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Die Heimat der Wölfe (eBook)

Ein Kriegsenkel auf den Spuren seiner Familie. Eine Familienchronik.
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
224 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-039-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Heimat der Wölfe -  Raymond Unger
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Eine Familienchronik und Autobiografie von großer emotionaler Wucht. Die Auswirkungen von verdrängten traumatischen Erfahrungen sind vielen Menschen nicht bewusst, doch sie vererben sich auf die nächste Generation und üben bis in die Gegenwart einen starken Einfluss auf die persönliche Biografie aus. Sehr oft sind sie der Schlüssel, um das eigene Leben besser zu verstehen. Raymond Unger legt in Die Heimat der Wölfe offen, worüber in den meisten Familien nicht gesprochen wurde und wonach man heute kaum noch fragen kann, da es bald niemanden mehr gibt, der die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, Flucht und Vertreibung selbst erlebt hat. Eindringlich schildert er anhand seiner eigenen Familiengeschichte, wie die Generation der Kriegskinder traumatisiert wurde und dadurch ihren eigenen Kindern - die heute zwischen 40 und 65 Jahre alt sind - häufig nur verschlossen, körperlich/seelisch unnahbar und wenig empathisch begegnen konnte. 'Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird dich, was du hervorbringst, erretten. Bringst du nicht hervor, was in dir ist, wird dich, was du nicht hervorbringst, zerstören. ' Aus dem gnostischen Thomas-Evangelium Erste literarische Auseinandersetzung mit der Thematik Kriegsenkel Haben die traumatischen Erlebnisse von Eltern und Großeltern Einfluss auf die nachfolgende Generation? Gibt es ein transgenerationales Erbe? Raymond Unger, angesehener Berliner Künstler und Therapeut, hat sich anhand von persönlichen Erinnerungen, Tagebüchern und Tonbandaufzeichnungen intensiv mit der Chronik seiner Familie und den Kriegstraumata seiner Eltern auseinandergesetzt. Es ist ihm gelungen, das Schicksal der Kriegsenkel in literarischer Form zu verarbeiten und seinen Lesern damit einen Spiegel für die eigene Reflexion anzubieten. Seine glänzend erzählte Familienchronik verdichtet er zu einem Gesamtbild großer Themen des 20. Jahrhunderts.

Raymond Unger, Jahrgang 1963, lebt als politischer Autor und bildender Künstler in Berlin. Er ist als Kunstmaler in eigenem Atelier tätig, schreibt Essays und Bücher und hält Vorträge zu den Themen Kunst, Psychologie und Politik. In seinen großen Gesellschaftsanalysen 'Die Wiedergutmacher' (2018, Europa Verlag), 'Vom Verlust der Freiheit' (2021, Europa Verlag) und 'Das Impfbuch' (2021, Scorpio Verlag) untersucht Unger die moralischen Übersteuerungen deutscher Politikansätze in der Klima-, Migrations- und Pandemie-Problematik. Als ehemaliger Therapeut besitzt Unger zwanzig Jahre medizinische Berufserfahrung. Anfang der 1990er-Jahre leitete er eine Naturheil- und Psychotherapiepraxis in Hamburg und bekleidete eine Dozentur für Naturmedizin an einer Hamburger Fachschule für Heilpraktiker. Für sein bildnerisches Schaffen erhielt Raymond Unger 2011 den internationalen Lucas-Cranach-Kunstpreis für Malerei. In seiner Eigenschaft als Maler und Autor bekam er 2014 eine Einladung des Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso zur dritten Generalversammlung NEW (Narrative for Europe). Die Einladung erging an ausgewählte Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler, die sich durch Haltung, Engagement oder Tätigkeit für die Zukunft Europas einsetzen.

