Schriften zur Literatur 1945-1958 (eBook)
370 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75102-2 (ISBN)
»Der Unterzeichnete hat, obwohl ihm die Gesetzgebung der letzten zwölf Jahre jede publizistische Äußerung wie den Abschluß seines philosophischen Universitätsstudiums unmöglich machte, nicht den Ehrgeiz, um jeden Preis sich gedruckt zu sehen.« Dies schrieb der 25-jährige Hans Blumenberg im November 1945 an den Insel Verlag und fügte einen Aufsatz zu Dostojewskis Novelle »Die Sanfte« bei, deren Veröffentlichung er anregte. Zu der Publikation kam es seinerzeit nicht und auch der Aufsatz blieb ungedruckt. Nun eröffnet er eine Sammlung mit Blumenbergs frühen Texten zur Literatur.
In Rezensionen, Reden und Vorträgen erkundet er die zumeist zeitgenössische deutschsprachige und internationale Literatur, schreibt aber auch über die damals neue Mode der Taschenbücher, Ratgeber und Comics. Seine subtilen Lektüren verfolgen oft Randgänge zwischen Literatur und Philosophie und thematisieren existentielle Fragen. Es sind Texte von zeitloser Brillanz, die zugleich die Nachkriegszeit wie in einem Vergrößerungsglas ansichtig werden lassen.
<p>Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ?Halbjude?. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation <em>Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie</em> an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie <em>Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls</em>. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«.</p>
Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ›Halbjude‹. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«. Alexander Schmitz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle »Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären« an der Universität Konstanz. Bernd Stiegler ist Professor für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz.
Über Dostojewskis Novelle »Die Sanfte«
Dostojewskis Novelle »Die Sanfte« hat die Gestalt eines Gewissensgespräches, in dem ein Mann, dessen Name so unwesentlich ist, daß wir ihn nicht erfahren, am Totenlager seiner Frau, die sich wenige Stunden zuvor durch einen Sturz aus dem Fenster entleibt hatte, sich innere Rechenschaft zu geben sucht über die Quellgründe des furchtbaren Ereignisses. Die Form dieses Selbstgerichtes ist in hohem Maße dialektisch, steht in der zum Widerspruch gesteigerten Spannung von Bezichtigung und Rechtfertigung. Er, der als adliger Offizier eines Ehrenhandels wegen den Dienst hatte quittieren müssen und fortan als Pfandleiher eine Existenz außerhalb der Gesellschaft lebte und erstrebte, hat das elternlose junge Mädchen aus einer sozial verzweifelten Lage heraus zu seiner Frau gemacht, gerade in dem Augenblick, als es von zwei geldgierigen Pflegetanten an einen widerlichen Krämer verhandelt werden sollte. Der Pfandleiher hatte sich in die Rolle des sozialen Befreiers und Wohltäters hineingespielt und darin die Aufwertung seines verletzten Selbstgefühls gesucht. Die Antwort seiner Frau ist ein unerwarteter Widerstand in der Ehe, vom schweigenden Stolz und lächelnder Ironie bis zur offenen Revolte. Seine entehrte Vergangenheit wird für sie zum Angelpunkt, das von ihm gesuchte und gestaltete Gefälle des Verhältnisses zu verkehren. Der Pfandleiher erfährt, daß seine Frau sich mit einem Offizier namens Jefimowitsch zu treffen beabsichtigt, der in seiner eigenen Lebensgeschichte eine zerstörerische Rolle gespielt hatte; er macht sich zum Lauscher der Zusammenkunft und muß erleben, daß der Stolz und die Reinheit seiner Frau über jeden Zugriff und jeden Verdacht erhaben sind. Doch auch für ihn kommt eine Gelegenheit, das Mal der Niedrigkeit und Feigheit vor seiner Frau zu löschen; als er am Morgen nach jener belauschten Zusammenkunft erwacht, sieht er seine Frau mit seinem Revolver in der Hand vor seinem Lager stehen, gibt sich aber schlafend, besteht die Bedrohung der eisernen Mündung an seiner Schläfe und wird so, als die Tat ausbleibt, über die Frau, die den Entschluß, mit dem sie gespielt hat, nicht auszulösen vermag, Sieger. Er spielt den Sieg aus, indem er sie aus seinem Verhalten entnehmen läßt, daß er Zeu10ge ihrer Absicht und ihres Versagens war und daß er der Stärkere blieb. In der Befriedigung dieses »Sieges« scheint er seiner Vergangenheit endgültig Herr zu werden. Aber die Antwort seiner Frau ist wiederum nicht Unterwerfung, nicht Anerkennung, ist vielmehr Schweigen, Verachtung – ja ist – er erfährt es plötzlich, als sie einmal wie trotz seiner Gegenwart in völligem Alleinsein zu singen beginnt – Vergessen seiner Zugehörigkeit zu ihrem Leben. Diese Einsicht nun vernichtet ihn, wirft ihn nieder zu ihren Füßen, läßt ihn sie um ihre Beachtung bestürmen, zwingt ihn zur Aufgabe jedes Anspruches an sie. Das aber ist das Ende. Als er am nächsten Tage von einem Ausgang heimkommt, steht vor dem Hause ein Menschenauflauf um den entseelten Leib seiner Frau. »Nur eine Handvoll Blut« ist aus ihrem Munde geflossen.
