Die Politik der Demütigung (eBook)
336 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490201-2 (ISBN)
Ute Frevert zählt zu den wichtigsten deutschen Historikern. Sie lehrte Neuere Geschichte in Berlin, Konstanz und Bielefeld. Von 2003 bis 2007 war sie Professorin an der Yale University, seit 2008 leitet sie den Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle« am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Sie wurde 1998 von der DFG mit dem renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnet, 2016 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen. 2020 erhielt Ute Frevert den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.
Ute Frevert zählt zu den wichtigsten deutschen Historikern. Sie lehrte Neuere Geschichte in Berlin, Konstanz und Bielefeld. Von 2003 bis 2007 war sie Professorin an der Yale University, seit 2008 leitet sie den Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle« am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Sie wurde 1998 von der DFG mit dem renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnet, 2016 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen. 2020 erhielt Ute Frevert den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.
Glänzend geschrieben und anschaulich bebildert.
Ute Frevert erzählt elegant, pointiert und packend.
Die Stärke des Buchs liegt darin, Hate-Speech in einen historischen Kontext einzuordnen und daraus zu lernen.
Bei Ute Frevert werden die vielen Konstanten der Geschichte der Demütigung sichtbar
Frevert hat eine eindrucksvolle Studie über Praktiken der politischen Demütigung in Europa seit dem 18. Jahrhundert verfasst.
Ute Frevert hält immer eine gesunde Balance zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit. Eine Fülle von Anekdoten illustriert den Wandel der letzten 250 Jahre.
Schand- und Ehrenstrafen in der frühen Neuzeit
Das entsprach der landläufigen Praxis von Schand- und Ehrenstrafen, wie sie aus der Vergangenheit überliefert war. Seit etwa 1200 tauchen Pranger in den europäischen Gerichtsquellen auf, vorzugsweise zur Bestrafung von Diebstahls- und Sexualdelikten. Um 1600 musste in München ein Verurteilter an drei aufeinanderfolgenden Sonn- oder Feiertagen jeweils ungefähr zwei Stunden lang am oder im Pranger stehen.[35] Das bedeutete, der Öffentlichkeit unmittelbar ausgesetzt zu sein. In der Tat sparten Anwesende und Passanten nicht mit Ausdrücken oder Gesten der Verachtung und Missbilligung. Je nach angezeigtem Vergehen wurden Straftäter beschimpft, angespuckt oder mit verdorbenen Nahrungsmitteln und Fäkalien beworfen.[36] Als 1780 zwei Männer in London wegen »sodomitischer Handlungen« – eine Umschreibung von Homosexualität – im Stock standen, wurden sie durch aus dem Publikum fliegende Steine schwer verletzt. Von mehr als 20000 Menschen war die Rede, die dem Akt der Beschämung (»public shame«) beiwohnten und ihrer Empörung über das »abscheuliche« und »unaussprechliche« Verbrechen freien Lauf ließen. Wenngleich der konservative Parlamentarier Edmund Burke in das moralische Urteil einstimmte, gingen ihm die Folgen des kollektiven Ressentiments zu weit. Im Unterhaus verwahrte er sich gegen die Pervertierung des Prangers von einem »instrument of reproach and shame« zu einem Werkzeug des Todes und des Mordens.[37]
Strafen vor großem Publikum zu vollstrecken war damals nichts Ungewöhnliches. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden Hinrichtungen öffentlich vollzogen. In Preußen verlegte sie erst das Strafgesetzbuch von 1851 hinter Gefängnismauern, Großbritannien folgte 1868, die Niederlande 1870. In Frankreich fand die letzte öffentliche Enthauptung 1939 statt. Nach traditioneller Auffassung hatten sich Verbrecher gegen die soziale Ordnung und den öffentlichen Frieden vergangen. Deshalb sei es nur recht und billig, sie vor den Augen der Öffentlichkeit zu bestrafen. Das Publikum war dabei Zuschauer und Teilnehmer zugleich: Seine physische Anwesenheit ebenso wie seine emotional-moralische Mitwirkung sollten den Richterspruch bestätigen und rechtfertigen. Außerdem hoffte man auf eine abschreckende Wirkung: Die Angst vor beschämender Strafe, hieß es, würde von ähnlichen Taten abhalten.[38]
