Fast eine Revolution (eBook)
326 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43888-7 (ISBN)
Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.
Wilfried Loth, geboren 1948 im Saarland, ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Er war Vorsitzender des deutsch-französischen Historikerkomitees; die Französische Republik hat seine Arbeit durch die Ernennung zum "Officier dans l'Ordre des Palmes Académiques" gewürdigt.
Einleitung
Frankreichs Uhren gehen anders: Dieses Motto, mit dem der Schweizer Historiker und Essayist Herbert Lüthy 1954 einem deutschsprachigen Publikum das Land der 265 Käsesorten erklären wollte,1 gilt auch noch für den studentischen Protest der 1960er Jahre und die Umbrüche, die daraus folgten. In den USA, im westlichen Deutschland, in Italien und anderswo beherrschten neulinker Protest, studentischer Aufruhr und die Praktizierung alternativer Lebensformen schon lange die Schlagzeilen und die Gemüter, bevor sie Frankreich erreichten. Selbst als die verschiedenen Erscheinungsformen des studentischen Protests mancherorts schon ihre Höhepunkte überschritten hatten, war in der Grande Nation noch nichts davon zu spüren.
Im kalifornischen Berkeley kam es bereits im September 1964 zu einem Protest bürgerrechtlich bewegter Studenten, der landesweites Aufsehen erregte. Als sich die Universitätsleitung weigerte, politische Agitation auf dem Campus zuzulassen, reagierten die Studenten mit »Sit-ins« und der Besetzung des Verwaltungsgebäudes der Universität. Sie erkämpften sich damit nicht nur das Recht zur »freien Rede« auf dem Universitätsgelände, sondern schufen auch eine Plattform, um ihre Vorstellungen von einer »partizipativen Demokratie« zu propagieren. Gemeint war damit vor allem die Abschaffung der Diskriminierung der schwarzen Minderheit im amerikanischen Süden. Vom Frühjahr 1965 an verband sich dieses Engagement sowohl mit der Kritik am amerikanischen Kriegseinsatz in Vietnam als auch mit der Hippie-Kultur, die von San Francisco ausgegangen war. Die Bewegung, die daraus entstand, fand in dem »Marsch auf das Pentagon« im Oktober 1967 ihren spektakulärsten Ausdruck. Über 50.000 Teilnehmer verhalfen der Parole »Make love not war« zu weltweiter Popularität.
Parallel dazu machte sich »anti-imperialistischer« und anti-autoritärer Protest seit dem Sommer 1965 in West-Berlin bemerkbar, befeuert von den ebenso entschlossenen wie hochmoralischen Kampfaufrufen des Soziologie-Studenten Rudi Dutschke. Im Herbst 1966 begann in Westdeutschland (wie man die Bundesrepublik von Berlin aus zu nennen pflegte) der außerparlamentarische Kampf gegen die Notstandsgesetze, die die Regierung der Großen Koalition mit Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger und Willy Brandt als Außenminister auf den Weg brachte. Im Juni 1967 sorgte der Tod des Berliner Philologie-Studenten Benno Ohnesorg, erschossen von einem Polizeiobermeister bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien und dessen Regime, nicht nur für eine Radikalisierung, sondern auch für eine beträchtliche Ausweitung der Protestbewegung. Vom Sommer 1967 an beherrschten Demonstrationen, Protestaktionen und erregte Debatten über den revolutionären Kampf die Szenerie in den meisten deutschen Universitätsstädten, und die Medien verschafften ihnen landesweite Resonanz.
In Italien entzündete sich der Protest im Frühjahr 1965 an den Unzulänglichkeiten eines verrotteten Universitäts- und Schulsystems, dem die Mitte-links-Regierung unter Aldo Moro mit einem halbherzigen Reformplan zu begegnen versuchte. Auseinandersetzungen mit den militant auftretenden Neofaschisten und wachsender Einfluss einer neomarxistisch-anarchistischen Linken ließen die Protestbewegung 1966/67 zunehmend gewaltsamer und politischer werden. Am 1. März 1968 kulminierte die Konfrontation in der »Schlacht in der Valle Giulia«: einer gewaltsamen Auseinandersetzung Tausender Studenten der Sapienza-Universität in Rom mit einer hochgerüsteten Spezialeinheit der Polizei. In Anlehnung an Che Guevaras Forderung, »zwei, drei, ja viele Vietnams zu schaffen«, proklamierten die Aktivisten der Bewegung jetzt: »Schafft zwei, drei, viele Valle Giulias«. Radikale Studenten engagierten sich in den Streikbewegungen, die unter den unqualifizierten und gewerkschaftlich nicht organisierten Industriearbeitern um sich gegriffen hatten.
