auszusprechen, so mag es wohl erlaubt sein, sich kurz in eine Auseinandersetzung über sie einzulassen. Denn diese Untersuchung hat es zu tun mit Philosophie.
Die angemessenste Anfangsfrage von allen, da der Ausdruck »seiend« nun einmal in vielen Bedeutungen gebraucht wird, ist: In welchem Sinn verwenden ihn diejenigen, die die Gesamtheit des Seienden für eins erklären? Meinen sie mit dieser Gesamtheit ein Ding oder So-und-so-vieles oder So-und-so-beschaffenes? Und noch einmal: Meinen sie mit dieser Gesamtheit ein einziges Ding, so wie man von einem Menschen, einem Pferd oder einer Seele sprechen kann, oder soll dies eine bestimmte Eigenschaft sein, wie »weiß«, »warm« oder anderes derart? Das alles unterscheidet sich doch sehr, ja man kann gar nicht sagen, wie sehr. Wenn sie sowohl Ding als auch irgendwie-beschaffen und irgendwie-viel ist, und dies entweder unabhängig von einander oder nicht, so wäre das Seiende eine Vielheit. Wenn aber diese Gesamtheit ein »irgendwie-beschaffen« oder »irgendwie-viel« ist, einerlei ob es nun ein Ding wäre oder nicht, dann ist das seltsam – wenn man denn das Unmögliche »seltsam« nennen darf. Denn keine der übrigen Bestimmungen, außer dem Ding, kann für sich vorkommen: alle anderen werden doch nur von dem Ding als ihrer Grundlage ausgesagt.
Melissos behauptet, das Seiende sei unbegrenzt; dann wäre das Seiende etwas So-und-so-vieles, denn (der Begriff) »unbegrenzt« findet sich innerhalb des (Bereichs) »irgendwie-viel«. Daß aber ein Ding oder etwas So-und-so-beschaffenes [185b] oder ein Vorgang unbegrenzt wäre, ist nicht möglich, außer nur in dem beiläufigen Nebensinn, wenn sie zugleich auch irgendetwas So-und-so-vieles wären. Die Begriffserklärung von »unbegrenzt« benutzt jedenfalls den Begriff von »so-und-so-viel«, nicht jedoch den von »Ding« und »so-und-so-beschaffen«. Wenn also dieses Seiende sowohl ein Ding als auch ein So-und-soviel wäre, so wäre es nicht mehr eines, sondern es wären schon zwei. Wäre es aber nur Ding, dann kann es nicht unbegrenzt sein, und es kann dann auch keine Größe besitzen, denn dann wäre es schon wieder ein So-und-so-viel.
Weiter, da auch der Begriff »eins« in mehrfacher Bedeutung ausgesagt wird, wie »seiend« auch, so ist zu prüfen, in welcher Bedeutung denn der Ausdruck »eines (ist) das Ganze« aufzufassen ist. »Eins« läßt sich nun sagen entweder von Zusammenhängendem oder von dem Nicht-Auseinandernehmbaren oder von (Gegenständen), deren Begriffserklärung eine und dieselbe ist, z. B. bei »Rebensaft« und »Wein«. – Sollte es im Sinne von Zusammenhang gemeint sein, so wird das Eine zu einer Vielheit; denn das Zusammenhängende ist ins Unendliche teilbar. – Es gibt auch noch eine Schwierigkeit bezüglich des Verhältnisses von Teil und Ganzem, – vielleicht gehört sie nicht zu dieser Untersuchung, aber sie besteht an und für sich: Sind Teil und Ganzes eins oder mehreres? Und wie können sie diese Einzahl oder Mehrzahl sein? Und wenn sie eine Mehrzahl sind, wie können sie diese Mehrzahl sein? Und (ebenso gilt das) von nicht zusammenhängenden Teilen. Und wenn ein jeder einzelne Teil als unabtrennbar dem Ganzen zugehört, dann müßte dies ja auch für die Teile untereinander gelten.
(Sollte es) andrerseits (gemeint sein) im Sinne von Nichtaus-einandernehmbarkeit, so wird das Seiende nichts als so-und-soviel oder so-und-so-beschaffen Bestimmbares, und somit ist es auch nicht unbegrenzt, wie Melissos doch sagt, und andrerseits auch nicht begrenzt, wie Parmenides (will). Denn es ist die Grenze, die nicht weiter zu teilen ist, nicht das Begrenzte.
Andrerseits, wäre alles Seiende dem Begriffe nach eines, wie z. B. »Kleid« und »Gewand«, so geschieht es ihnen, den Satz des Heraklit zu sagen: dann wird »gutsein« und »schlechtsein« das Gleiche, und »gutsein« mit »nicht-gutsein«, – so daß dann dasselbe würden »gut« und »nicht-gut«, »Mensch« und »Pferd«, und die Untersuchung dann nicht mehr um das Einssein des Seienden ginge, sondern um das Nichtssein –, und ebenso würden »so-beschaffen-sein« und »so-viel-sein« dasselbe. Die Nachfahren dieser Alten waren voller Sorge, daß es ihnen nicht geschehe, daß ein und derselbe Gegenstand zugleich eines und vieles würde. Deshalb schlossen die einen den Gebrauch des Wortes »ist« aus, wie z. B. Lykophron, die anderen formten die Ausdrucksweise um und sagten dann nicht mehr »der Mensch ist weiß«, sondern »er weißt«, und nicht mehr »er ist unterwegs«, sondern »er wegt«, – und das alles, damit es ihnen nicht geschehen...
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2019 |
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Reihe/Serie | Philosophische Bibliothek | Philosophische Bibliothek |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie Altertum / Antike | |
Schlagworte | Antike Philosophie • Ethik • Logik • Metaphysik • Politische Philosophie |
ISBN-10 | 3-7873-3595-1 / 3787335951 |
ISBN-13 | 978-3-7873-3595-4 / 9783787335954 |
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