Die Kunst, sich selbst zu verstehen (eBook)
198 Seiten
Elisabeth Sandmann Verlag
978-3-945543-62-7 (ISBN)
Worüber sollte man nachdenken, wenn man sich selbst verstehen möchte? Was heißt es, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Wie kann unser Leben gelingen und was gibt ihm Sinn? Warum sind uns Freundschaft und Liebe, aber auch unsere Arbeit so wichtig? Und wie können wir mit Leid und Tod umgehen? Der Ausgangspunkt ist die Frage, wie man über sich selbst nachdenken sollte und worüber man nachdenken sollte, wenn man sich selbst verstehen möchte. Wesentlich für unser Leben ist aber nicht nur, dass wir über uns nachdenken, sondern auch, dass wir emotional auf unser Leben bezogen sind; sich selbst zu verstehen, bedeutet deswegen auch, unsere Emotionen zu verstehen. »Sich selbst verstehen zu lernen ist eines der spannendsten Projekte, denen wir uns im Leben widmen können. Ganz verstehen werden wir uns sicherlich nie, aber wir können zumindest den Versuch wagen, etwas Licht auf das manchmal schwer zu durchschauende Knäuel unserer Gefühle, Gedanken, Motivationen und Wünsche, aber auch unserer Enttäuschungen und Verletzungen zu werfen. Dabei ist es nicht einfach nur interessant, sich selbst besser kennenzulernen. Es hat eine ganz lebenspraktische Konsequenz. Es hilft uns bei unserem vielleicht wichtigsten Vorhaben, nämlich dabei, ein glückliches, gelungenes Leben zu führen, das wir trotz aller Spannungen, Konflikte und Schwierigkeiten, trotz Leid und Trauer bejahen können.«
Prof. Dr. Michael Bordt hat ein brillantes philosophisches Plädoyer geschrieben, das uns dabei hilft, Klarheit über uns selbst zu gewinnen. Dabei geht es um eine Haltung uns selbst gegenüber, die es ermöglicht, auch in schwierigen Phasen das Gespür für das eigene Leben zu behalten.
Michael Bordt ist Jesuit und Professor an der Hochschule für Philosophie in München, deren Präsident er 2005 bis 2011 war. Er studierte Theologie und Philosophie und promovierte in Oxford. Habilitation an der Université de Fribourg. Als Vorstand des Instituts für Philosophie und Leadership veranstaltet er u. a. Workshops für Führungskräfte im Topmanagement großer Konzerne und für Familienunternehmen. Zahlreiche Publikationen, darunter im Elisabeth Sandmann Verlag erschienen <em>Die Kunst, sich selbst zu verstehen</em> (2015), <em>Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen</em> (2017) und <em>Die Kunst, unserer Sehnsucht zu folgen </em>(2020).
Kapitel 1
SICH ZU SICH SELBST VERHALTEN
Ich möchte mein Plädoyer für eine bestimmte Perspektive auf uns selbst und unser Leben damit beginnen, in den folgenden beiden Kapiteln ein Modell des Menschen zu entwickeln. Es ist, wie jedes Modell in den Wissenschaften, stark vereinfacht, aber es ist ein nützlicher Ausgangspunkt für unsere weiteren Überlegungen zum bestmöglichen Leben für uns Menschen.
DAS GELEBTE LEBEN
Jeder Mensch steht vor einer grundsätzlichen Aufgabe: Er muss sein Leben führen. Irgendwie muss er die vierundzwanzig Stunden des Tages füllen, mit was auch immer. Das Ergebnis wollen wir als ›gelebtes Leben‹ bezeichnen. Unter diesem Begriff sei all das zusammengefasst, was wir tun und was uns passiert, das prinzipiell von einem anderen Menschen beobachtet und beschrieben werden könnte. Der Begriff des ›gelebten Lebens‹ umfasst also alles, was man auch aus der Perspektive eines anderen Menschen über uns sagen und wissen kann. In der Philosophie nennt man diese Zuschauerperspektive die Perspektive der Dritten Person. Ein gutes Beispiel dafür ist der Film Die Truman Show von Peter Weir. Der Film zeigt das Leben eines jungen Mannes, Truman Burbank. Er lebt ohne sein Wissen von Geburt an in einem gigantischen Studio, einer eigens für ihn gebauten Welt, in dem sogar die Himmelskuppel künstlich ist. Alle Menschen um ihn herum sind Schauspieler. An die 5000 verborgene Kameras begleiten den Säugling, das Kind, den Jugendlichen und schließlich den erwachsenen Mann und übertragen die Bilder rund um die Uhr in die Fernsehgeräte der Vereinigten Staaten. Dieser Blick auf das Leben von Truman entspricht der Perspektive der Dritten Person.
