Wenn ich noch eine glückliche Mami sehe, muss ich kotzen (eBook)
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40533-2 (ISBN)
Anna Schatz, geboren 1981, ist Autorin und lebt in Hamburg.
Anna Schatz, geboren 1981, ist Autorin und lebt in Hamburg.
MUTTER DER NATION
Als ich noch ganz klein war, so knapp über Esstischhöhe, wollte ich unbedingt ein Junge sein. Vielleicht, weil ich meinen großen Bruder glühend verehrte oder weil ich einfach ein wenig emotionales, mädchenaffines Zuhause hatte. Ich spielte zwar mit Puppen, aber nie die klassische Mutter-und-Kind-Version; meine armen Puppen mussten stattdessen ständig in die Schule gehen. Der Wandkalender in meinem Kinderzimmer zeigte keine Tierbabys oder Trickfilmhelden, sondern Bilder von Kindern aus fremden Kulturen.
Da ich sehr früh lesen konnte, blieb mir nicht verborgen, dass Kinder in anderen Kulturen oft in sehr schlimmen Situationen aufwuchsen. Mein bester Freund zu Kindergartenzeiten war in Thailand geboren und zur Adoption freigegeben worden, und ich stellte mir oft vor, wie es wäre, ein Kind wie ihn aus dem Heim zu retten. Die Kalender von Terre des Hommes oder Brot für die Welt taten ihr Übriges, dazu saugte ich Zeitungsartikel über Kinderarbeit regelrecht auf – ich malte mir oft aus, wie es wohl war, in diesen fremden Welten zu leben, versuchte nachzuempfinden, was ein Kind brauchte, um wieder Vertrauen zu fassen zu den Erwachsenen.
Daran, selbst Mutter zu werden, dachte ich damals noch gar nicht. In meiner Phantasie war ich entweder ein aus der Teppichfabrik geflohenes Kind oder unterrichtete als Erwachsene gerettete Kinder. Ich liebte meine Puppen und Kuscheltiere und dichtete ihnen Charaktereigenschaften an, als wären sie Menschen – und je älter ich wurde, desto wichtiger wurde es in meinen Spielen, sie zu beschützen vor Gefahren, die ich selbst nicht benennen konnte. Daraus reifte nach und nach der Wunsch, später einmal SOS-Kinderdorf-Mutter zu werden. Darüber sprach ich mit niemandem – ich befürchtete, mein Umfeld könnte diesen Wunsch nicht ernst nehmen oder als Hirngespinst abtun. Und kaum etwas verletzte mich in meiner kindlichen Seelenwelt mehr als Spott oder Herablassung in Bezug auf die Dinge, die mich wirklich beschäftigten.
Konkreter wurde mein «exotischer» Berufswunsch, als mein Frauenarzt mir erklärte, ich könne keine Kinder bekommen. Nun ja, so eine Information kann man, wenn man sechzehn ist, nicht wirklich in ihrer ganzen Tragweite erfassen. Ich nahm sie zur Kenntnis, zumal ich wusste, dass man dieselbe Diagnose auch meiner Mutter gestellt hatte. Daran, dass ich ihre Tochter bin, merkt der aufmerksame Leser, dass derlei Auskünfte allerdings nicht unbedingt in Stein gemeißelt sind.
Mit siebzehn Jahren wurde bei mir Brustkrebs vermutet – ein Verdacht, der sich zwar glücklicherweise nicht bestätigte, den Wunsch, Mutter zu werden, aber auch nicht gerade befeuerte. Ohnehin wurden jetzt andere Dinge wichtiger – ich zog zu Hause aus und bei meinem Freund ein und führte plötzlich ein «Doppelleben» als Schülerin und Hausfrau.
