Wir (eBook)
332 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75927-1 (ISBN)
»Wir« zu sagen, ein »Wir« zu bilden, ist die politische Handlung par excellence. Wie aber konstituiert sich ein politisches Subjekt? Wie funktioniert diese Identitätsbildung? Und wie hat sie sich historisch in den letzten zwei Jahrhunderten entwickelt? Das sind die Fragen, denen Tristan Garcia in seinem neuen hochaktuellen Buch nachgeht. Eine fulminante Analyse der Identitätspolitik.
Der »Kampf der Kulturen«, die Debatte um »den« Islam, um Geflüchtete, Rassismus, Feminismus oder »politisch korrekte« Sprache, um die Rechte der Tiere - immer geht es darum, im Namen eines »Wir« zu sprechen, sich abzugrenzen oder zu inkludieren, sich zu mobilisieren und zu organisieren. Die Intensität dieser Wir-Bildungen nimmt wieder enorm zu. Garcia tritt einen Schritt zurück und entwirft ein allgemeines Modell, das anhand von Mechanismen der Konturierung, Überlappung und Priorisierung zeigt, wie solche Wir-Identitäten gebildet werden. Und er erzählt die Geschichte ihrer Dynamik, ihrer Kontraktionen und Extensionen: eine Geschichte von Herrschaft und Widerstand.
<p>Tristan Garcia, geboren 1981, ist ein französischer Philosoph und Schriftsteller. Er ist ein Schüler von Alain Badiou, gegenwärtig Maître de conférences an der Universität von Lyon und gehört zum Kreis der philosophischen Bewegung des Spekulativen Realismus. Für seine in zahlreiche Sprachen übersetzten Werke<em> </em>wurde er mehrfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien sein von der Kritik gefeierter Roman <em>Der beste Teil der Menschen</em>, für den er den Prix de Flore erhalten hat. Im Herbst 2018 erscheint sein Essay <em>Wir</em> im Suhrkamp Verlag.</p>
Tristan Garcia, geboren 1981, ist ein französischer Philosoph und Schriftsteller. Er ist ein Schüler von Alain Badiou, gegenwärtig Maître de conférences an der Universität von Lyon und gehört zum Kreis der philosophischen Bewegung des Spekulativen Realismus. Für seine in zahlreiche Sprachen übersetzten Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien sein von der Kritik gefeierter Roman Der beste Teil der Menschen, für den er den Prix de Flore erhalten hat. Im Herbst 2018 erscheint sein Essay Wir im Suhrkamp Verlag. Ulrich Kunzmann, geboren 1943, studierte Romanistik und arbeitete zunächst 20 Jahre lang als Dramaturg. Seit 1969 übersetzt er literarische Texte und Sachbücher aus dem Spanischen, Französischen und Portugiesischen ins Deutsche.
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Stellen wir uns also vor, dass »wir« in konzentrischen Figuren strukturiert wird: der Biosphäre, dem Planeten Erde, der ganzen Gemeinschaft der empfindenden Wesen, denen, die ein zentrales Nervensystem haben, den Säugetieren, denen unter ihnen, die man früher als »höhere Säugetiere« bezeichnete, den Großprimaten, der Menschheit. Stellen wir uns dann im Kreis der Menschheit die Verbindung und Trennung verschiedener Kreise vor, die wie die vielfältigen Ringe eines Wickelrings ineinander verschlungen sind, wobei sich diese überlagern und überschneiden, wie es den sozialen Geschlechtern (Mann und Frau, aber auch androgyn, transsexuell oder queer), den sexuellen Orientierungen (Homosexuelle, Heterosexuelle, Bisexuelle, Asexuelle), den Rassen, Hautfarben oder Ethnien (Schwarze, Weiße, Araber, Asiaten, Inder, Melanesier …), den sozialen Klassen (Proletarier, untere und höhere Mittelschichten, Bourgeois, Rentiers, Aristokraten …), den Altersgruppen (Kinder, Teenies, Jugendliche, Erwachsene, Senioren), den Glaubensgemeinschaften (Religionen, philosophische Sekten, ideologische Organisationen und politische Parteien) entspricht. Verengen wir dann die Kreise, wie man eine Schlinge zusammenzieht. Wir entdecken ethnische Gruppen, Stämme, Klans, Familien. Verkleinern wir die Öffnung noch weiter. Nun scheint sich alles in Banden einzuteilen. Kameradschaften, Freundschaften, Trios. Und dann Paare: dich und mich.