Die »Handvoll Blut« aus dem Munde der Entleibten ist das symbolische Fazit eines tödlichen Ringens, das der Dichter zwischen Mann und Weib sich vollziehen läßt; und worin er in gültiger Gestaltung dem menschheitlichen Problem der dialektischen Geschlechtlichkeit überhaupt gegenübertritt.
Denn im Zusammentreffen der Geschlechter waltet eine urhafte, letzte Grausamkeit. Dabei scheinen Wesensbereiche beteiligt zu sein, die sich der Kontrolle des gemäßigt-gesitteten Bewußtseins entziehen. Es werden Mittel in diese Dialektik einbezogen, die, aus ihrer eigentlichen Indifferenz herausgenommen, erst in dieser Sphäre ihre verletzende, ja vernichtende Bedeutung bekommen können. Es sei nur daran erinnert, welche grausame Stoßkraft in Dostojewskis Erzählung der Gesang des Weibes annimmt; annimmt aus einer untergründigen Treffsicherheit des dem Manne entgegentretenden Weibtums. Es ist hier, als seien Mann und Weib nur die zufälligen Instrumente, die das Ringen einer weit universaleren Polarität höheren Bewußtseinsgrades blind vollziehen.
Die Novelle bringt die Frage nicht zum Ausdruck, aber sie wirft sie auf in der Forderung ihres Verständnisses: wo nämlich der Urgrund dieser feindlichen Polarität der Geschlechter zu suchen sein könne. Jede Antwort muß metaphysischer Versuch bleiben. Aber ist es nicht so, daß im Anspruch des Geschlechtstriebes eine menschliche Totalität bezielt ist, eine Erfüllung gesichtet wird, die das geschlechtlich Zweiheitliche aufheben würde in einer letzten menschlichen Wesensganzheit? Und weist nicht diese unaufhebbar auf Einheit zielende Gespanntheit auf eine ur11gesetzte Eigentlichkeit hin als schöpferischen Grund der menschlichen Gestalt? Hat sich wohl dieser ideeliche Ganzheitsanspruch an jener unergründlichen, dem Stoffe eigenen chthonischen Widersetzlichkeit allem Gestaltenden gegenüber gebrochen und gespalten? So daß der Mensch nun in der geschlechtlichen Daseinsform immer gleichsam nur Fragment sein kann, ohne in der wirklichen Lebenssituation je den Anspruch der individuell-einmalig zugehörigen Ergänzung verwirklichen zu dürfen? Denn die urbestimmte Einheit wäre in der Natur aufgesprengt in zwei Individuen, die sich im Vollzuge nie begegnen. Und weiter: Ist nicht der Trieb in seiner überwältigenden Kraft ein Kunstgriff der Natur, um das wesenhaft niemals Zugehörige doch zum Gehorsam gegen die arterhaltende Notwendigkeit zu zwingen? Eine Überrumpelung des personalen Bewußtseins, das stets nur auf die ideale Absolutheit der Erfüllung – die de facto unerreichbare – ausgespannt sein muß? Der Trieb schmiedet aneinander in seiner Glut, was sich im Umriß nicht fügen kann; er bindet mit Blindnis, was Klarheit trennt. Ist aber dem Ziel und Willen der Natur Genüge getan, dann versagt diese Kraft der Bindung; die aufeinander Verwiesenen stehen, Leib an Leib, in der ganzen Widersprüchlichkeit der geschlechtlichen Existenz.
