Sexuelle Süchte erkennen und behandeln (eBook)
200 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-19136-3 (ISBN)
Michael Gerlach, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut in leitender Funktion in der psychosomatischen Hochgrat Klinik in Oberstaufen.
Michael Gerlach, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut in leitender Funktion in der psychosomatischen Hochgrat Klinik in Oberstaufen.
Aus dem Inhalt:
Was ist Sexualität?
Sexualität und Evolution oder von Liebeswanzen und Cunnilingus
Evolutionäre Psychologie
Das Spektrum der menschlichen Sexualität
Die sexuellen Orientierungen
Monogamie und Polygamie
Masturbation
Pornographie
Perversionen
Die "Masters of Sex"
Die Biologie der Sexualität
Die sexuelle Reaktion
Der Orgasmus
Verliebtheit als "natürliche Sucht"
Was ist Sucht?
Syndrome sexueller Süchtigkeit
Was ist Heilung?
Suchtprozesse stoppen
Auslöser erkennen
Heilung sexueller Süchte: 12-Schritte-Gruppen
Heilung der Störungen der Intimität
Heilung des sexuellen Unbehagens
Die Fähigkeit zu partnerschaftlicher Liebe
1 Was ist Sex und was ist Liebe?
»Echtes Wissen bedeutet die Ursachen zu kennen.«
Sir Francis Bacon
Alessandro Moreschi wurde wegen seiner himmlischen Stimme der »Engel von Rom« genannt. Es existieren zwei Tonaufnahmen aus den Jahren 1902 und 1904 von ihm. Moreschi war der letzte Kastratensänger. 1868 wurde er kastriert. Seine Keimdrüsen – beim Mann die Hoden – wurden entfernt. Wir wissen nicht genau, wie sich ein menschliches Leben ohne Sexualität angefühlt haben mag, haben jedoch das Gefühl, dass Männer ohne Keimdrüsen um einen ganz wesentlichen Aspekt ihrer Existenz beraubt sind. Vielleicht gestattet ihr Zustand ihnen aber auch ein Leben in »seligem Frieden« jenseits der starken Triebkräfte der Sexualität. Historiker vermuten bei Menschen Ersteres, und trotzdem stehen wir selbst unseren kastrierten Hunden und Katzen mit einer Mischung aus Bedauern und Beneiden gegenüber.
Heute wird glücklicherweise niemand mehr kastriert, und spätestens in der Pubertät, der einsetzenden Geschlechtsreife, werden wir konfrontiert mit starken Triebkräften, die unser Erleben und Verhalten tiefgreifend umformen und bestimmen. Die Sexualität, die dann zutage tritt, umfasst verschiedene Empfindungen und Handlungen und ist weit mehr als nur Geschlechtsverkehr zum Zwecke der Fortflanzung. Dabei begleitet uns unsere Sexualität ein Leben lang und ist ein grundlegendes Bedürfnis und Teil unserer Persönlichkeit, dem wir vor allem im Rahmen von Beziehungen viel Bedeutung beimessen. Dabei beruht unsere Sexualität auf einem komplexen Zusammenspiel von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren und kulturellen Einflüssen.
1.1 Sexualität und Evolution oder: Von Liebeswanzen und Cunnilingus
1.1.1 Die Liebeswanze: Drei Tage im Liebesrausch
In den frühen Morgenstunden schwärmen die Männchen der Liebeswanzen massenhaft aus und kreisen in einem Abstand von ca. 30 Zentimetern über der Erde. Sie warten im Flug auf die Möglichkeit, sich mit einem Weibchen zu paaren. Die weiblichen Liebenswanzen fliegen meist nicht, sie bleiben am Boden und kriechen aus der schützenden Vegetation in Richtung der fliegenden Männchen. Manchmal wird ein Weibchen von einem Männchen erwischt, bevor es selbst auffliegen kann. Oft sind die Männchen in Kämpfe verwickelt, dabei können sich bis zu zehn Männchen um ein einzelnes Weibchen drängeln. Erfolgreiche Männchen entfernen sich mit ihrem Weibchen vom Schwarm, und das Insektenpaar gleitet zur Kopulation auf den Boden. Das Männchen wird mit dem Weibchen drei ganze Tage lang kopulieren und sich vor Ablauf dieses Zeitraums kein einziges Mal von ihm lösen. Was das Insektenpaar dabei empfindet, wissen wir nicht.
Wenn wir uns das sexuelle Verhalten der Liebeswanzen anschauen, dann fragen wir uns bald: Warum tun sie das, was sie tun? Und was tun sie überhaupt? Warum tun sie es auf diese Art und Weise?
Um Sexualität zu verstehen, muss man ihre Aufgabe in der Welt des Lebendigen verstehen. Sexualität ist zunächst Verhalten und Erleben zum Zwecke der Fortpflanzung. Man kann sagen: Ihr augenscheinlicher Sinn besteht in der Entstehung neuer Generationen. Geschlechtliches Verhalten findet in der Regel zwischen Geschlechtspartnern statt und hat zusätzliche, oft komplexe Aufgaben im Sozialgefüge von Lebewesen. Im weiteren Sinne bezeichnet Sexualität die Gesamtheit der Verhaltens- und Erlebensweisen von zwei unterschiedlichen Geschlechtern, männlich und weiblich, und deren wechselseitige Bezogenheit aufeinander – meist zum Zwecke der Fortpflanzung und deshalb auch gelegentlich zum Zwecke der Bindung der Partner aneinander. Dabei ist Sexualität ein vielgestaltiges, gelegentlich auch skurril anmutendes Geschehen, mit dem Sinn der Vervielfältigung lebender Organismen, in den sie umgebenden Umwelten.
