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Opfer - Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne (eBook)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
336 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490212-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Opfer - Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne -  Svenja Goltermann
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Ein hochaktueller Essay über ein großes Menschheitsthema: Opfer von Krieg und Gewalt sind in den Medien allgegenwärtig, ob als Bilder von verstümmelten Soldaten, von verängstigten Kindern oder leidenden Zivilisten. Doch wer gilt eigentlich wann und warum als Opfer? Die Historikerin Svenja Goltermann erzählt, wie das Bild des Opfers, das wir heute kennen, sich erst seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat: Mit den modernen Gesellschaften entstand das Bedürfnis, die Verluste zu zählen und die Toten zu identifizieren. Zugleich sollte der Krieg humanisiert, Kriegsversehrte sollten versorgt, Überlebende und Hinterbliebene entschädigt werden. So wurde der Begriff des Opfers nach und nach ausgeweitet, von Soldaten auf die zivile Bevölkerung, von körperlichen Verletzungen bis zur Anerkennung des Traumas als seelische Wunde. Wer jedoch als Opfer überhaupt benannt und anerkannt wird, war und ist eine Frage von Hierarchien und Macht - und damit ein eminent politisches Problem. Nominiert für den Bayerischen Buchpreis 2018.

Svenja Goltermann, geboren 1965, ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und Direktorin des dortigen »Zentrum Geschichte des Wissens«. Sie studierte in Konstanz und Bielefeld, habilitierte sich an der Universität Bremen und war Dozentin an der Universität Freiburg. Ihr Buch »Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg« erschien 2009 und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem renommierten Historikerpreis (2008) und als Historisches Buch 2010 der Zeitschrift »Damals«. Sie ist Mitbegründerin der Online-Plattform www.geschichtedergegenwart.de

Svenja Goltermann, geboren 1965, ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und Direktorin des dortigen »Zentrum Geschichte des Wissens«. Sie studierte in Konstanz und Bielefeld, habilitierte sich an der Universität Bremen und war Dozentin an der Universität Freiburg. Ihr Buch »Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg« erschien 2009 und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem renommierten Historikerpreis (2008) und als Historisches Buch 2010 der Zeitschrift »Damals«. Sie ist Mitbegründerin der Online-Plattform www.geschichtedergegenwart.de

eine äusserst hellsichtige und ausgezeichnet geschriebene Studie

ein wichtiger Beitrag zu einer hoch aktuellen Debatte.

Svenja Goltermann hat ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit vorgelegt!

ein faszinierendes Buch

ein Musterbeispiel an Gelehrtheit und Sachkundigkeit.

1. Erfassen, dokumentieren, identifizieren (18001914)


»C G138-05« lautet die Signatur einer Akte, die zu einem riesigen Bestand an Akten zum Ersten Weltkrieg und den unmittelbaren Nachkriegsjahren gehört und im Archiv des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf lagert.[41] Ihre Kombination von Buchstaben und Zahlen ist ein Signifikant für Ordnung – einer Ordnungsstruktur im Archiv selbst, aber auch eines Versuchs, ein historisches Ereignis, eine historische Entwicklung zu ordnen: den Ersten Weltkrieg. Dennoch ist die Akte C G138-05 selbst eine Ansammlung von losen Fragmenten, die in den Jahren zwischen 1915 und 1919 entstanden. Zu ihr gehören einzelne, überwiegend unzusammenhängende Briefe staatlicher und privater Institutionen aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland, die sich um Totenlisten verstorbener Soldaten drehen, um Gräberlisten und Grabfotografien, die entweder aus dem Westen oder Osten Europas erbeten wurden oder bereits verschickt worden waren. Dann wiederum stößt man in der Akte auf Zeitungsartikel – Berichte über ehrenhafte Beisetzungen, neu errichtete Friedhöfe für britische, US-amerikanische, französische und deutsche Soldaten oder über Kriegerdenkmäler für Soldaten aus Neuseeland und Australien, die an der Westfront ihr Leben verloren. Auch zwei Fotoalben liegen bei, sorgfältig bestückt mit Aufnahmen von Soldatengräbern, im einen Album deutsche, im anderen englische. Einige dieser Gräber sind erkennbar noch in der Landschaft verstreut, andere bereits auf Friedhöfen angelegt und prächtig dekoriert. Zwischen den Seiten sind Zeichnungen eingeklebt. Es sind Pläne von Friedhofsanlagen, jedes einzelne Grab ist darin ordentlich ausgewiesen und mit einer Nummer versehen. Beigeordnet ist eine einzelne, leicht vergilbte Karte. Irgendjemand hat irgendwann ein Stück des Frontverlaufs zwischen deutschen und französischen Truppen nachgezeichnet; kleine darauf vermerkte Kreuze verweisen auf Gräber, die meisten von ihnen sind mit einer Zahl versehen.