Die sexuelle Dialektik ist wesentlich zweistufig, sie hat eine voreheliche (nicht außereheliche, denn dieser Zustand ist überhaupt nicht dialektisch!) und eine eheliche Form. In Dostojewskis Erzählung ist das voreheliche Stadium gestaltet von der sozialen Situation her. Und es ist tief erfaßt, wie diese Gestalt des Verhältnisses in der Ehe selbst schlagartig jede Bedeutung verliert. Wesensanlage und soziale Ordnung in unserer Gesellschaftsform sind einer Oberhändigkeit des Weibes denkbar ungünstig, so ist die von Dostojewski gegebene Situation, daß der Mann das Weib buchstäblich aus einer sozialen Verlorenheit zu sich empornimmt, durchaus symbolwertig und wesentlich. Mit aller erzählerischen Präzision ersteht die voreheliche Bestimmtheit des Verhältnisses: Das sozial hilflose Weib ist ausgeliefert, es ist Sklavin seiner Pflegetanten, es muß sich von ihrer Geldgier an einen Krämer verhandeln lassen; der Mann spielt sich auf diese Lage ein: als Pfandleiher (welches Symbol übrigens für seine innerste Wahrheit!) gibt er der Hilfesuchenden, wie er will; sie muß nehmen, was und wie er ihr gibt; er ist höflich und 12streng, er lächelt über sie, ist gereizt, verletzend, er prüft sie. Der »strenge Ton« ist das Cachet seiner Rolle – »der strenge Ton riß mich förmlich hin«. Der Tenor des Verhältnisses ist für ihn: »Sie kam zu mir, sie kam wieder, sie muß wieder kommen!« Es geht ihm um die kleinen Triumphe seiner Rolle – »Als sie schon fort war, fragte ich mich plötzlich: war denn dieser Triumph über sie zwei Rubel wert?« Sie kommt zu ihm unter dem Zwang ihrer Lage; er transponiert das fälschlich ins Menschliche. Er sieht seine selbstgewählte Rolle, in der er »als ein Wesen aus einer höheren Welt« erscheinen kann, als vom Wesentlichen herkommende Gestalt der Geschlechterbegegnung; die soziale Gültigkeit des Befreiers, des Wohltäters, des Überrangigen wird ihm zur unumstößlich menschlichen Gültigkeit.
So schließt er die Ehe, ohne zu ahnen, daß die Dialektik hier erst ihren eigentlichen Spielraum gewinnt. Der Schritt erscheint ihm nur als formale Wandlung einer festgestellten wesenhaften Ordnung. Er übersieht alle Zeichen des schon zuvor sich bäumenden Weibwesens; das »Blitzen« ihrer Augen, ihren Stolz, ihre einmalige »Revolte« nimmt er hin mit der selbstsicheren Wendung: »Sie ist also stolz! Gut! Ich bevorzuge sogar die Stolzen. Die Stolzen sind sogar besonders schön, wenn … nun, wenn man an seiner Macht über sie nicht mehr zweifeln kann.«
Das Wort »Macht« ist gefallen. Der Geschlechterkampf ist ein Machtkampf. »Machtgefühl ist mehr als Wollust«, formuliert Strindberg im »Buch der Liebe«. Bei Dostojewski ist es genauer ein volles Ineinander von Macht und Lust: Machtgefühl ist Wollust. Hier spricht der Mann von seiner Macht »über sie« als von der »nackten Wahrheit« in seiner Hand; diese Macht ist das eigentlich Sexuelle, die Wahrheit – seine Wahrheit – ist »nackt« in einem höchst wollüstigen Sinne. Als »Befreier« der »Sklavin«, als »Wesen aus einer höheren Welt« ist er auf dem Gipfel der ihm möglichen Lust. Macht als Lust ist der Zielgegenstand der männlichen Geschlechtsrolle. »Dieses Gefühl der Ungleichheit nahm mich ganz gefangen; es war ein so süßes, wollüstiges Gefühl.« Und – »die Hauptsache ist, daß ich […] an meiner Macht über sie nicht mehr zweifelte. Wissen Sie, es ist ein ganz wunderbares, wollüstiges Gefühl, wenn man nicht mehr zweifelt!«
Die Ehe ist in diesem Machtkampf der Akt, in dem der Mann selbst das Weib überhaupt erst in seine...
Erscheint lt. Verlag | 10.4.2017 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Schlagworte | Dostojewski • Ehrenpromotion an der Universität Gießen 1982 • Kuno-Fischer-Preis der Universität Heidelberg 1974 • Rezensionen • Schriften • Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt 1980 |
ISBN-10 | 3-518-75102-6 / 3518751026 |
ISBN-13 | 978-3-518-75102-2 / 9783518751022 |
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