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Die Moral der Nationalsozialisten

(Autor)

Buch | Hardcover
556 Seiten
2019
Olzog ein Imprint der Lau Verlag & Handel KG
978-3-95768-204-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Moral der Nationalsozialisten - Lothar Fritze
CHF 53,20 inkl. MwSt
Das Buch ist dem moralischen Denken von Nationalsozialisten gewidmet. Im Zentrum steht das Selbstverständnis von NS-Tätern. Führende Nationalsozialisten waren subjektiv fähig, ihr Handeln in Übereinstimmung mit ihren eigenen moralischen Überzeugungen (scheinbar) zu rechtfertigen. Wie aber ist es möglich, Böses mit gutem Gewissen zu tun?Zur Beantwortung dieser Frage werden Mechanismen der Selbstrechtfertigung analysiert. Täter, die mit ihrem verbrecherischen Tun innerlich übereinstimmten, haben sich auf rational inakzeptable und moralisch illegitime Rechtfertigungen gestützt. Im Ergebnis zeigt sich, dass die nationalsozialistischen Selbstrechtfertigungen nur zum Teil auf eine »andere Moral« der Nationalsozialisten zurückzuführen sind. Als wichtiger stellt sich der Umstand heraus, dass die ideologisch überzeugten Nationalsozialisten von anderen außermoralischen (nicht-moralischen) Annahmen ausgingen und andere außermoralische Überzeugungen hatten. Diese Erkenntnis wirft ein Licht auf die Art ihres moralischen Versagens: Insoweit Nationalsozialisten als »Täter mit gutem Gewissen« handelten, haben sie vor allem kognitive Pflichten verletzt.

Prof. Dr. phil. habil. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden und außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz.

Vorwort Dieses Buch ist dem moralischen Denken von Nationalsozialisten gewidmet. Es versucht, die Struktur dieses Denkens aufzuklären, um letztlich das Handeln von überzeugten Nationalsozialisten zu verstehen. Deren Denken und Handeln zu verstehen ist eine Voraussetzung zur Beantwortung der Frage, wie die nationalsozialistischen Verbrechen als ein Werk von Menschen möglich waren. Ich werde also nicht fragen, warum diese Verbrechen stattfanden oder wer die Befehle dazu gab, sondern wie wir uns erklären können, dass es Menschen subjektiv möglich war, anderen Menschen diese Dinge anzutun. Meine Überlegungen beruhen auf der folgenden These: Viele der nationalsozialistischen Verbrechen wären nicht begangen worden, wenn es auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung und Ideologie nicht möglich gewesen wäre, diese Handlungen zu rechtfertigen. Nur weil diese Möglichkeit bestand, ­waren die führenden Nationalsozialisten, eine Elite, die mehrere hundert, vielleicht wenige tausend Personen umfasste, subjektiv fähig, diese Handlungen – in Übereinstimmung mit ihren eigenen moralischen Überzeugungen – auszuführen. Dies muss nicht für jede Einzelhandlung, für jedes einzelne Verbrechen und jeden einzelnen Nationalsozialisten gelten. Über die Zweckmäßigkeit und moralische ­Erlaubtheit jeder einzelnen politischen Maßnahme konnte man unterschiedlicher Meinung sein, auch wenn Meinungsunterschiede vielleicht nur selten ausgetragen wurden. Allgemein gilt ­jedoch für den Nationalsozialismus ebenso, was wahrscheinlich für alle großen Gesellschaftsprojekte gilt: Dieses »soziale Experiment« wäre nicht in Szene ­gesetzt und um seine Realisierung wäre nicht zwölf Jahre hartnäckig ­gerungen worden, wenn nicht eine ausreichende Menge der Protagonisten von der moralischen Recht­mäßigkeit ihres Projekts und ihrer auf Realisierung drängenden Handlungsweisen in einem hinreichenden Grade überzeugt gewesen wäre. Der National­sozialismus galt manchen als ein epochales Sozialprojekt von weltgeschichtlicher, nämlich menschheitsrettender Dimension. Sich in den Dienst der nationalsozialistischen Idee zu stellen, sich für sie aufzuopfern betrachteten viele als eine persönliche Herausforderung, der man vor