Soldatengräber des Ersten Weltkriegs[42]

Ein paar Dokumente später sticht ein Artikel heraus, der im Frühjahr 1919 erschien. Er zeigt das Modell eines Klapprahmens aus Karton. Der Begleittext informiert, dass ein solcher Rahmen künftig an alle US-amerikanischen Familien geschickt werde, die einen Angehörigen als Soldat an der Westfront verloren haben. Auf der linken Innenseite sollen Name, Rang und Einsatzort des Gefallenen eingetragen, auf der rechten das Foto seines Grabes eingeklebt werden. Die Aufnahmen würden vom Amerikanischen Roten Kreuz gemacht, das auf Bitten des US-amerikanischen Kriegsministeriums die Aufgabe übernommen habe, jedes bereits identifizierte Grab eines in Frankreich gefallenen US-amerikanischen Soldaten zu fotografieren. Die fotografische Arbeit sei bereits beschleunigt worden, heißt es. Von jetzt an sei mit etwa 7000 Fotografien monatlich zu rechnen.

Briefe, Zeitungsausschnitte, Fotografien, Karten, vom Archiv sortiert – ein Ordnungsversuch. Tatsächlich ist die thematische Schnittstelle unschwer zu erkennen: Ihr Gegenstand ist der im Ausland verstorbene Soldat, seine Grabstätte, die Suche nach ihr. Und dennoch sind diese Dokumente, die selber selten untereinander verknüpft sind, nur versprengte Teile einer ehemaligen Informationsmaschinerie. Sie deuten auf die beträchtlichen Bemühungen hin, die während des Ersten Weltkriegs von verschiedenen Seiten in verschiedenen Ländern unternommen wurden, um die im Einsatz verstorbenen Soldaten zu ermitteln, ihre Gräber zu finden, sie auf Friedhöfe umzubetten und die Angehörigen über den genauen Ort dieser fernen letzten Ruhestätte zu informieren. Sie verweisen auf gewaltige Anstrengungen, die aufgewandt wurden, um nach Möglichkeit jeden einzelnen Toten (oder was von ihm übrig geblieben war) zu identifizieren. Während des Ersten Weltkriegs ging es damit theoretisch um mehr als neun Millionen Soldaten, von denen der weitaus größte Teil auf dem europäischen Kontinent ums Leben gekommen war.[43] Die in der Akte C G138-05 enthaltenen Dokumente sind damit in erster Linie Überreste eines gigantischen Versuchs, bereits während des Krieges, vor allem aber im Gefolge dieses millionenfachen Gemetzels wieder eine Ordnung herzustellen. Und sie verweisen dabei in erster Linie auf eines: das unvorstellbare Chaos des Todes.

Heute existieren umfassende elektronische Datenbanken, meist angelegt von Organisationen der Kriegsgräberfürsorge, die es Privatpersonen ermöglichen, über das Internet direkt nach Kriegstoten (überwiegend Soldaten) zu suchen und den genauen Ort ihres Grabes oder einer Erinnerungsstätte, die ihren Namen trägt, zu ermitteln.[44] Die Zahl ihrer Einträge geht bereits in die Millionen: die Commonwealth War Graves Commission spricht für die beiden Weltkriege zusammen von mehr als 1,7 Millionen Einträgen, der Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge von über 4,7 Millionen. Dabei gelten die konkreten Such-, Exhumierungs- und Identifizierungsarbeiten noch nicht einmal als abgeschlossen, vor allem nicht in Osteuropa. Allein der Volksbund hat in dieser Region seit 1991 mehr als 850000 begrabene Kriegstote ausfindig gemacht und umgebettet.[45] Der Kalte Krieg, der die notwendigen bilateralen Abkommen erheblich erschwerte, musste dafür erst zu Ende gehen.