Raymond Unger, Jahrgang 1963, lebt als politischer Autor und bildender Künstler in Berlin. Er ist als Kunstmaler in eigenem Atelier tätig, schreibt Essays und Bücher und hält Vorträge zu den Themen Kunst, Psychologie und Politik. In seinen großen Gesellschaftsanalysen "Die Wiedergutmacher" (2018, Europa Verlag), "Vom Verlust der Freiheit" (2021, Europa Verlag) und "Das Impfbuch" (2021, Scorpio Verlag) untersucht Unger die moralischen Übersteuerungen deutscher Politikansätze in der Klima-, Migrations- und Pandemie-Problematik. Als ehemaliger Therapeut besitzt Unger zwanzig Jahre medizinische Berufserfahrung. Anfang der 1990er-Jahre leitete er eine Naturheil- und Psychotherapiepraxis in Hamburg und bekleidete eine Dozentur für Naturmedizin an einer Hamburger Fachschule für Heilpraktiker. Für sein bildnerisches Schaffen erhielt Raymond Unger 2011 den internationalen Lucas-Cranach-Kunstpreis für Malerei. In seiner Eigenschaft als Maler und Autor bekam er 2014 eine Einladung des Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso zur dritten Generalversammlung NEW (Narrative for Europe). Die Einladung erging an ausgewählte Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler, die sich durch Haltung, Engagement oder Tätigkeit für die Zukunft Europas einsetzen.

WOLFSWINTER
| 1924 | Fürstenfeld, Bessarabien


An die Wölfe Bessarabiens hatten sich die deutschen Kolonisten längst gewöhnt. Es waren ohnehin nicht mehr viele. Seit fast zwei Jahrhunderten wurden Wölfe getötet, wo immer man auf sie traf. Sie wurden in Wolfsgruben gefangen und mit Mistgabeln erstochen oder einfach mit Knüppeln erschlagen. Gewehre waren nicht verbreitet unter den Bauern. Wer aber ein Gewehr besaß, nutzte es vor allem für die Wolfsjagd.

In einem Wolfswinter jedoch war es anders. In diesem besonders harten Winter fror der Dnister zu. Damit dieser schnell fließende Grenzfluss zu Russland zufrieren konnte, mussten die Temperaturen über Wochen unter minus 20 Grad fallen. Dies geschah immerhin alle drei bis vier Jahre, und dann kamen sie aus Russland über den Fluss: große, ausgehungerte Wolfsrudel, manchmal zwanzig Tiere auf einmal.

Wilhelmines Mutter sollte Recht behalten, dieser Winter war ein Wolfswinter. Schon im Herbst hatte die Mutter prophezeit, dass der Winter hart werden würde. Eben hatte Wilhelmine die Kuh versorgt und die große Schneeschaufel vorsichtshalber gleich mit ins Haus genommen. Rasch tropfte jetzt der Schnee von der Schaufel, denn sie lehnte an der heißen Ofenwand.

Jedes deutsche Haus in Bessarabien hatte so eine Wand, hinter der sich ein besonderer Ofen verbarg. Niemand wusste, wer zuerst angefangen hatte, solche Öfen zu bauen. Aber ohne diese trickreichen Öfen wäre das Überleben im Winter wohl nur schwer möglich gewesen. Die zentrale Stützwand deutsch-bessarabischer Häuser war hohl beziehungsweise eine Doppelwand. An der Stirnseite gab es mächtige Eisenbeschläge mit einer schweren Feuertür. Diese Brennstelle fasste große Mengen Holz. Doch dieses Holz brannte nicht einfach schnell ab. In der Wand schlang sich ein ausgeklügeltes Schornstein-Labyrinth bis nach oben zum Dach. Der Rauch wurde dabei mehrfach innerhalb der Wand umgeleitet, bis er seinen Weg ins Freie fand. Bereits eine Holzladung reichte aus, dass das Mauerwerk die Hitze die ganze Nacht hindurch speicherte und es dadurch bis zum nächsten Morgen behaglich warm blieb.

In den letzten zwei Wochen hatte es so viel geschneit, dass die Wege über den Hof an Schützengräben erinnerten. Ein schmaler Gang führte quer über den Hof zur Scheune, ein anderer am Haus entlang zu den Ställen. Jeden Tag aufs Neue mussten Wilhelmines Brüder die Zugänge freihalten. Nur den Weg zur Sommerküche, schräg gegenüber, sparten sie sich. Schon im Herbst wurde die Großküche aufgegeben, bis zum April würde sie Winterschlaf halten. Mitunter verwehten die Wege in der Nacht so stark, dass die Brüder morgens ganz schön schuften mussten, damit Wilhelmine überhaupt die Kuh melken konnte. Doch in den letzten zwei Tagen hatten sie überraschend wenig zu tun, denn es war für wenige Stunden so warm geworden, dass der Schnee kurz antaute. Dadurch hatte sich eine feste Harschschicht gebildet, und nun lagen die enormen Schneemassen wie versiegelt da. Umso besser, dachten sich die Brüder, denn verwehen konnte der Schnee nun nicht mehr. Aber auch diese Besonderheit hatte einen Nachteil, wie sich bald herausstellen würde.