allem im Namen des deutschen Volkes und der »nordischen Rasse« zu genügen gedachte. Sollte sich die Annahme bestätigen, dass es unter den Nationalsozialisten, insbesondere unter den führenden Nationalsozialisten, Täter gab, die von der moralischen Rechtmäßigkeit ihres Handelns überzeugt waren, stellt sich die Frage, ob diese »Täter mit gutem Gewissen« nicht eine »andere Moral« hatten als diejenigen, die dieselben Handlungen für Verbrechen hielten oder sie für solche halten. Ich erhebe nicht den Anspruch, »die« Moral der Nationalsozialisten umfassend darzustellen. Dies ist nicht mein Ziel. Vielmehr möchte ich zeigen, wie das moralische Denken von Nationalsozialisten – jenseits einer allgemeinen Pauschalverurteilung, der kein humanistisch eingestellter Mensch widersprechen wird – verstanden werden kann. Ich möchte am Beispiel von Nationalsozialisten begreiflich machen, wie es Menschen möglich ist, Dinge, die andere Menschen für Verbrechen halten, in dem Bewusstsein zu tun, dass es moralisch erlaubt ist, so zu handeln. Das Buch versteht sich als eine Antwort auf diese Frage. In besonderer Weise wird dabei die Bedeutung herausgearbeitet, die außermoralischen Annahmen und Überzeugungen innerhalb des moralischen Denkens zukommt. Der Versuch, eine einzelne Frage Schritt für Schritt zu beantworten, erzwang eine Darstellungsweise, die auf zentrale Anschauungen der Nationalsozialisten mehrfach, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven, Bezug nehmen musste. Zum einen war zu zeigen, wie die weltanschaulichen und ideologischen Überzeugungen der Nationalsozialisten in Argumentationsfiguren und Rechtfertigungsformeln zur Geltung kamen (VII, VIII, IX); zum anderen sollten diese Anschauungen und Vorstellungen, diese Überzeugungsinhalte, in ihren Grundzügen zusammenfassend dargestellt werden (X). Dabei wiederum waren zunächst die deskriptiven Inhalte des moralisch relevanten Denkens von Nationalsozialisten zu erfassen (X.3), um danach zeigen zu können, auf welche Weise diese Inhalte normative ­Relevanz ­erlangten (X.4). Aus diesem Grunde ließen sich gewisse, mitunter aber auch nur scheinbare, Redundanzen nicht vermeiden. Der Text enthält eine durchgängige Argumentation, sodass auch zentrale ­Begriffe – vor allem der Begriff »Täter mit gutem Gewissen« – nur schrittweise entfaltet werden konnten. Um den Hauptgedanken der Untersuchung zu erfassen, ist es nicht erforderlich, sämtlichen argumentativen Verästelungen zu folgen und sämtliche Beispiele zur Kenntnis zu nehmen, die ihn illustrieren.* Die Fragestellung, wie es möglich ist, Böses mit gutem Gewissen zu tun, stellt sich freilich nicht nur in Bezug auf den Nationalsozialismus, sondern ist von allgemeiner Natur. In den verschiedensten Zusammenhängen des Lebens, in verschiedenen Religionen und in unterschiedlichen politischen Herrschaftssystemen finden wir Menschen, die überzeugt sind, zu Handlungen moralisch berechtigt zu sein, die andere für moralisch verboten, ja für verwerflich halten. Priester, die Kultveranstaltungen mit Menschenopfern zelebrieren, christliche Würdenträger, die in göttlichem Auftrag und in Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen Ketzer und Hexen foltern und verbrennen lassen, absolutistische Herrscher, die in Eroberungskriegen Soldaten verheizen, kommunistische Diktatoren, die vermeintliche Klassenfeinde verfolgen, einkerkern und töten, islamistische Selbstmordattentäter, die gezielt Ungläubige oder Abtrünnige vernichten, demokratische Politiker, die im Zuge von Flächenbombardements Zivilisten bewusst und gewollt töten – sie alle können überzeugt sein, moralisch legitim zu handeln. Solche Überzeugungen ­beruhen auf einem gedanklichen Prozess der Selbstlegitimierung und sind zugleich die Voraussetzung für eine Selbstermächtigung zu einem eingreifenden und opferträchtigen