Mittlerweile wusste ich, dass man als SOS-Kinderdorf-Mutter mindestens 35 Jahre alt sein musste – bis dahin war es also noch ewig. Doch je länger ich mit meinem Freund zusammenlebte, desto stärker wurde der Traum, später Kinder zu adoptieren. In der Schule sprach ich oft davon, dass ich mindestens fünf Kindern ein Zuhause geben wollte, daher vermutlich auch der Berufstipp «Mutter der Nation» im Abi-Jahrbuch. Zudem mutierte ich durch meine doch recht erwachsene Wohnsituation zu einer Art Frau Dr. Sommer für viele Mitschüler – sie vertrauten sich mir an oder wollten hören, wie das denn so sei, nicht mehr bei den Eltern zu leben. Bestimmt ging ich einigen von ihnen mit meinem altersunüblichen Hausfrauenleben auch gehörig auf die Nerven. Nichtsdestotrotz stand auch in den Jahrbuch-Rubriken «als Erste verheiratet» und «als Erste schwanger» mein Name – und ich träumte immer öfter von einem Haus, einem Garten und Kindern verschiedenster Nationen, die bei mir behütet aufwachsen sollten.
In diese Zeit fiel auch meine erste Konfrontation mit dem Thema Abtreibung. «Wie kann die nur so bescheuert sein und es nicht wegmachen lassen?», fragte mein Bruder, als eine Kommilitonin mitten im sechsten Semester mit Zwillingen schwanger wurde. Noch dazu von einem namenlosen One-Night-Stand – sie würde also bald alleinerziehende Mutter von zwei Kindern sein, und das ohne Studienabschluss. Ganz gegen meine Gewohnheit, meinem geliebten Bruder in allem zuzustimmen, erwiderte ich nichts. Doch sein Satz gab mir zu denken. Wie leichtfertig er mit Abtreibungen umging! Wieso war es «bescheuert», sich für ein Kind zu entscheiden, Studium hin oder her? Warum brauchte frau in unserer Gesellschaft eine Rechtfertigung, wenn sie ihr Kind zur Welt bringen wollte? Ich konnte meinen Bruder verstehen, aber innerlich ergriff ich Partei für die Studentin. Sie wollte Mutter werden, das war ihr gutes Recht, und es war ebenfalls ihr gutes Recht, Prioritäten zu setzen. Mir ging die Einstellung auf die Nerven, mit Kind sei auf einmal alles vorbei: Studium, Karriere, ein eigenes Leben. Nichts ist vorbei – es fängt etwas Neues an, es geht eben nur anders weiter als bisher.
Es musste doch möglich sein, zu einem Kind ja oder nein zu sagen, ohne sich dafür vor anderen rechtfertigen zu müssen! Schon bald wurde ich mit einem anderen Beispiel konfrontiert. Unsere Nachbarn hatten Jahre zuvor zwei Jungen aus Mexiko adoptiert – damit standen sie in unserer bürgerlich-beschaulichen Straße ganz oben auf dem Gutmenschen-Treppchen. Außerdem blieb die Mutter zu Hause, der Mann ging arbeiten, die Kinder wurden größer, und es kam noch ein leibliches Kind dazu. Als der ältere Adoptivsohn mit achtzehn Jahren Vater eines kleinen Jungen wurde, hing dann der Haussegen schief. Denn die Gutmenschen-Eltern kritisierten nun, dass die junge Mutter zu lange gewartet habe und eine Abtreibung nicht mehr möglich gewesen sei. Ich konnte es nicht fassen: Ausgerechnet diesen Nachbarn, die Kinder adoptiert hatten, denen spät ein eigenes Kind geschenkt worden war und die nun Großeltern wurden – ausgerechnet ihnen wäre eine Abtreibung lieber gewesen? Meine Mutter und ich waren in unserer Bestürzung vereint, und ich begriff, dass ich selbst einen Schwangerschaftsabbruch niemals über mich brächte. Zumindest hoffte ich das, wohl wissend, dass Situationen Menschen zu Dingen zwingen können, die sie nie für möglich gehalten hätten. Ich hoffte weiter, mich niemals in einer derartigen Situation wiederfinden zu müssen. Zur Ehrenrettung meiner Nachbarn muss ich sagen, dass sie offenbar ganz zauberhafte Großeltern geworden sind und mittlerweile schon zwei Enkelkinder haben. Aber ich wusste nun, dass die Entscheidung für oder gegen ein Kind oft aus Sachzwängen heraus nicht leicht zu treffen war.