Dass das öffentliche Ausstellen als Beschämung gemeint war, ist vielfach verbürgt. Nicht allein Burke sprach 1780 vom Pranger als »punishment of shame«. Seit dem späten Mittelalter verhängten niedere und höhere Gerichte sogenannte Schand- und Ehrenstrafen, die den Verurteilten »große schand und schmachhait« brachten; so schrieb es der Augsburger Stadtchronist 1462 auf.[39] Wurde die Prangerstrafe, wie in der frühen Neuzeit zunehmend üblich, vom Henker vollstreckt, reichte schon dessen Berührung, um den Verurteilten ehrlos zu machen. Aber auch die gelinderen Schandstrafen, die ein Gerichtsdiener verabreichte, entfalteten eine beschämende, ehrmindernde Wirkung.[40]
Darin ähnelten sie den Kirchenbußen, die zunächst im Rahmen der Gründonnerstagsliturgie, später auch an normalen Sonn- und Feiertagen anberaumt wurden. Bis ins 16. Jahrhundert hinein hatten sich Sünder, Männer wie Frauen, barfuß und in grobem Tuch vor dem Altar niedergeworfen, um die Vergebung des Herrn zu erlangen. Später wurden solche Selbstdemütigungen seltener; dafür erfand man öffentliche Zurschaustellungen als Buße für Totschlag, Wucher, Blasphemie, Brandstiftung, Ehebruch, Unzucht und andere Vergehen. Wer sie begangen hatte, musste im Büßergewand vor der Kirche stehen, während die Gemeinde sich zum Gottesdienst versammelte, oder der Sonntagsprozession mit einer Kerze voranlaufen. In der Kirche bekam er oder sie einen besonderen Platz zugewiesen. Bei Abschluss des Verfahrens galten die Büßer als ›emendiert‹, als gebessert und von ihren Sünden befreit, und fügten sich wieder in die Gemeinschaft der Gläubigen ein.[41]
Die weltliche Gerichtsbarkeit, wie sie im Zeichen frühneuzeitlicher Staatsbildung entstand, sah sich einiges von kirchlichen Bußritualen ab. Auch sie legte Wert darauf, Missetäter für ihre Normverstöße so zur Rechenschaft zu ziehen, dass die Geltung der betreffenden Norm öffentlich bestätigt wurde. Dem gleichen Muster folgten die aus vielen Regionen Europas bekannten kommunalen Rügebräuche. Sie beschämten jene, die soziale Regeln und Konventionen gebrochen hatten, und gaben sie der Lächerlichkeit preis. In England mussten sich Frauen, die ihre Männer schlugen, einem sogenannten skimmington ride unterziehen: Sie (manchmal auch die verprügelten Ehegatten) wurden rücklings auf einen Esel gesetzt und durch die Nachbarschaft paradiert, zum Gespött all derer, die die Prozession mit Topfschlagen und rough music begleiteten. Als 1604 ein solcher Ritt im ostenglischen Suffolk stattfand, gaben die Teilnehmer zu Protokoll, er diene nicht nur zur Beschämung der Frau, die sich gegen ihren Mann vergangen habe, sondern auch zur Warnung an alle Frauen, die soziale Ordnung nicht in gleicher Weise zu verletzen.[42]
Ein skimmington ride (Druck von William Hogarth, vermutlich 1726)
Beschämungen in Gestalt von Katzenmusiken oder Charivaris fanden auch in Frankreich begeisterte Anhänger. Vor allem junge Männer fühlten sich berechtigt, soziale Regelverstöße zu ahnden, indem sie Übeltätern öffentlich den Marsch bliesen. In Städten standen dominierende Ehefrauen und ihre gedemütigten Männer im Fadenkreuz; auf Dörfern wurden besonders Witwen und Witwer, die eine neue Ehe eingingen, zu Opfern der Charivaris.[43] Frauen, die nach dem Tod ihres Mannes nicht wieder heirateten und dennoch Sex hatten, fielen ebenfalls der öffentlichen Rüge anheim. 1721 ordneten Kirchen- und Gemeindevorsteher im schottischen Dumfriesshire an, die jüngst verwitwete Jenny Forsyth in ein Knebeleisen zu stecken, da ihr Umgang mit einem anderen Mann Schande über ihre Familie und Nachbarn gebracht habe. Mehrere Frauen aus dem Kirchspiel versammelten sich daraufhin vor Jennys Haus, krakeelten und polterten, schlugen Töpfe und Pfannen zusammen. Dann holten sie die junge Witwe, die sich heftig wehrte, mit Gewalt heraus, passten ihr die Knebeleisen an und führten sie durch die belebten Straßen. Davon ließen sie erst ab, als das Opfer schwor, sich in Zukunft anständig und gottesfürchtig zu benehmen.[44]
Obwohl die Beschämung ›von oben‹ verfügt worden war und damit einer obrigkeitlich verhängten Strafe gleichkam, erinnerte ihre Ausführung an klassische, ›von unten‹ initiierte Rügebräuche. Selbst dort, wo Gerichtsdiener oder Stadtknechte die Strafe exekutierten und dem Urteilsspruch eines ordentlichen Gerichts folgten, blieb die lokale Öffentlichkeit aktiv beteiligt. Ohne sie war der Vollzug von Schand- und Ehrenstrafen undenkbar, denn Beschämung funktionierte nur in Anwesenheit Dritter. Von und vor ihnen mit »offentlichen spott und straff« überhäuft zu werden, wie es ein Verurteilter 1728 formulierte, war mehr als bitter.[45] Es minderte die Ehre und das Ansehen der ausgestellten Person und ließ sie die Verachtung der sozialen Umwelt am eigenen Leib spüren.