Handeln. Unter dem Gesichtspunkt der Selbstlegitimierung und Selbstermächtigung ­können sehr unterschiedliche Verbrechen erkenntnisfördernd miteinander verglichen werden. Weder ein individuelles Verankertsein in tradierter Common-Sense-­Moral noch die häufig in Anspruch genommene »bürgerliche Anständigkeit« ­gepaart mit Empathie bieten eine Gewähr dafür, illegitime Selbstlegitimierungen als moralisches Unrecht zu erkennen. Der Kern von Selbstlegitimierungen ­besteht darin, eine überzeugende argumentative Rechtfertigung zu finden, wieso unter den gegebenen, besonderen Bedingungen moralisch erlaubt sein soll, was unter Normalbedingungen als verboten gilt. Insofern ist dieses Buch nicht nur dem ­moralischen Denken von Nationalsozialisten gewidmet, sondern es versucht, einen Beitrag zu leisten zur Aufklärung der Struktur des moralischen Denkens generell. Im Mittelpunkt steht daher die Analyse rational inakzeptabler und moralisch illegi­timer Rechtfertigungen. Es liegt in der Natur dieser Aufgabenstellung, dass das Buch weder eine ­Geschichte des Nationalsozialismus noch eine vollständige Darstellung der nationalsozialistischen Weltanschauung bietet. Der Rückgriff auf geschichtliche Ereignisse sowie auf weltanschauliche Grundüberzeugungen erfolgt zum Zwecke der ­Illustration der konkreten nationalsozialistischen ­Rechtfertigungsargumentationen. Im Zusammenhang mit dem Handeln von Nationalsozialisten von »Moral« zu sprechen galt lange Zeit als ein Sakrileg. Noch heute ist es für viele gänzlich inak­zeptabel, Nationalsozialisten moralische Überzeugungen zuzubilligen. Diese Position ist zwar angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen nachvollziehbar, ­beruht jedoch entweder auf einem – eigens diesem Ausschließungszweck dienenden – engen Moralbegriff oder auf unhaltbaren Vorurteilen (III.2). Sie ist das Produkt der ausschließlich auf Delegitimierung und nicht auf Verstehen abzie­lenden aufarbeitungspolitischen Perspektive der »Entnazifizierung«. In dieser ­Perspektive verkörpern »Nazis« und der Nationalsozialismus schlechthin das »Böse« und »­Unmoralische«, sodass jede Betrachtungsweise, die sich der Dichotomie »Gut oder Böse« verweigert oder sich auch nur um ein Verstehen des Denkens von ­Nationalsozialisten bemüht, als eine gefährliche Verharmlosung erscheint. Eine Desavouierung von Verstehens- und Erkenntnisbemühungen ist jedoch ­erkenntnisfeindlich und verfehlt die Aufgabe der Wissenschaft. ­Wissenschaftliches Erkennen hat sich methodisch um Objektivität zu bemühen. Dies gilt auch für die Untersuchung von Akteuren, deren Handlungen als unmoralisch gelten. Die Wissenschaft selbst ist amoralisch; wissenschaftliche Aussagen sind entweder wahr oder falsch, rational vertretbar oder falsifiziert; sie sind aber nicht unter moralischem Gesichtspunkt zu bewerten. Nationalsozialisten haben als Gegenstände der wissenschaftlichen Untersuchung keine Sonderbehandlung verdient. Die anstehenden Überlegungen werden diesem Credo folgen. Der Text ist im Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden entstanden. Inhaltlich vollständig eingegangen ist mein Aufsatz Hatten die Nationalsozialisten eine andere Moral? Des Weiteren habe ich Gedanken und einzelne Textbausteine aus dem Aufsatz Moralische Rechtfertigung und außermoralische Überzeugungen übernommen. Eine thesenförmige Rekapitulation des ­Gedankengangs des vorliegenden Buches findet sich in meinem Beitrag Nationalsozialisten als Täter mit gutem Gewissen. Über ihr moralisches Versagen und ihre Schuld. Frühere Fassungen des Manuskripts haben Privatdozent Dr. Wolfgang Bialas, Professor Dr. Dr. Norbert Hoerster, Dr. Bert Pampel und Dr. Manfred Zeidler ­gelesen. Ihnen danke ich für kritische Diskussionen und hilfreiche Anmerkungen. Dresden, im Oktober 2018 Lothar Fritze