Diese Aktivitäten sind Teil einer umfangreichen Erinnerungsarbeit, die von der Kriegsgräberfürsorge im Auftrag ihrer Regierungen gepflegt wird. Sie stehen aber auch für den Anspruch, dass Staaten in der Lage sein müssen, über den Verbleib ihrer Soldaten Rechenschaft abzulegen und die Familien über den Tod ihrer Angehörigen zu informieren. Auf internationaler Ebene herrscht darüber zumindest theoretisch ein Konsens. Darauf drängte jedenfalls die Generalversammlung der Vereinten Nationen, als sie 1974 in ihrer Resolution 3320 festhielt, der »Wunsch«, das Schicksal von im Krieg vermissten Angehörigen zu kennen, sei ein »menschliches Grundbedürfnis«.[46] Im Jahr 1977 wurde dies mit Artikel 32 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen von 1949 noch deutlicher formuliert: Er unterstrich nicht mehr den »Wunsch«, sondern sprach bereits von einem »Recht der Familien (…), das Schicksal ihrer Angehörigen zu erfahren«.[47] Mittlerweile ist dieses »Recht«, das sich seinerzeit lediglich auf Informationen über den Verbleib von Soldaten in zwischenstaatlichen Kriegen bezog, sogar noch erweitert worden: Unter dem Stichwort »Recht auf Wahrheit« erstreckt sich der Informationsanspruch seit einigen Jahren auch darauf, ob der Vermisste oder Tote – Zivilisten eingeschlossen – »Opfer« eines Kriegs- oder Menschenrechtsverbrechens geworden ist.[48]

Diese Ansprüche und Normen sind jedoch ein relativ junges Phänomen. Noch im 19. Jahrhundert zeigt sich in Europa und den USA ein ganz anderes Bild: So blieben die Körper von toten Soldaten während des Amerikanischen Bürgerkriegs oft auf Schlachtfeldern liegen, von Plünderern gefleddert und den Tieren überlassen; andere verschwanden namenlos in eilig ausgehobenen Massengräbern.[49] In den von Europäern auf ihrem eigenen und anderen Kontinenten geführten Kriegen sah es bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein nicht anders aus.[50]

Eine grundlegende Änderung dieser Situation zeigten erst Repräsentationen des Todes an, die im Kontext des Ersten Weltkriegs in bislang unbekannter Dimension oder überhaupt erstmals entstanden: die riesigen Soldatenfriedhöfe, die teilweise Tausende von namentlich gekennzeichneten Einzelgräbern umfassten (sofern es sich nicht um Kolonialsoldaten handelte);[51] die Monumente mit ihren langen, eingravierten Namenslisten all jener Soldaten, deren sterbliche Überreste nicht identifiziert werden konnten; schließlich die großen Nationaldenkmäler, Grabmäler des »Unbekannten Soldaten«, die in London, Paris, Belgien und den USA, in Italien und Griechenland, Österreich, Ungarn, der ehemaligen Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien errichtet wurden.[52] Darin zeigt sich deutlich das Interesse der jeweiligen Regierungen, öffentlich ihren Anspruch zum Ausdruck zu bringen, nicht nur jeden toten Soldaten namentlich zu erwähnen, sondern auch ihre Leichen zu identifizieren, um jeden einzelnen Toten unter Nennung seines Namens – und damit als Person erkennbar – zu bestatten.

Der Ausgangspunkt für diese Ansprüche war jedoch nicht der Erste Weltkrieg. Ihre Geschichte beginnt früher, teilweise geht sie bis ins späte 18. Jahrhundert zurück. Dabei handelt es sich um eine komplexe Geschichte der Produktion und Verbreitung von Wissen, die um die Herausbildung von Praktiken des Erfassens, des Dokumentierens und des Identifizierens von Kriegstoten kreist. Diese konzentrierten sich während des 19. Jahrhunderts ausschließlich auf die toten Soldaten,[53] vorangetrieben...

Erscheint lt. Verlag 23.11.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Allgemeines / Lexika
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Dekolonisierung • Entschädigung • Folter • Gefallene • Kolonialismus • Körper • Kriegsverbrechen • Medizin • Menschenrechte • Militär • Politik • Sozialpolitik • Tote • Trauern • Trauma • Vietnam-Krieg • Völkerrecht • Zivilisierung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-490212-7 / 3104902127
ISBN-13 978-3-10-490212-8 / 9783104902128
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