Nun sind wir Menschen aber durch das, was sich von außen beobachten lässt, nur ungenügend beschrieben. Wie es sich für uns selbst anfühlt, unser Leben zu führen, das kann die Beschreibung von außen nicht enthalten. Die Perspektive der Ersten Person, also unsere eigene Perspektive auf unser gelebtes Leben, ist damit nicht erfasst. Das Leben eines Menschen kann aus der Perspektive der Dritten Person besonders glamourös wirken, während der Betreffende sich innerlich zutiefst verunsichert fühlt und keine Bindungen aufbauen kann. Aus der Perspektive der Dritten Person finden viele Menschen dieses Leben vielleicht beneidenswert, während der Mensch selbst fortwährend mit sich hadert. Immer dann, wenn wir von der Selbsttötung eines begnadeten Künstlers oder eines Topmanagers hören, werden wir wieder daran erinnert. Oder nehmen wir den umgekehrten Fall: Aus der Perspektive der Dritten Person mag das Leben eines Menschen, der beispielsweise durch einen Unfall schwer behindert wurde, perspektivlos und gescheitert wirken. Indes kann es aber diesem Menschen selbst gelingen, eine versöhnte und bejahende Haltung seinem Leben gegenüber einzunehmen, auch wenn es nicht dem entspricht, was er sich ursprünglich dafür gewünscht hatte – ein Thema, das wir im letzten Kapitel noch einmal aufgreifen werden.
UNSERE GEDANKEN UND GEFÜHLE ZU DEM LEBEN, DAS WIR FÜHREN
Was bedeutet es aber, auf sein eigenes Leben in der Perspektive der Ersten Person bezogen zu sein? Wie können wir diese Perspektive genauer beschreiben und dann auch verstehen? Mit dem bereits erwähnten Modell des Menschen möchte ich darauf eine Antwort geben. Auf zweierlei Weisen sind wir auf unser Leben bezogen, kognitiv, also mit unserem Verstand, und affektiv, mit unserem Gefühl. Diese beiden Einstellungen lassen sich grafisch in folgender Weise verdeutlichen:
Dass wir kognitiv auf unser Leben bezogen sind, bedeutet, dass wir über unser Leben nachdenken. Wir überlegen uns beispielsweise, was wir am Wochenende unternehmen wollen, wir grübeln, warum ein Streit so hart geführt worden ist, wir zweifeln daran, dass unsere persönlichen Daten im Netz sicher sind, wir bewerten, was in unserem Leben geschieht, manches finden wir gut, anderes schlecht. Auch unsere moralischen Überzeugungen, unsere Wünsche und Ziele rechnen wir in unserem Modell des Menschen zu den kognitiven Einstellungen. Wir verurteilen die Todesstrafe, wir wünschen uns, dass der nächste Urlaub harmonischer wird, wir wollen endlich wieder anfangen Sport zu treiben, wir nehmen uns vor, uns abends noch mal an den Schreibtisch zu setzen, um unser Buchprojekt voranzutreiben.
Wir verhalten uns natürlich nicht nur gedanklich, sondern auch affektiv, also mit unseren Gefühlen, zu dem, was wir tun und was in unserem gelebten Leben passiert: Wir erfreuen uns an einem der ersten Frühlingstage, wir ärgern uns, wenn das Essen anbrennt oder machen uns Sorgen, dass wir eine Deadline nicht einhalten können.
UND DANN: UNSERE GEFÜHLE UND GEDANKEN ZU UNSEREN GEFÜHLEN UND GEDANKEN
Doch die Sache ist komplexer: Nicht nur haben wir Gedanken und Gefühle dem Leben gegenüber, das wir führen, sondern wir haben auch eben diesen Gedanken und Gefühlen gegenüber noch einmal Gedanken und Gefühle. So gibt es also die kognitiven und affektiven Einstellungen zweiter Stufe, die sich auf die kognitiven und affektiven Einstellungen der ersten Stufe beziehen. Damit wird das Modell schon etwas komplexer, und ich möchte es an einigen Beispielen erläutern, die Ihnen, verehrte Leserin und verehrter Leser, vielleicht dabei helfen, es auf Ihr eigenes Leben zu übertragen.
