Morgengrauen (eBook)
144 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-23424-9 (ISBN)
Wenn eine Frau Opfer staatlicher Willkür wird, nur weil sie zur falschen Zeit auf dem Weg zur Arbeit ist. Wenn ein Vater sich gezwungen sieht, über seine Tochter zu richten, um die Ehre der Familie zu retten. Wenn einem Mädchen nur die Flucht von zu Hause bleibt, um selbst über sein Leben zu bestimmen.
Jede einzelne der Schicksalsgeschichten lässt einem den Atem stocken, weil nichts so erschütternd ist wie die Realität, aus der Selahattin Demirta? schöpft. Nur selten kommt man dem Alltag in der islamischen Welt so nahe wie in diesen Erzählungen. Konkret und ungeschönt schildern sie das Leben in der Türkei, das gespalten ist zwischen Tradition und Moderne, Ignoranz und ohnmächtiger Wut. Storys von politischer Wucht - die in der Türkei von Hunderttausenden gelesen werden.
Selahattin Demirta?, Jahrgang 1973, war bis Februar 2018 Co-Vorsitzender der Oppositionspartei HDP, der Demokratischen Partei der Völker, die sich für eine pluralistische Türkei einsetzt. Der kurdische Politiker ist einer der wichtigsten Gegenspieler Erdo?ans und wird seit November 2016 festgehalten. Im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne hat Demirta? angefangen zu schreiben. »Morgengrauen«, sein erster Erzählungsband, wurde zum Bestseller. Das Buch war für den renommierten französischen Prix Médicis étranger nominiert und mit dem PEN Translates Preis sowie dem Montluc Resistance and Liberty Preis ausgezeichnet. Selahattin Demirta? wurde im Frühjahr 2019 für den Friedensnobelpreis nominiert.
BEVOR PINAR UND Kader ins Bett geschlüpft waren, hatten sie sich mit dem von Seher angerührten Henna die Hände bemalt und alte Strümpfe wie Handschuhe darübergezogen. Bald darauf legte sich Seher zu ihren jüngeren Schwestern. Vor lauter Vorfreude auf das Fest am nächsten Morgen konnten sie nicht einschlafen. Pınar musste immer wieder an ihr neues Kleid denken. Bisher hatte sie stets alte Sachen von Kader auftragen müssen, nun hatte sie zum ersten Mal ein eigenes Kleid bekommen und stellte sich vor, wie schön sie darin aussehen würde. Auch neue Schuhe waren ihr zum Fest gekauft worden. Pınar war ähnlich aufgedreht, und so kicherten sie unter der Bettdecke bis nach Mitternacht. Sehers Schimpfen kümmerte sie nicht, nur zu gut wussten sie, dass es nicht ernst gemeint war. Seher konnte ihnen einfach nicht böse sein. Doch irgendwann erschöpft, schmiegten sich die beiden an ihre Schwester und schliefen ein.
Dass Seher keinen Schlaf fand, lag an etwas anderem. Sie hatte eingewilligt, sich mit Hayri in einer Konditorei zu treffen. Die beiden arbeiteten in derselben Konfektionsschneiderei. Wegen des bevorstehenden Festes hatten sie mittags schon freibekommen, und Hayri war beim Hinausgehen an sie herangetreten und hatte ihr schüchtern das Treffen vorgeschlagen. Darauf wartete sie eigentlich schon lange. Seit geraumer Zeit tauschten die beiden in der Schneiderei heimliche Blicke und waren schon ins Gerede gekommen, denn unbemerkt blieb so etwas nicht.
Seher fand, es sei höchste Zeit zu heiraten. Sie war zweiundzwanzig und fürchtete allmählich, ohne Mann zu bleiben. Die Mädchen ihres Alters waren zumeist verheiratet worden, noch bevor sie achtzehn waren, und hatten schon alle Kinder. Um Seher geworben hatte durchaus der eine oder andere, doch es war bisher keiner darunter gewesen, den sie gewollt hätte. Für Hayri dagegen hatte sie etwas übrig. Mit seiner hohen Gestalt, den lockigen Haaren und vollen Lippen konnte er durchaus als schöner Mann gelten. Seit fast acht Monaten arbeiteten sie gemeinsam in dem Betrieb. Sie selbst war seit vier Jahren dort angestellt, Hayri hatte nach seinem Wehrdienst angefangen.