49Was gibt es unterhalb davon? Schnüren wir den Kreis des »Wir« ganz zusammen, als wäre er schon beinahe nicht viel mehr als ein Punkt. Was erhalten wir? Das, was man »ich« nennt. Selbstverständlich kann das »Ich« auch ein »Wir« sein, entweder weil ich als schizophren diagnostiziert werde, oder weil ich mir meine eigene Psyche nach Art der Freud'schen Topik vorstelle, die das Ich, das Es und das Über-Ich unterscheidet. Ich bin sicher mehrere, und »wir alle sind Grüppchen«, so die Losung Félix Guattaris für eine »Schizo-Politik«. Gilles Deleuze und Félix Guattari hatten auf die Fragen nach ihrer Zusammenarbeit mit dieser berühmten scherzhaften Bemerkung geantwortet: »Wir haben den ›Anti-Ödipus‹ zu zweit geschrieben. Da jeder von uns mehrere war, machte das schon eine Menge aus.«89 Die Vorstellung, dass das sichtbare, einzige, freie und selbstbestimmte Ich nicht die unüberwindliche untere Grenze der Politik darstellen darf, weil es nicht nur mich in mir gibt, ist eine für die Moderne grundlegende Intuition, für die Marcel Gauchet in L'Inconscient cérébral (»Das zerebrale Unbewusste«)90 eine Genealogie vorgeschlagen hat, die das Studium der reflexhaften Bewegungen, die Psychoanalyse, Nietzsches Tiefenpsychologie, aber auch Paul Valérys Selbstbeobachtungsarbeiten einbezieht. Der Autor von Tel quel (»So wie es ist«) spürt: »Allein zu sein bedeutet, mit sich zu sein, und das heißt stets, zu zweit zu sein.«91
Für die Subjekte des 20. Jahrhunderts ist das Ich nicht mehr so sehr das Atom oder der wesentliche Bestandteil jeder Gemeinschaft als vielmehr ein Gemeinschaftsgrad unter mehreren anderen: Ich bin einer von vielen, und es gibt viele in mir. In seinen Cahiers notiert Paul Valéry hierzu, der Mensch sei »Einzelwesen in sozialer Hinsicht, 50doch mehrfach für sich selbst. Die äußere Gruppe sagt ihm: Du bist einer — er aber antwortet: Du bist eine, Welt, und ich bin mehrere darin.«92 Das Ich, dem von außen eine einzige Identität zugewiesen wird, ist im Innern ein ganzes Volk, das den Gebrauch eines intimen »Wir« verlangt, um dargestellt zu werden. Die Zerrissenheit des Ich und die Existenz eines inneren »Wir« sind ein Gemeinplatz der alten Moderne, der aus der Übergangszeit zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert stammt, und zu dem Lyrik, Psychologie (die eine Abstufung entdeckt, von der das Selbstbewusstsein nur die letzte, oberflächliche Ebene ist) und Philosophie (die aus dem Ich ein Wort und eine unzählige Zustände des Selbst bedeckende Maske macht) mit vereinten Kräften beigetragen haben. In Die fröhliche Wissenschaft ruft Nietzsche: »Dies Alles bin ich«,93 und Valéry setzt seine Erkundung des Atoms der Subjektivität fort und begreift, dass es kein Selbst gibt: Je mehr man sich ihm nähert, desto weniger geeint, fest und substantiell scheint das Ich. Um es wirklich zu verstehen, muss man von Splittern, Fragmenten und Variationen sprechen. Unter dem Mikroskop der modernen Analyse ist das Ich »ganz allein eine Menge«, um die Formulierung Sartres in Geschlossene Gesellschaft94 aufzugreifen. Henri Michaux kann somit dessen Existenzweise nach Art einer kleinen Gemeinschaft beschreiben: »Ich bin bewohnt; ich spreche zu Wer-ich-War, und die Wer-ich-War sprechen zu mir. Zuweilen fühle ich mich befangen, als ob ich ein Fremder wäre. Sie bilden nun eine ganze Gesellschaft, und es kommt vor, dass ich mich selbst nicht mehr höre. Man ist niemals ganz allein in seiner Haut! Ich bin vielfach, und ich vervielfache mich seit Jahren so, dass ich nicht mehr weiß, was ich mit meinen sich 51häufenden ›Ichs‹ tun soll. Ich habe nie gewusst, wie viele wir genau waren, doch wir leben beengt, wir behindern uns, wir stören uns … Wenn der eine sprechen will, ergreift der andere das Wort, und wir verstehen uns nicht mehr.«95
