Verborgene Chronik 1915-1918 (eBook)
816 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31625-4 (ISBN)
Herbert Kapfer, Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk. Gemeinsam mit dem Institut Zeitgeschichte: Die Quellen sprechen, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Zahlreiche weitere Hör- und Buchveröffentlichungen.
Herbert Kapfer, Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk. Gemeinsam mit dem Institut Zeitgeschichte: Die Quellen sprechen, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Zahlreiche weitere Hör- und Buchveröffentlichungen. Lisbeth Exner, geboren 1964, lebt und arbeitet in München. Publizistin, Autorin zahlreicher Radioessays und Features, u. a über Christian Schad, Wolfgang Koeppen, Erika Mann. Bücher über Mynona, Grete Weil, Elisabeth von Österreich, Leopold von Sacher-Masoch. Gemeinsam mit Herbert Kapfer: Weltdada Huelsenbeck und Pfemfert. Erinnerungen und Abrechnungen.
Januar 1915
FREITAG, 1. JANUAR. Die Sonne leuchtet über dem leicht gefrorenen Boden. Ich fahre nach Selens, wie ein kleines deutsches Dorf schmiegt sich der Flecken mit seiner langen Dorfstraße in das enge Tal. Die Kirche reicht gerade für die Mannschaften aus. Die Sonne blinkt und blitzt auf dem Gold der Marienfiguren, auf dem Boden leuchten rote Flecken von den Kirchenfenstern her. Das war der Ton, der durch meine Ansprache hindurchklang: Viel Schweres liegt hinter uns, aber das Neue, Unbekannte schreckt uns nicht. Die Erfolge von 14 geben uns die Zuversicht für einen baldigen Sieg. Wir leben hier alle von der Zukunft. Was unsere Operationen hier aufhält, ist der milde, nasse Winter. Auch haben wir ganz wenig Munition! Aber mit dem Frühjahr wird es wohl dem Ende zugehen, auf das alle lauern. Jeder will durchhalten bis aufs Letzte und fragt deshalb nicht nach sich. Aber der Landmann denkt an seine bestellten Felder, der Kaufmann an sein Frühjahrsgeschäft und alle an ihre Frauen. Ostern, spätestens Pfingsten werden wir daheim sein. Dieses stete Nur-Mann-zu-Mann-sein-Dürfen ist manchmal schwer. Man weiß ja, man hat noch etwas anderes in sich, das auch leben will, aber wann darf man darüber sprechen? Wir fühlen es wohl einer am anderen ab: Nun denkt er an daheim und wünscht sich Frauenarme um seinen Hals, aber es kommt doch niemals zu einem anderen Ausdruck als: Die daheim haben es schwer, und manch einer, der recht forsch sein will, macht dann eine rohe Bemerkung.
SAMSTAG, 2. JANUAR. Auf den beiden Kriegsfronten geht es überall langsam vorwärts, der entsetzliche Schmutz, der herrscht, und der fortwährende Regen erschweren das Vorwärtskommen sehr. In Polen stehen unsere Truppen kurz vor Warschau. Im Westen wird jetzt etwas mehr als bisher gekämpft. Zu Weihnachten wollten die Franzosen unsere Reihen durchbrechen, es ist ihnen aber nicht gelungen, im Gegenteil, wir gehen immer stückweise vorwärts. Die Zukunft liegt so dunkel vor uns, doch an Vertrauen und Mut fehlt es nicht.
SONNTAG, 3. JANUAR. Einen schweren Schlag erlitt ich gestern durch die Nachricht, dass die Pension, die mir zusteht, nur 800 M beträgt und nicht 1600, wie mir mein Lieb bei seinem letzten Hiersein sagte. So bin ich nun auf einen Erwerb angewiesen, um mich und die Kinder durchzubringen.
MONTAG, 4. JANUAR. Heftig anhaltender Regen. Geben den Infanteristen Brot und Schmalz, da diese nichts haben.