I. Hatten die Nationalsozialisten eine andere Moral? Hatten die Nationalsozialisten überhaupt eine Moral? Waren sie überhaupt moralisch ansprechbar? Hatte das Leiden anderer für sie irgendeine Bedeutung? Oder spielten die Bedürfnisse und Interessen der Anderen für sie keinerlei Rolle? Wer waren für Nationalsozialisten »die Anderen«? Existierten für Nationalsozialisten moralische Pflichten? Befolgten sie moralische Normen? Welche Normen akzeptierten sie und was bedeutete es für sie, eine Norm zu akzeptieren? Glaubten sie, dass es erlaubt sein kann, eine anerkannte moralische Norm zu verletzen? Und welche Voraussetzungen mussten ihrer Meinung nach gegeben sein, damit eine solche Verletzung als erlaubt gelten kann? Und wenn die Nationalsozialisten überhaupt eine Moral hatten, hatten sie dann womöglich eine spezifisch nationalsozialistische Moral? 1. Der Maßstab: Menschenrechtsmoral Diese Fragen drängen sich angesichts der Quantität und Qualität der national­sozialistischen Verbrechen unweigerlich auf. Sie stellen sich für alle Menschen, die universell geltende Menschenrechte anerkennen. Ein solches Menschenrechts­verständnis ist insbesondere in den Gesellschaften der westlichen demokratischen Verfassungsstaaten verankert. Die Bevölkerungsmehrheiten und die höchsten staatlichen Organe dieser – und nicht nur dieser – Gesellschaften billigen jedem Menschen ein Arsenal von Rechten allein aufgrund seines Menschseins zu. Die in diesen Gesellschaften herrschenden moralischen Vorstellungen sind maßgeblich durch die Anerkennung von Menschenrechten geprägt. Selbst in Gesellschaften, in denen Menschenrechte wenig gelten und vielleicht sogar von Staatsorganen massiv verletzt werden, bekunden die staatlichen Vertreter die Aner­kennung dieser Rechte. Die über Jahrhunderte gewachsene und ausformulierte Idee, der zufolge jeder Mensch Rechte hat, die zum einen jeden anderen Einzelnen in seiner Willkürfreiheit einschränken und zum anderen durch den Staat zu achten und zu schützen sind, hat sich als in einer Weise überzeugend herausgestellt, dass ihr im Grunde nicht mehr widersprochen, sondern nur noch um ihr genaues Verständnis und ihre konkrete Ausdeutung gerungen wird. Welche Rechte als Menschenrechte zu gelten haben, kann dabei im Einzelnen umstritten sein. Nicht alle Rechte, die heute – etwa auch in Menschenrechtskonventionen internationaler Organisationen – als Menschenrechte anerkannt sind, haben die gleiche moralische Relevanz. Moralische Relevanz korreliert mit existenzieller Relevanz. Der Mensch ist ein verletzbares und sterbliches Wesen, das in einer Welt knapper Ressourcen seine Existenz reproduzieren muss. Als »unmoralisch« oder »verbrecherisch« in einem sozialmoralischen Sinne betrachten wir Handlungen, die wichtige Existenzbedingungen anderer Menschen zerstören, die deren Freiheit beschneiden oder deren Handlungsfähigkeit einschränken, die ­andere Menschen körperlich verletzen, psychisch drangsalieren oder ihnen das Leben nehmen, ohne dass für diese Handlungen ein gesellschaftlich anerkannter Grund besteht. Da wir nach der Moral der Nationalsozialisten angesichts ihrer Verbrechen fragen, werde ich im Folgenden ausschließlich die fundamentalen Menschenrechte im Auge haben. Als »fundamental« bezeichne ich Rechte, deren Beachtung die Befriedigung derjenigen Bedürfnisse gewährleistet, die man befriedigen muss, um überhaupt Mensch und dieser Mensch sein und bleiben zu können. Ein solches Recht wäre zum Beispiel das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, nicht aber das Recht auf bezahlten Urlaub. Menschen, die solche Menschenrechte anerkennen, betrachte ich als die Vergleichsgruppe, wenn ich frage, ob Nationalsozialisten eine andere Moral hatten. Dabei sollte man beachten, dass jenes Ideensystem, das wir hier »Menschenrechtsmoral« nennen, selbst interpretations- und präzisionsbedürftig ist. Selbst wenn man nur die fundamentalen Menschenrechte in den Blick nimmt, bleibt ­sowohl der genaue Charakter der Rechte als auch die Reichweite ihrer Geltung ­unklar: Welche Art von Ansprüchen hat man, wenn man ein Menschenrecht hat? Und welche Verpflichtungen ergeben sich für den jeweiligen Staat aus der universellen Geltung der Menschenrechte? 