Unsere Gefühle gegenüber unseren Gefühlen
Loraine geht es gut. Nach einer langen Zeit, in der das nicht so war und sie nur Halt in ihrer Arbeit gefunden hat, hat sie sich frisch verliebt, und die Beziehung zu Mario, ihrem neuen Freund, lässt sich sehr gut an. Loraine freut sich über die Liebe. Sie freut sich darüber, dass sie endlich jemanden getroffen hat, mit dem sie eine Partnerschaft eingehen konnte, die eine gute Zukunft verspricht. Diese Freude ist eine affektive Einstellung erster Stufe, eine Freude über etwas, das im gelebten Leben passiert. Manchmal, wenn Loraine abends im Bett liegt und vor dem Einschlafen die Gedanken fließen lässt, dann fällt ihr auf, dass es neben der Freude über die Beziehung zu Mario auch noch eine Freude über diese Freude gibt. Eine Freude zweiter Stufe darüber, dass ihr Leben an seinem derzeitigen Punkt von Freude geprägt ist und nicht wie zuvor von einem emotionalen Auf und Ab und der Flucht in die Arbeit.
Auch Werner freut sich. Werner lebt nun schon über Jahre in Spannung zu seiner Nachbarin. Beide machen sich gegenseitig das Leben schwer, und als Werner erfährt, dass in der Nachbarwohnung ein Wasserrohr gebrochen ist, denkt er: »Gut so! Geschieht ihr recht!« – und freut sich diebisch. Seine Freude ist eine affektive Einstellung erster Stufe. Etwas passiert – das Missgeschick der Nachbarin –, und Werner freut sich darüber. Gegen diese Freude ist er machtlos. Sie überfällt ihn. Er kann sich nicht vornehmen, sie nicht zu haben. Aber kaum spürt er die Schadenfreude, stellt sich spontan ein zweites Gefühl ein: das der Scham. Er schämt sich für seine Schadenfreude. Auch gegen die Scham kann er nichts machen. Sie ist einfach da. Die Scham über seine eigene Schadenfreude wäre nun eine affektive Einstellung zweiter Stufe gegenüber der Schadenfreude, die eine affektive Einstellung erster Stufe ist.
Ein weiteres Beispiel: Darius ist von Prüfungsangst geplagt. Seine Angst ist eine emotionale Reaktion erster Stufe gegenüber etwas, was in seinem Leben passiert, nämlich eine Prüfung. Darius weiß, dass Prüfungsangst jemanden im besten Fall anspornt und motiviert, konzentrierter zu lernen. Bei ihm aber ist es anders. Sein Ansporn und seine Motivation gehen verloren und verkehren sich in eine Lernblockade, weil er eine Angst zweiter Stufe gegenüber der Angst erster Stufe entwickelt. Das ist dann eine Angst vor der Angst: eine Angst davor, dass er wieder die Prüfungsangst und ihre unangenehmen körperlichen Begleiterscheinungen spüren wird. Diese Angst vor der Angst blockiert ihn. Sie entwickelt sich bei Darius schnell zur Panik. Nicht die Angst vor der Prüfung, sondern diese Angst zweiter Stufe ist Darius’ eigentliches Problem.
Noch ein Beispiel: Julia, die sonst ein eher schüchterner Typ ist und es gerne jedem Recht macht, reagiert plötzlich aufbrausend und aggressiv, als eine Freundin sie kritisiert. Sie verlässt die Wohnung mit knallender Tür – und spürt nach wenigen Minuten heftige Schuldgefühle. Die Schuldgefühle sind Gefühle zweiter Stufe, die sich auf ihre Aggressionen (erster Stufe) richten. Da sie sich selbst in dieser Aktion kaum wiedererkennt, bittet sie eine andere Freundin, die sie seit ihrer Kindheit kennt, um eine Einordnung. Diese meint, dass Julias Ärger über die unfaire Kritik in der Sache durchaus berechtigt, nur die Reaktion vielleicht etwas übertrieben gewesen sei. Große Schuldgefühle seien allerdings fehl am Platz, schließlich habe es ja durchaus Grund für ihren Ärger gegeben. Nach diesem Gespräch wird Julia klar, dass ihre Schuldgefühle das Relikt einer rigiden moralischen Erziehung sind. Julia wurde früh beigebracht, Konflikten aus dem Weg zu gehen und Aggressionen auf keinen Fall offen zu zeigen – sie am besten erst gar nicht zu spüren. Vermutlich aus dem Mangel an Übung im Umgang mit ihrem Unmut ist nun dieses heftige Bahnbrechen der unguten Gefühle entstanden, die dann die ebenso heftigen Schuldgefühle auf den Plan riefen.
Wie wir in all diesen Beispielen sehen, kann also die affektive Einstellung zweiter Stufe völlig unterschiedlich zu der affektiven Einstellung erster Stufe sein.
...Erscheint lt. Verlag | 13.8.2018 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Beziehungen • Dankbarkeit • Emotionen • Freundschaft • Gedanken • Gefühle • Lebensphilosophie • Liebe • Philosophie • Selbstbestimmung • Sinnfrage • Werte |
ISBN-10 | 3-945543-62-2 / 3945543622 |
ISBN-13 | 978-3-945543-62-7 / 9783945543627 |
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