Diese Verachtung wog schwer in Gesellschaften, die Menschen vorrangig als Angehörige sozialer Gruppen, Korporationen oder ständischer Gemeinschaften wahrnahmen und behandelten. Wer sich gegen deren Normen verging, bekam die Sanktionsmacht des Kollektivs zu spüren. Sich dagegen zu wehren oder in eine andere Gruppe zu wechseln war kaum möglich. Personen, die mit Ehrenstrafen belegt wurden, blieb meist nur die Wahl, den Ort zu verlassen, was bei manchen Strafen bereits inbegriffen war. Hatten sie am Pranger gestanden, erhielten sie häufig auch einen Stadt- oder gar Landesverweis und wurden mit Rutenstreichen vertrieben. Doch die Kunde der Entehrung reiste zuweilen ebenso schnell wie das Opfer. So beschwerte sich im späten 18. Jahrhundert eine Pariser Obsthändlerin bei der Polizei über eine Konkurrentin, die herumtratschte, dass die Händlerin in ihrer Herkunftsprovinz ausgepeitscht und gebrandmarkt worden sei. Das Stigma der Ehrlosigkeit haftete also auch dann, wenn man dem Ort seiner Schande den Rücken kehrte.[46]
Und es hatte materielle Konsequenzen, nicht nur bei der Geschäftsfrau, die sich um Käufer geprellt sah. Mägde, die unehelich Kinder geboren und deshalb am Pranger gestanden hatten, verloren ihren Dienst, und zwar nicht etwa wegen ihrer Mutterschaft, sondern weil sie »prangen« mussten und »öffentlich gebrandmarkt« waren.[47] Zünfte und Gilden achteten sorgfältig darauf, in ihren Reihen nur ehrbare und ehrenwerte Mitglieder zu führen. Eine Ausstellung auf der Schandbühne vertrug sich nicht mit ihren Ehrbegriffen. Im Erzstift Salzburg verlegten sich Richter im 18. Jahrhundert darauf, Handwerker nicht mehr zur »Prechlstellung« zu verurteilen, und begründeten das damit, dass »alle die, welche im Precher gestanden, aus ihren Zünfften« ausgestoßen würden.[48]
Ohnehin gingen die Gerichte mit Ehrenstrafen eher zurückhaltend um. In der Reichsstadt Köln musste im 16. Jahrhundert...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2017 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 18. Jahrhundert • 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Beschämung • Deutsches Kaiserreich • Diplomatie • Ehre • Emotionen • Entschuldigung • Erniedrigung • Erziehung • Gefühl • Geschlecht • Gewalt • Initiation • Internationale Beziehungen • Internet • Körper • Kotau • Medien • Menschenwürde • Militär • Moralpolitik • Nationalsozialismus • Öffentlichkeit • Pädagogik • Pranger • Preußen • Prügelstrafe • Scham • Schande • Staatsbürger • Strafrecht • Unterwerfung • Zivilisierung |
ISBN-10 | 3-10-490201-1 / 3104902011 |
ISBN-13 | 978-3-10-490201-2 / 9783104902012 |
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