Wenn man diese typische Proliferation des modernen Geistes anerkennt, müsste man sich eine Politik des Selbst vorstellen können, welche die Beziehungen zwischen dem Kind, dem Jugendlichen und dem Erwachsenen, die wir gewesen sind, als diejenige ebenso vieler gewählter Vertreter eines kleinen intimen Parlaments behandelt, wobei jeder über eine Stimme verfügt, um an den Beratungen des Selbst teilzunehmen. Doch durch diese Metapher versteht man, dass die moderne Operation der Zerlegung des Ichs nur die Grenze der Person auf die Persönlichkeit verschiebt, indem man die Ansicht vertritt, dass es kleinere und wesentlichere »Ichs« im Innern meines sichtbaren »ICHS« gibt.
Anders gesagt: Um zu erfassen, dass »Ich« in Wirklichkeit ein »Wir« ist, das verschiedene Versionen des »Selbst« vereint und gegenüberstellt, die entweder Schizes der Person oder eine der früheren Inkarnationen sind, muss man sich auch noch diese »Ichs« als die untere Grenze von »Wir« vorstellen: Es gibt keinen Regressus ad infinitum, es gibt keine »Ichs« in jeder von meinen Persönlichkeiten — oder »ich« und »wir« würden schlicht und einfach ein und dasselbe bedeuten. Jedes »Ich« wäre in diesem Fall ein »Wir«, und jedes »Wir« wäre ein »Ich«. Dann geht der Begriff des »Wir« selbst verloren. Um ihn zu bewahren, muss man ihn so weit wie möglich ausdehnen, aber ihn auch begrenzen: Wenn er seine Grundebene erreicht hat, kann er nicht weiter als bis »ich« in dem Sin52ne von »die eine oder andere meiner Persönlichkeiten« hinabsteigen.
Da wir nun eines Endes des »Wir« (des minimalen »Wir«) sicher sind, müssen wir mit einem Mal aufsteigen und am anderen Ende des Spektrums das maximale »Wir« bestimmen.
Bei unserer ersten Erkundung auf einzelnen Ebenen waren wir bei dem allen empfindenden Wesen unserer Biosphäre gemeinsamen »Wir« stehengeblieben. Die heutige Vorstellung vom »Anthropozän«96 ist Ausdruck dieses »Wir«, das die Subjekte der menschlichen Geschichte und die Subjekte der Naturgeschichte unterschiedslos vereinen soll. Jenseits der Gemeinschaft der organischen Wesen hat sich sogar in den Werken von Bruno Latour die Vorstellung von einem »Parlament der Dinge«97 oder in denen von Levi Bryant von einer »Demokratie der Objekte«98 entwickelt. Demnach müsste sich das politische »Wir« auf alle — belebten oder unbelebten — Entitäten übertragen, die in der Gesellschaft zirkulieren und sich vernetzen. Um die Wahrnehmungen der Objekte untereinander zu bezeichnen, weist auch Graham Harman auf eine polypsychistische rationale Hypothese hin,99 die darin besteht, so etwas wie ein geheimes Leben der Objekte untereinander anzuerkennen, das ohne Empfindungen, aber nicht ohne Beziehungen sein soll. Man könnte sich also ...
Erscheint lt. Verlag | 10.9.2018 |
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Übersetzer | Ulrich Kunzmann |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Nous |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Gruppenbildung • Identität • Identitätspolitik • Kulturkampf • Nous deutsch • Prix de Flore 2008 |
ISBN-10 | 3-518-75927-2 / 3518759272 |
ISBN-13 | 978-3-518-75927-1 / 9783518759271 |
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