Durch die festtägliche Betriebsamkeit im Haus wurde Seher am nächsten Morgen früh wach; an so einem Feiertag waren alle fröhlich gestimmt. Ihr Vater Gani, der drei Jahre ältere Bruder Hâdi und der fünfzehnjährige Engin machten sich auf den Weg zum Festtagsgebet. Sobald sie aus dem Haus waren, eilten Pınar und Kader zum Waschbecken und rubbelten sich das getrocknete Henna von den Händen. Seher wusch sich selbst die Hände, dann half sie den Schwestern. Ihre Hände waren nun rot wie Granatäpfel. Seher roch an den zarten kleinen Handflächen der Schwestern und küsste sie. Ihre Mutter Sultan war schon in der Küche und bereitete das Frühstück zu, damit es fertig war, wenn die Männer aus der Moschee zurückkamen. Während Seher ihrer Mutter zur Hand ging, liefen die beiden Kleinen in ihr Zimmer, um sich herzurichten. Die Bodenmatratzen in den beiden Zimmern waren bereits verräumt und auch im großen Zimmer der niedrige Tisch schon gedeckt, um den herum alle auf dem Boden sitzen würden. Außer an Feiertagen frühstückten sie nie zusammen.
Als die Männer wieder zu Hause waren, wünschten alle einander ein frohes Fest. Alle, auch die Mutter, küssten dem Vater die Hand. Der Vater umarmte und küsste nur Pınar und Kader, dann verteilte er die Geldgeschenke. Danach küssten die Kinder der Mutter die Hand, sie küssten sich auch untereinander, und Pınar und Kader luchsten ihrem Bruder Hâdi etwas Geld ab. Seher nahm Engin in den Arm, was er nicht leiden mochte. Aber an einem solchen Festtag ließ er es sich gefallen, außerdem war Seher seine Lieblingsschwester. Auch Seher mochte ihn am liebsten. Sie zog etwas Geld aus ihrem Portemonnaie und reichte es Engin. Der wollte es zunächst nicht annehmen, aber Seher bestand darauf, und schließlich drückte er sie und steckte das Geld ein. Munter plaudernd frühstückten sie.
Den Vormittag über kamen die Nachbarn zu Besuch, dann gingen die Männer nach und nach aus dem Haus. Bis zu Sehers Treffen mit Hayri waren es nur noch drei Stunden, aber noch hatte sie ihrer Mutter nicht gesagt, dass sie sich mit ihm treffen würde. Die Mutter liebte alle ihre Kinder, doch Seher war mehr als nur eine Tochter, sie war auch Vertraute, Gefährtin, Komplizin. Darum war sie Seher gegenüber nachsichtiger. Als Seher ohne eine Erklärung losging, gab sie ihr ein paar Mahnungen mit auf den Weg, fragte aber nicht, wo sie hinwolle; sie konnte es sich denken.
Seher traf sich mit Hayri in der Konditorei gegenüber dem Gerichtsgebäude von Adana. Als sie eintrat, saß er schon an einem Tisch. Er stand auf und schüttelte ihr die Hand. »Schön, dass du gekommen bist. Frohes Fest«, sagte er, und Seher erwiderte mit zittriger Stimme: »Ja, dir auch.« Vor Aufregung schwitzte sie. Da sie sich zum ersten Mal mit einem jungen Mann traf, wusste sie überhaupt nicht, wie sie sich verhalten sollte. Ihr Leben hatte bisher nur daraus bestanden, von zu Hause in die Arbeit zu gehen und von dort wieder zurück. Die anderen Mädchen in der Schneiderei erzählten manchmal von solchen Treffen, aber es selbst zu erleben, war doch etwas ganz anderes. Hayri hingegen schien gar nicht aufgeregt und redete über dieses und jenes. Dann kamen sie auf ihre Familien und ihr bisheriges Leben zu sprechen. Dabei taute Seher allmählich auf, und schließlich war ihr, als sei sie schon seit Jahren mit Hayri zusammen. Das lag natürlich auch an Hayris charmanter Art. Bestimmt war er in solchen Dingen erfahrener als sie, und mochte er sich auch schon mit anderen Mädchen getroffen haben, so kam es doch nur darauf an, dass er nun hier mit ihr saß und so nett zu ihr war. Beim Reden senkte er manchmal den Kopf, sodass Seher ihn mustern konnte.
Als die beiden sich nach zwei Stunden voneinander verabschiedeten, hatte sie sich wohl verliebt. Sie ging zu Fuß heim nach Şakirpaşa und dachte den ganzen Weg über nur an Hayri. Manchmal schoss ihr die Hitze ins Gesicht, und vor Aufregung wurde ihr sogar leicht schwindlig. Mit der Zeit aber schwand der Zauber des heimlichen, verbotenen Treffens, und es stellte sich Angst ein. Sollten ihr Vater oder Hâdi davon erfahren, würde es ihr übel ergehen. Sie musste vorsichtig sein und sich nichts anmerken lassen. Sogar ihre Mutter durfte sie vorläufig nicht einweihen.