DIENSTAG, 5. JANUAR. Es liegt eine ganz dünne Schneeschicht, sodass es auf den Feldern weiß ist. Stets bedeckter Himmel, wenig Wind. Möge es in Russland bei unseren Lieben auch so sein. Der liebe Gott stehe uns bei und gebe einen milden Winter auch dort. Für Frankreich würde es umgekehrt besser sein, damit die Schwarzen und die Lumpen Inder erfrieren.
MITTWOCH, 6. JANUAR. Nördlich Arras 300 m Schützengraben genommen. Hochwasser überall im besetzten Gebiet. Das regnerische Wetter wirkt sehr deprimierend auf die Etappenstellen, besonders das in aufreibenden Diensten stehende Bahnpersonal.
DONNERSTAG, 7. JANUAR. Tag und Nacht im Schützengraben. Wir suchen Unterkunft in den verlassenen Häusern. Im Gebirge vor uns französische Esel-Batterien, beschießen das Dorf. Schwerer Artilleriekampf. Sennheim und Uffholtz brennen.
FREITAG, 8. JANUAR. Leuchtraketen werden von beiden Seiten abgeschossen und erhellen das Gelände taghell. Schön machen sich die französischen, dieselben sind mit einem Fallschirm versehen und halten sich bis zum Verlöschen in der Luft, haben aber den Nachteil, dass sie nicht sofort beim Abschießen leuchten. Links von uns ist schwerer Geschützkampf, vermischt mit Gewehr- und Maschinengewehrfeuer. Auch wir werden stark unter Feuer genommen.
SAMSTAG, 9. JANUAR. In der Schule sind hundert Zivilgefangene untergebracht. Den armen Kerls geht es schlimm, sie haben direkt eine preußische Rekrutenzeit mitzumachen: nachts revidiert Antreten im Hof, morgens Üben im Bettenbau, mittags großes Reinemachen, Umstellen der Betten, heute in die Ecke, morgen in die andere, alles unter Aufsicht des Oberleutnants.
SONNTAG, 10. JANUAR. Verabschiedung unseres guten unvergesslichen Herrn Hauptmann. Jedem drückte er die Hand, und fast jeder weinte, er selbst auch, und das letzte »Ade, Kameraden!« konnte er nur mehr mit tränenerstickter Stimme hervorbringen. Wir haben ihn nun verloren, er ist fort. Ob nicht mit ihm auch unser Glück?
MONTAG, 11. JANUAR. Am Mittage wegen Beerdigung im Krankenauto nach Nouvron. Endlich lerne ich nun die Kriegswüste kennen. Es ist nicht nur Öde, Leere, Zerstörung in der Stadt, sondern dort herrscht das Grauen. In die halb zerfallenen und zerschossenen Häuser fallen die Gewehrgeschosse und prallen, einen frischen hellen Fleck im dunklen Sandstein zurücklassend, wieder ab. An der Kirche vorbei – es ragt nur noch der Turm empor, und an der einen Wand hängt allen Zerstörungen zum Trotz noch ein Kruzifix – liegt der kleine Friedhof mit den neuen Steinen, aber er muss wohl aufgegeben werden. In einer Scheune mit zerfetztem Dach liegt auf dem halb verfaulten Heu die Leiche, man hat ihr die Stiefel ausgezogen und eine Zeltplane darum gelegt. Zwei Gruppen von Kameraden kamen aus dem Graben, nass und lehmbespritzt. Im halbdunklen Raum stehen wir, die Kugeln schwirren über uns hinweg, ab und zu schlägt eine Granate schwer ins Tal. Was soll man sagen, wenn man selbst ganz erschüttert unter all der Trostlosigkeit steht?! Was helfen da Worte von Ehre und Vaterland? Vielleicht war das Beste der Händedruck, den ich allen am Grabe gab, weil mir nichts Besseres einfiel!