2. Eine Frage der Moral? Zu sagen, die Nationalsozialisten hatten eine andere, eine »falsche« Moral, ist ­unproblematisch und umgangssprachlich nicht ungewöhnlich. Natürlich: Wenn jemand glaubt, Juden oder Kommunisten umbringen zu dürfen, dann hat er eine »andere Moral« als diejenigen, die dies nicht glauben. Wer fordert, auf Mitleid mit Schwachen zu verzichten oder »lebensunwertes Leben« auszumerzen, hat eine »­andere Moral« als wir sie haben, die eine Menschenrechtsmoral anerkennen. So zu reden ist uns vertraut, vor allem aber schafft es die nötige Distanz zu Anschauungen, die für uns psychisch nur schwer erträglich sind. Gleichwohl möchte ich im Folgenden den scheinbar selbstverständlichen ­Befund, dass die Nationalsozialisten eine andere Moral hatten, problematisieren. Dies geschieht in der Absicht, das Denken maßgebender nationalsozialistischer Täter zu vergegenwärtigen und darüber hinaus einen Beitrag zu leisten zur Aufklärung der »inneren Logik« des moralischen Denkens generell. Lediglich festzustellen, dass Nationalsozialisten – oder auch andere Täter, die ähnlicher Verbrechen wegen schuldig geworden sind – eine andere Moral hatten, ist dafür nicht ausreichend. Die Feststellung, dass bestimmte Täter eine andere, mit der unseren inkommensurable Moral haben, befördert die Meinung, man dürfe das weitere Nachdenken über diese Sorte von Tätern getrost einstellen. Denn wenn jemand eine andere und dazu, wie wir meinen, »falsche« Moral hat, scheint die Lösung des Problems auf der Hand zu liegen: Um ein Fehlverhalten zukünftig zu verhindern, muss den Leuten die »richtige« Moral beigebracht werden! Ich glaube jedoch, dass diese Reaktion der Komplexität des moralischen Denkens und der von Menschen geübten moralischen Praxis nicht gerecht wird. Diese Reaktion ist insofern verfehlt, als sie uns bei der gedanklichen Bewältigung ­moralischer Verbrechen, insbesondere des von den Nationalsozialisten angerichteten Desasters, auf ein falsches Gleis führt. Wir sollten nicht glauben, dass verbrecherische Handlungen nur in Unkenntnis oder durch ein Missverstehen des übertretenen Verbots vollbracht werden können, sodass es lediglich darauf ankäme, über die Geltung und die korrekte Auslegung bestimmter moralischer Normen aufzuklären. Stattdessen möchte ich die Antwort auf die Frage, ob die Nationalsozialisten eine andere Moral hatten, zurückstellen (XI.1) und zunächst die Praxis des moralischen Denkens, die die geistigen Grundlagen für die nationalsozialistischen Verbrechen schuf, zu begreifen versuchen. Es geht um das Verständnis jener »moralischen Praxis«, das heißt jenes Systems von Denk- und Argumentationsfiguren, das für unser moralisches Denken und Handeln charakteristisch ist – von dem wir Gebrauch machen, wenn wir moralische Bedenken formulieren, Pflichten begründen, Handlungen rechtfertigen oder Verhaltensweisen und Personen bewerten. Es wird zu klären sein, inwiefern es bei der Deutung des Denkens und Handelns der Nationalsozialisten überhaupt um Fragen der Moral geht. Als den maßgeblichen Schöpfer der nationalsozialistischen Weltanschauung und Ideologie betrachte ich Adolf Hitler (AtD II.1/2). Vor allem seine Anschauungen sowie Anschauungen anderer Nationalsozialisten, die mit den seinen kompatibel erscheinen, werden daher zur Rekonstruktion der nationalsozialistischen ­Moral (NS-Moral) dienen. Dies heißt auch, dass nicht alles, was nationalsozialistische ­Autoren zum Thema »Moral« gesagt haben, Bestandteil der NS-Moral sein muss.