1.1.2 Charles Darwin und die Entstehung der Arten
Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, hat uns als Erster ein umfassendes Verständnis der Entstehung der Arten und der damit verbundenen Aufgabe der Fortpflanzung gegeben. Natürlich wusste man auch schon vor Darwin, was Fortpflanzung ist, aber erst Darwin hat uns die tiefere Bedeutung der Sexualität und der sexuellen Auslese in einem umfassenden naturkundlichen Zusammenhang erschlossen. Dieser war vor ihm nur unzureichend erkannt und verstanden worden.
Am 24. November 1859 erschien sein Hauptwerk On The Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) (Darwin 2012). Hier gelang es ihm, die grundlegenden Mechanismen der Entstehung und Vermehrung von Lebewesen zu beschreiben. Seine Ideen bilden die Grundlage für die moderne Biologie und haben unser Verständnis von der Natur des Lebendigen und von uns selbst als Menschen für immer verändert. Nach Darwin gehören Menschen zu einer Gruppe von menschähnlichen Affen, den Hominiden. Dazu gehören Gorillas, Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans. Diese Affen sind zwar eng miteinander verwandt, unterscheiden sich jedoch stark hinsichtlich ihres sozialen Verhaltens, z. B. sind Orang-Utans ganz überwiegend lebenslange Einzelgänger, Bonobos dagegen ausgesprochen aufeinander bezogene Gruppentiere, bei denen die »soziale Sexualität« eine besonders wichtige Rolle spielt. Intuitiv können wir diese stammesgeschichtliche Nähe zwischen uns und den Menschenaffen spüren, wenn wir z. B. im Zoo in ihre Gesichter blicken und sie in die unsrigen. Dann erleben wir oft ein seltsames, manchmal verwirrendes Gefühl der Ähnlichkeit und Nähe.
Als Darwin 24 Jahre vor Erscheinen seines Hauptwerks, das die bis dahin gängige, biblische Weltsicht umstürzte, die Galapagosinseln bereiste, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass es auf den 14 sehr abgelegenen Inseln jede Menge Vögel gab. Diese Vögel hielt er für Meisen, Spechte und andere typische Landvögel. Nachdem er unterschiedliche Exemplare gefangen und präpariert hatte, schickte er sie nach England, um sie von dem Vogelexperten des Museums der Zoologischen Gesellschaft von England John Gould untersuchen zu lassen. Dieser stellte jedoch – zum großen Erstaunen Darwins – fest, dass es sich bei allen Vögeln um bisher unbekannte Finken handelte, dass also alle Tiere Exemplare einer einzigen Art waren. Darwin war angesichts des Variantenreichtums dieser artgleichen Vögel fasziniert und verwundert und schloss schließlich daraus, dass es einen bestimmten Prozess der Entwicklung von Arten geben müsse.
Der zentrale Aspekt dieses Vorgangs ist nach Darwin die Hervorbringung von verschiedenen Exemplaren einer Art, d. h. von etwas voneinander abweichenden Artgenossen. Diese »variierenden Artgenossen« sind dann zufällig mehr oder weniger angepasst oder geeignet für das Überleben in einer bestimmten Umgebung, wie z. B. in Steinwüsten mit Kakteen oder in Wäldern mit hohem Baumbestand. Je besser die zufällige Anpassung gelingt, desto höher wird die Überlebens- und Fortpflanzungswahrscheinlichkeit einzelner Exemplare. Mit dieser naturkundlichen Denkfigur erklärte sich Darwin die Entstehung seiner weltberühmt gewordenen Darwinfinken: Die Natur sorgt durch spezielle genetische Mechanismen – die natürliche Zuchtwahl – für Variationen, welche sich zufällig als nützlich für das Überleben in einer bestimmten Umwelt erweisen. Die Träger der nützlichen Merkmale überleben durch ihre bessere Anpassung an die gegebene Umwelt mit höherer Wahrscheinlichkeit und können ihre Merkmale durch Fortpflanzungserfolge an nachfolgende Generationen weitergeben, die dann auch passender ausgerüstet sind.
Nach Darwin besteht also die Hauptaufgabe der Sexualität, die in der Regel zweigeschlechtlich ist, in der Hervorbringung neuer und unterschiedlicher Individuen, bestimmt durch eine jeweilige, spezifische Genkombination. Die zweigeschlechtliche Fortpflanzung ermöglicht einen großen Spielraum für genetische Neukombinationen, die dem Überleben und der Fortpflanzung dienlich sein können. Warum wir uns nicht mit drei oder noch mehr Geschlechtern fortpflanzen, ist nicht vollständig geklärt. Auf der Ebene der Wimperntierchen gibt es Arten, die mehr als zwei Paarungstypen aufweisen – möglicherweise hatte die mehrgeschlechtliche Fortpflanzung zu viele Nachteile, als dass sie sich im Bereich der höher entwickelten Tierwelt hätte herausbilden können.
1.1.3 Sexuelle Auslese oder: Warum...
Erscheint lt. Verlag | 18.4.2018 |
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Zusatzinfo | 2 Abbildungen, 2 Tabellen, mit Geleitworten von Ilse Manuela Völk und Peter Brieger |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Sexualität / Partnerschaft |
Medizin / Pharmazie ► Allgemeines / Lexika | |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Pädiatrie | |
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ISBN-10 | 3-608-19136-4 / 3608191364 |
ISBN-13 | 978-3-608-19136-3 / 9783608191363 |
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