In dieser Nacht wurde es kälter als jemals zuvor. Die schwache Sonne war soeben untergegangen; der Himmel erschien kristallklar. Das helle Mondlicht fiel auf den Schnee und war kaum von der fahlen Tagessonne zu unterscheiden. Wäre jetzt einer der Dorfbewohner draußen gewesen, er hätte ein merkwürdiges Schauspiel beobachten können: Ohne dass es einer mitbekommen hatte, befand sich das Dorf bereits seit Tagen in einem Belagerungszustand. Auf dem kleinen Hügel jenseits des Ortes hatte sich eine Reihe dunkler Gestalten versammelt. Selbstsicher und ohne die geringsten Anzeichen von Unruhe saßen sie im Schnee, den Blick starr auf das Dorf gerichtet. Die Ohren steil nach vorn gestellt, nahmen sie jedes Geräusch von dort auf. Nichts entging dem Rudel. Das Geklapper aus den Küchen, die Stimmen der Menschen, die Ketten der Tiere in den Ställen. Keiner aus der Gruppe schien es eilig zu haben. Und keiner schien sich verstecken zu wollen. Warum auch? Bislang jedenfalls hatte sie noch niemand gestört auf ihrem Horchposten, dem kleinen Hügel hinter dem Weinberg. Hunderte Kilometer hatte das Wolfsrudel bereits hinter sich gebracht. Die Tiere waren von der langen Wanderung abgemagert, aber immer noch kraftvoll. In diesem kleinen Ort gab es etwas, dass ihren Wandertrieb unvermittelt gestoppt hatte. Wie ein unsichtbarer Magnet zog der unwiderstehliche Geruch von Schafdung das ausgehungerte Rudel an den Hügel. Langsam wurde es ruhig im Dorf. Mit den fallenden Temperaturen schienen auch die Geräusche des Ortes zu verstummen. Plötzlich, gegen Mitternacht, lief der Leitwolf den Hügel hinab, ganz so, als hätte er eine Entscheidung getroffen. Leichtfüßig und im Trab folgten die anderen Wölfe nach. Nur ab und zu brach mal eine Pfote durch die Eisschicht auf dem Schnee, wovon die Tiere sich jedoch nicht aufhalten ließen.

Wilhelmine schlief noch nicht. Jetzt im Winter genoss sie es, lange wach zu liegen und ihren Gedanken nachzuhängen. Im Sommer war das undenkbar. Da war sie gerade mal eingeschlafen, schon hörte sie um halb vier Uhr morgens den Vater vor ihrer Kammer: »Steh uff! S’isch hell Dag!« Nach dem ersten Weckruf hatte sie höchstens drei Minuten Zeit zum Aufstehen, sonst kam die Steigerung: »Steh uff, sag ich! Der Kühhirt knallt scho!« Und sosehr Wilhelmines Muskeln auch schmerzten und brannten von der Feldarbeit, sosehr der junge Körper auch nach Ruhe schrie – es gab keinen Aufschub. Die Lider noch fast geschlossen, taumelte sie in den Stall, lehnte den Kopf an das warme Fell und füllte den Milcheimer. Alles andere wäre eine große Schande gewesen. Wollte sie etwa ein »faules Mädchen« sein? Eine, die die Kuh durch den ganzen Ort auf die Weide »nachtreiben« musste? Sicher nicht. Das ganze Dorf hätte über sie gespottet. Junge Mädchen, die es nicht mal schafften, die Kuh rechtzeitig zu melken, damit der Sammelhirte sie auf die Kuhweide mitnehmen konnte, waren gewiss keine gute Partie … Wilhelmine schaffte es immer. Nicht ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie die Kuh auf die Weide nachtreiben müssen, und darauf war sie sehr stolz.