I. Hatten die Nationalsozialisten eine andere Moral?Hatten die Nationalsozialisten überhaupt eine Moral? Waren sie überhaupt moralisch ansprechbar? Hatte das Leiden anderer für sie irgendeine Bedeutung? Oder spielten die Bedürfnisse und Interessen der Anderen für sie keinerlei Rolle? Wer waren für Nationalsozialisten »die Anderen«? Existierten für Nationalsozialisten moralische Pflichten? Befolgten sie moralische Normen? Welche Normen akzeptierten sie und was bedeutete es für sie, eine Norm zu akzeptieren? Glaubten sie, dass es erlaubt sein kann, eine anerkannte moralische Norm zu verletzen? Und welche Voraussetzungen mussten ihrer Meinung nach gegeben sein, damit eine solche Verletzung als erlaubt gelten kann? Und wenn die Nationalsozialisten überhaupt eine Moral hatten, hatten sie dann womöglich eine spezifisch nationalsozialistische Moral?1. Der Maßstab: MenschenrechtsmoralDiese Fragen drängen sich angesichts der Quantität und Qualität der nationalsozialistischen Verbrechen unweigerlich auf. Sie stellen sich für alle Menschen, die universell geltende Menschenrechte anerkennen. Ein solches Menschenrechtsverständnis ist insbesondere in den Gesellschaften der westlichen demokratischen Verfassungsstaaten verankert. Die Bevölkerungsmehrheiten und die höchsten staatlichen Organe dieser - und nicht nur dieser - Gesellschaften billigen jedem Menschen ein Arsenal von Rechten allein aufgrund seines Menschseins zu.Die in diesen Gesellschaften herrschenden moralischen Vorstellungen sind maßgeblich durch die Anerkennung von Menschenrechten geprägt. Selbst in Gesellschaften, in denen Menschenrechte wenig gelten und vielleicht sogar von Staatsorganen massiv verletzt werden, bekunden die staatlichen Vertreter die Anerkennung dieser Rechte. Die über Jahrhunderte gewachsene und ausformulierte Idee, der zufolge jeder Mensch Rechte hat, die zum einen jeden anderen Einzelnen in seiner Willkürfreiheit einschränken und zum anderen durch den Staat zu achten und zu schützen sind, hat sich als in einer Weise überzeugend herausgestellt, dass ihr im Grunde nicht mehr widersprochen, sondern nur noch um ihr genaues Verständnis und ihre konkrete Ausdeutung gerungen wird.Welche Rechte als Menschenrechte zu gelten haben, kann dabei im Einzelnen umstritten sein. Nicht alle Rechte, die heute - etwa auch in Menschenrechtskonventionen internationaler Organisationen - als Menschenrechte anerkannt sind, haben die gleiche moralische Relevanz. Moralische Relevanz korreliert mit existenzieller Relevanz. Der Mensch ist ein verletzbares und sterbliches Wesen, das in einer Welt knapper Ressourcen seine Existenz reproduzieren muss. Als »unmoralisch« oder »verbrecherisch« in einem sozialmoralischen Sinne betrachten wir Handlungen, die wichtige Existenzbedingungen anderer Menschen zerstören, die deren Freiheit beschneiden oder deren Handlungsfähigkeit einschränken, die andere Menschen körperlich verletzen, psychisch drangsalieren oder ihnen das Leben nehmen, ohne dass für diese Handlungen ein gesellschaftlich anerkannter Grund besteht. Da wir nach der Moral der Nationalsozialisten angesichts ihrer Verbrechen fragen, werde ich im Folgenden ausschließlich die fundamentalen Menschenrechte im Auge haben. Als »fundamental« bezeichne ich Rechte, deren Beachtung die Befriedigung derjenigen Bedürfnisse gewährleistet, die man befriedigen muss, um überhaupt Mensch und dieser Mensch sein und bleiben zu können. Ein solches Recht wäre zum Beispiel das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, nicht aber das Recht auf bezahlten Urlaub. Menschen, die solche Menschenrechte anerkennen, betrachte ich als die Vergleichsgruppe, wenn ich frage, ob Nationalsozialisten eine andere Moral hatten.Dabei sollte man beachten, dass jenes Ideensystem, das wir hier »Menschenrechtsmoral« nennen, selbst interpretations- und präzisionsbedürftig ist. Selbst wenn man nur die fundamentalen Menschenrechte in den Blick nimmt, bleibt sowohl der genaue Charakter der Rechte als auch die Reichweite

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Olzog Edition
Verlagsort Reinbek
Sprache deutsch
Maße 170 x 240 mm
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Holocaust • Ideologie • Moral • Moralische Norm • moralisches Denken • moralische Überzeugungen • Nationalsozialismus • Nationalsozialisten • nationalsozialistische Verbechen • nationalsozialistische Weltanschuung • NS-Täter • Selbstlegitimierung
ISBN-10 3-95768-204-5 / 3957682045
ISBN-13 978-3-95768-204-8 / 9783957682048
Zustand Neuware
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