DIENSTAG, 12. JANUAR. Unser Liebling, der so pflichtgetreue, zärtliche Dolli ist uns entrissen, in Erfüllung seiner Soldatenpflicht gefallen!
MITTWOCH, 13. JANUAR. Mein Herz ist oft so schwer, dass ich unzufrieden und missmutig bin. Und dann möchte ich jubeln, dass das Glück doch mein ist. Ich bin ja noch jung. Ich muss nur Geduld haben und warten, bis es kommt und ich den hellen Schein, der in mir brennt, nicht mehr verbergen muss.
DONNERSTAG, 14. JANUAR. Großes Artillerieduell. Ich hatte für den Materialtransport zu sorgen, da die neuen Feldwachen mit Unterständen versehen werden sollten. Der Transport war sehr schwierig, da das Holz 14 km rückwärts der neuen Stellung vom Hautonnerie-Wald auf klapprigen Wagen auf grundlosen Wegen herangefahren werden musste. Als die Feldwachen, die 2 bis 4 km von Éply entfernt lagen, in unserem unumstrittenen Besitz waren, setzte die Tätigkeit der Pioniere ein. Ich brachte das Material mit 160 Infanteristen tunlichst lautlos vor, teils auf Wagen, teils auf den Schultern. Das Material bestand aus 4,5 m langen Balken, hölzernen 1 qm großen Holzblenden, Dachpappe, Brettern, Pfählen zu Drahthindernissen, Stacheldraht, stählernen Kopfblenden. Um unseren Holzbestand zu erhöhen, sägten unsere Pioniere unter Techniker Krohn die 10 m langen Masten der elektrischen Überlandzentrale um.
FREITAG, 15. JANUAR. Bei der Leichenhalle versammelt. Ein Leichenwagen mit weißem Behang führt den Sarg zu dem eine halbe Stunde südlich der Kaserne, am Fuße eines Berges gelegenen Grabe. Die Offiziere und ein Zug russischer Infanterie folgen dem Wagen. Vier Kameraden senken den Sarg ins Grab, die Infanterie gibt drei Salven ab. Der Feldkurat Dr. Dresel widmet in schlichten Worten dem Verblichenen einen warmen Nachruf. Mit dem Vortrage des Liedes ›Es ist bestimmt in Gottes Rat‹ schließt die ergreifende Feier. – Russische Telegramme: Deutsche Flieger versuchten Paris anzugreifen, wurden aber von französischen Fliegern daran gehindert. Gnadiev ist nach zweitägigem Aufenthalte in Rom in Bukarest eingetroffen. Der Kreuzer ›Midilli‹, der einen Transport nach Trapezunt begleitet, wurde von den Russen angegriffen, der Kreuzer entkam, der Transport wurde versenkt. Die Kreuzer ›Breslau‹ und ›Hamidiye‹ griffen ein russisches Geschwader ohne Erfolg an.
SAMSTAG, 16. JANUAR. Traf in Comines bei der Sanitätskompanie ein. Belgisch-Comines selbst, das durch die Lys und einen Nebenarm von Französisch-Comines getrennt ist, zeigte an manchen Häusern Spuren der Granatbeschießung. Im Übrigen bot die von Soldaten wimmelnde Stadt ein friedliches Bild. In einem Laden drängten sich die Soldaten, weil Pommes frites gebacken wurden. Militärmusik spielte gerade vor der neuen großen Kirche, in der der Pionierpark untergebracht ist. Als ich mich auf dem Hauptverbandplatz der 4. Division in der Rue de Wervicq meldete, traf ich meinen neuen Chef, Oberstabsarzt Schmidt, gerade beim...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2017 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Alltag • Berichte • Erfahrungen • Erster Weltkrieg • Gesellschaft • Kollektiv • Krieg • Politik • Schicksal • Tagebuch |
ISBN-10 | 3-462-31625-7 / 3462316257 |
ISBN-13 | 978-3-462-31625-4 / 9783462316254 |
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