Doch jetzt im Winter war alles anders. Man hatte Zeit. Die Kuh blieb ohnehin im Stall, und die Nacht war lang. Wilhelmine dachte nach. Die aufregende Veranstaltung der »Sabbatianer« ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Gegen den Willen ihrer Mutter hatte sie daran teilgenommen. Die Versammlung wurde von einem großen, gut aussehenden Mann mit stahlblauen Augen geleitet. Dieser Mann kam extra aus Amerika ins abgelegene Bessarabien angereist, um die Wahrheit zu verkünden. Und was er zu sagen hatte, war für Wilhelmine neu und überaus spannend gewesen. So hatte er erklärt, dass der Sonntag der falsche heilige Tag sei. Gott hatte dafür eigentlich den Samstag bestimmt, und so würde es auch in der Bibel stehen. Konnte das wirklich wahr sein? Wilhelmine ließ das keine Ruhe. Und wenn das wirklich stimmte, wäre dann auch alles andere wahr? Dass in der Bibel stand, Gott wollte nicht, dass die Menschen Schweinefleisch essen? Wilhelmine hatte direkt nach der Veranstaltung die einzige Autorität gefragt, die es im Ort gab: den Pfarrer, der zugleich ihr Schullehrer war. Der sollte es wohl wissen. Der Pfarrer hatte laut aufgelacht und gesagt, das mit dem Samstag sei großer Blödsinn. Und das würde er jetzt und hier sogleich beweisen. Dann hatte er sich seine Nickelbrille aufgesetzt, die Bibel zur Hand genommen, seinen Zeigefinger angeleckt und die zehn Gebote aufgeschlagen. Mit kräftiger Stimme begann er vorzulesen: »Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der …«, plötzlich murmelte der Pfarrer nur noch. Wilhelmine konnte ihn kaum verstehen. Unvermittelt schlug er die Bibel zu, warf den Kopf nach hinten und schritt wortlos von dannen. Seit dieser Geschichte wusste Wilhelmine, dass der Pfarrer gelogen hatte. Und dass der Mann mit den schönen blauen Augen die Wahrheit gesagt hatte.

Dann passierte es. Ein furchtbarer Schrei riss Wilhelmine aus ihren Gedanken. Dieser Schrei war das Schrecklichste, was Wilhelmine jemals gehört hatte. Er klang tierisch menschlich. Verzweifelt und – endgültig. Kurz darauf ein lautes Gepolter, so als würden Sachen umgestoßen. Erstarrt lag Wilhelmine in ihrem Bett und lauschte in die Nacht. Jetzt muhte die Kuh ohne Unterlass, dann war lautes Kettenrasseln zu hören, dann wieder Gepolter; offenbar spielten die Pferde in ihren Boxen verrückt. »Johan! Das ist der Wolf!«, hörte sie die Mutter schreien. Der Vater rannte zur Tür, griff nach der Schaufel, die noch an der Ofenwand lehnte, und wollte hinaus. Kaum hatte er die Haustür geöffnet, da zwängte sich eine zottelige graue Gestalt an ihm vorbei, rannte in die Küche und kauerte sich unter den Küchentisch. Voller Entsetzen war Wilhelmine, die es nun auch nicht mehr in ihrem Bett ausgehalten hatte, jetzt davon überzeugt, dass ein Wolf unter dem Küchentisch saß. Doch die Mutter erkannte sofort, dass es der eigene Hofhund war. Mit eingeklemmtem Schwanz und fiepend vor Angst hatte er sich unter den Tisch verkrochen. Wilhelmine sah jetzt die abgerissene Hofleine darunter hervorlugen, und ein Wolf hätte bestimmt keine Leine gehabt.

Der echte Wolf war im Stall gefangen. Er roch die Menschen. Voller Panik sprang er so hoch er konnte, doch den Weg, den er gekommen war, konnte er nicht mehr zurück. Sein Einbruch in den Stall war leicht gewesen. Draußen an der Giebelwand stand ein alter Leiterwagen. Er war so hoch eingeschneit, dass sich eine Rampe gebildet hatte, die bis unter die Giebelluke des Stalls reichte....

Erscheint lt. Verlag 17.3.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 2. Weltkrieg • Deutsche Geschichte • Erinnerungen • Geschichte • Gesellschaft • Politik &amp • Politik & Geschichte
ISBN-10 3-95890-039-9 / 3958900399
ISBN-13 978-3-95890-039-4 / 9783958900394
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