Als sie zu Hause ankam, waren die Männer noch nicht da. Ihre Mutter stellte ihr keine Fragen, sie war sich sicher, dass sie ihr zu gegebener Zeit alles erzählen würde.
Am Abend wurden die Matratzen zeitig ausgelegt, und Pınar und Kader schliefen schnell ein. Seher legte sich zu ihnen, träumte aber noch stundenlang von Hayri. Sie stellte sich ihre Hochzeit vor, das Kleid, das sie tragen würde … Im Geiste richtete sie schon die gemeinsame Wohnung ein, und wenn sie daran dachte, wie sie mit Hayri darin ganz allein sein würde, wurde ihr wieder ganz heiß. Sie merkte nicht, wie sie irgendwann doch in den Schlaf glitt.
Beim Frühstück saß erneut die ganze Familie beisammen. Er herrschte nicht mehr dieselbe Ausgelassenheit wie am Tag zuvor, aber es ging fröhlich zu. Seher jedoch traute sich nicht, den anderen in die Augen zu schauen, so sehr fürchtete sie, man könne darin lesen wie in einem Buch.
Und es waren noch zwei Menschen am Tisch, die es vermieden, sich anzublicken. Der Vater und Hâdi. Die beiden waren sich am Vortag in einem Bordell in Adana über den Weg gelaufen und hatten so getan, als hätten sie den anderen nicht bemerkt. Sie wussten aber beide, dass dem nicht so war. In stillschweigendem Einverständnis taten sie nun so, als wäre nichts geschehen, sahen sich aber dennoch nicht an und sprachen auch kein Wort. Dass bei Tisch das Thema auf Hâdis Hochzeit kam, die im Sommer nach einjähriger Verlobungszeit stattfinden sollte, machte die Sache nicht leichter.
Als Seher nach den Feiertagen zurück zur Arbeit ging, pochte ihr das Herz bis zum Hals. Den ganzen Tag über blickte sie immer wieder zu Hayri hinüber, und in der Kantine saßen sie am selben Tisch. Sie war so glücklich, wenn sie an die anderen Männer in der Schneiderei dachte, denn Hayri war der bestaussehende und auch gutherzigste, und unter allen Mädchen hatte er ausgerechnet sie erwählt. Sie wähnte sich mitten in einem Märchen und konnte den Abend kaum erwarten. Bei Arbeitsschluss verließen sie gemeinsam die Schneiderei. Als sie sich von Hayri verabschieden wollte, sagte dieser verlegen: »Mich fahren Freunde nach Hause, wenn du willst, können wir dich auch heimbringen.« »Ich will euch keine Umstände machen«, erwiderte sie. »Von wegen Umstände, wir fahren sowieso in deine Richtung.« »Na gut, aber lasst mich dann an der Straßenecke raus.« Als wüsste er schon, was ihre Sorge war, sagte Hayri: »Klar, wir lassen dich da raus, wo du willst.«
Hayri stellte ihr seine Freunde nicht vor, als sie einstiegen, sie nickten nur grüßend. Der Fahrer und der Beifahrer flüsterten miteinander. Hayri sagte kaum etwas zu Seher und erklärte auch dem Fahrer nicht, wohin er musste. Als sie an der Balcalı-Kreuzung von der Hauptstraße abbogen, wurde es schon dunkel. Aufgeregt rief Seher: »Wir sind falsch gefahren, ich wohne in Şakirpaşa.« »Keine Sorge«, sagte Hayri beruhigend, »wir haben uns gedacht, wir drehen noch eine Runde bis zum Staudamm, bisschen frische Luft schnappen, dann bringen wir dich heim. Ist mal was anderes.« »Aber nicht zu lange«, erwiderte Seher, »daheim warten sie auf mich.«
Nach einer Weile bogen sie in einen Waldweg ein. Sehers Herz begann wild zu schlagen. Mitten im Wald blieb das Auto...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2018 |
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Übersetzer | Gerhard Meier |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Seher |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Islam | |
Schlagworte | Asli Erdogan • Bestseller aus der Türkei • Cem Özdemir • Dan Dündar • der kurdische Obama • eBooks • Erdogan • Frauen im Islam • Frauenrechte • Frauenschicksale • Friedensnobelpreis • Geschichten aus dem Gefängnis • HDP-Kandidat • Islam • Kurden • Menschenrechte • Naher Osten • Özdemir • Präsidentschaftswahlen • Seher • Spitzenkandidat • Türkei • Wahlkampf • Widerstand gegen Erdogan • Widerstandskämpfer • Yücel |
ISBN-10 | 3-641-23424-7 / 3641234247 |
ISBN-13 | 978-3-641-23424-9 / 9783641234249 |
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