In Amsterdam machten 1965/66 die »Provos« von sich reden: eine anarchistische Aktionsgruppe, die aus der niederländischen Ostermarsch-Bewegung hervorgegangen war und den Zumutungen des Konsumkapitalismus mit bewusstseinsfördernden Happenings und »Weißen Plänen« begegnete. Ein »Weißer Fahrradplan« sah weiß lackierte Fahrräder im Zentrum von Amsterdam vor, die von jedermann kostenlos benutzt werden konnten und so alle Verkehrsprobleme der Stadt lösten; ein »Weißer Frauenplan« befasste sich mit Aufklärung und Sexualberatung; ein »Weißer Wohnungsplan« handelte von der Nutzung leerstehender Häuser und der Rettung alter Wohnbebauung und dergleichen mehr. Auch die Luftverschmutzung war ein Thema, dessen sich die »Provos« mit konkreten Vorschlägen annahmen. Das öffentliche Aufsehen, das sie mit solchen Forderungen und entsprechenden Auftritten erreichten, war groß; die Konfrontation mit der Staatsmacht hielt sich dagegen in engen Grenzen. Nachdem sich der Neuigkeitswert der Bewegung erschöpft hatte, erklärten die Aktivisten im Mai 1967 in einer weiteren ironischen Inszenierung ihren Tod. Die Bewusstseinsveränderungen, die sie angestoßen hatten, ließen sich freilich nicht mehr zurücknehmen.
Nichts von alledem fand Mitte der 1960er Jahre auch in Frankreich statt. Moralisch begründeten Protest hatte es hier in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren gegeben: Protest gegen Frankreichs Verwicklung in den Algerienkrieg. Aber nachdem Staatspräsident Charles de Gaulle den Rückzug aus Algerien durchgesetzt hatte, besiegelt im Vertrag von Évian im März 1962, hatte sich der Grund für diesen Protest erledigt. Engagierte Demokraten und gerade junge Leute unterstützten den Präsidenten im Kampf gegen putschende Militärs und Attentäter, die den Verlust der französischen Siedlungen in Algerien mit allen Mitteln verhindern wollten. Kritik am amerikanischen Imperialismus im Allgemeinen und an dem Krieg in Vietnam im Besonderen besorgte der Präsident höchstselbst; da fanden die Aktionen maoistischer Studentengruppen, die pflichtgemäß Solidarität mit dem Vietcong demonstrierten, kaum Resonanz.
Nachdem der Algerienkrieg beendet war, war Frankreich mit sich im Reinen. Der wirtschaftliche Aufschwung beschleunigte sich und bescherte den Franzosen die Segnungen der modernen Konsumgesellschaft. Die Aussöhnung mit dem deutschen Erbfeind – bekräftigt im Deutsch-Französischen Vertrag vom Januar 1963 – machte rasche Fortschritte, das Präsidialsystem der V. Republik, das de Gaulle bei einer ersten Zuspitzung des Algerienkonflikts 1958 durchgesetzt hatte, stabilisierte sich. Der General, wie seine Mitkämpfer den Präsidenten respektvoll nannten, nutzte einen Anschlag, den die anti-algerischen Untergrundkämpfer im August 1962 auf ihn verübten, um mit einem Referendum die Direktwahl des Staatspräsidenten einzuführen und die »Parteien von gestern«, die das politische Leben in der IV. Republik beherrscht hatten, gründlich zu dezimieren. In den Parlamentswahlen vom 18. und 25. November 1962 konnten die Gaullisten fast die absolute Mehrheit erreichen; zusammen mit den Unabhängigen Republikanern um Valéry Giscard d’Estaing konnten sie bequem regieren. Bei der Direktwahl des Staatspräsidenten im Dezember 1965 musste sich de Gaulle zwar einer Stichwahl stellen; er konnte sich dann aber im zweiten Wahlgang mit 54,5 Prozent gegen seinen Herausforderer François Mitterrand behaupten, der 45,4 Prozent auf sich vereinen konnte. Georges Pompidou, ein Gymnasialprofessor für französische Literatur, der eine Zeit lang als Direktor bei der Rothschild-Bank gearbeitet hatte, war damit in der Lage, den Kurs einer energischen Modernisierung fortzusetzen, den er seit dem Ende des Algerienkrieges als Premierminister de Gaulles betrieb.
Als de Gaulle im Januar 1968 seinen Sozialminister Jean-Marcel Jeanneney empfing, um mit ihm über die Probleme der überbordenden Bürokratie zu diskutieren, meinte dieser, dass, gemessen an den Fieberstürmen, die die USA erschütterten, in Frankreich doch alles ruhig sei.2 Den gleichen Eindruck vermittelte der Politische Redakteur von Le Monde, Pierre Viansson-Ponté, als er am 15. März 1968 eine Betrachtung über ein Land veröffentlichte, das in Langeweile erstarrt war:
»Die Franzosen langweilen sich. Sie nehmen weder von nah noch von fern an den großen Umwälzungen teil, die die Welt erschüttern. Der Vietnamkrieg regt sie auf, gewiss, aber er berührt sie nicht wirklich. […] Das Fernsehen wiederholt uns jeden Abend mindestens dreimal, dass zum ersten Mal seit bald dreißig Jahren in Frankreich Frieden herrscht und das Land nirgendwo auf der Welt in einen Konflikt verwickelt ist. […] Die Jugend langweilt sich. In Spanien, in Italien, in Belgien, in Algerien, in Japan, in Amerika, in Ägypten, in Deutschland und selbst in Polen demonstrieren die Studenten, sie gehen auf die...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2018 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Schlagworte | 1968 • 68 • 68er • Charles de Gaulle • Daniel Cohn-Bendit • Deutschland • Frankreich • Paris • Revolution |
ISBN-10 | 3-593-43888-7 / 3593438887 |
ISBN-13 | 978-3-593-43888-7 / 9783593438887 |
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