Als ich im zweiten Semester Medizin studierte, wurde dann eine Kommilitonin und Freundin von mir schwanger – obwohl sie die Pille nahm und nur noch einen Eierstock hatte. Sie war mit dem Vater nicht zusammen, neunzehn Jahre alt und eher der unstete Typ, hatte einen wachen Verstand und ein träumerisches Wesen. Ihre Vorlesungsmitschriften waren voller kunstfertiger Kritzeleien, und manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass sie über ein enzyklopädisches Wissen verfügte. Wie ein Schwamm saugte sie alles auf, nicht nur den Lernstoff. Sie war leicht abzulenken, und Erwachsenwerden stand bei ihr eigentlich noch nicht auf der Agenda.
Und jetzt würde sie also selbst Mutter werden. Die einhellige Meinung der Mitstudenten und Freunde lautete: «Das schafft sie nicht, die Marie-Christin, sie ist doch schon mit Pünktlichkeit überfordert …» Am Anfang des Studiums ein Kind bekommen? Quatsch! Lieber schön der Reihe nach: erst abtreiben, dann fertig studieren und anschließend Kinder auf die Welt bringen. Alle setzten sie unter Druck, mischten sich ein – alle, bis auf ihre Eltern und mich. Ich war überzeugt, dass sie es schaffen, ihr Leben umplanen und glücklich werden könnte. Ich glaubte fest daran, dass in ihr eine liebevolle Mama steckte. Das Studium beenden konnte sie später auch noch.
Da kam ein Kind, das war doch ein Grund zur Freude. Und wer konnte schon wissen, ob es mit dem Mutterwerden klappen würde, später, wenn es lebensplantechnisch dann endlich passte? Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie schlimm es wäre, ein Kind abzutreiben und Jahre später vergeblich zu versuchen, eines zu bekommen. Würde man dann nicht die Kinderlosigkeit als Strafe für die vergebene Chance empfinden? Ich sagte Marie-Christin, dass ich sie unterstützen würde, und ließ sie ansonsten in Ruhe. Als die Schwangerschaft schon fortgeschritten war, lernte ich ihre Mutter kennen. Sie begrüßte mich mit den Worten: «Du bist also die Einzige außer uns, die sich freut. Aber warum soll man sich nicht freuen, wenn neues Leben entsteht?»
Mit Mitte zwanzig – ich hatte nun bereits mehrfach mit Schwangerschaften und den unterschiedlichen Reaktionen darauf zu tun gehabt – kam ich erstmalig mit einem Mann zusammen, der ein Kind hatte. Ich selbst konnte ja aus medizinischer Sicht überhaupt nicht schwanger werden. Entsprechend richtete ich mein Leben ein und genoss die Beziehung mit einem Mann, der bereits Vater war – so konnte ich an den Wochenenden eine Art «Zweitmami» sein und war glücklich, als der Junge mich als solche auch seinen Freunden vorstellte. Mehr Mutterschaft würde es in meinem Leben nicht geben, dachte ich. Mir war bewusst, dass ich vermutlich irgendwann traurig darüber sein würde, keine eigenen Kinder haben zu können, aber ich freundete mich eben mit dem Gedanken, kinderlos zu sein, an, so gut es ging.
Bis ich mit unklaren Blutungen beim...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2019 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Abtreibung • Adoption • Elternschaft • Fehlgeburt • Hormonbehandlung • IVF • Kinderlosigkeit • Kinderwunsch • Lebenskrise • Mutterschaft • Partnerschaft • Schwangerschaft • ungewollt kinderlos • Wunschkind |
ISBN-10 | 3-644-40533-6 / 3644405336 |
ISBN-13 | 978-3-644-40533-2 / 9783644405332 |
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