Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (eBook)
350 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-74814-5 (ISBN)
Die »Politik der Straße« hat Hochkonjunktur, wirft aber auch Fragen auf. Sind Versammlungen als Ausdruck der Souveränität des Volkes aus radikaldemokratischer Perspektive zu begrüßen oder geben sie Anlass zur Sorge vor der Herrschaft des »Mobs«? Und wer ist überhaupt »das Volk«? Judith Butler geht den Dynamiken und Taktiken öffentlicher Versammlungen unter den derzeit herrschenden ökonomischen und politischen Bedingungen auf den Grund. Fluchtpunkt dieses hochpolitischen Buches ist eine Ethik des gewaltlosen Widerstands in einer gefährdeten Welt, in der die Grundlagen solidarischen Handelns allmählich zerfallen oder zerstört werden.
<p>Judith Butler, geboren 1956, ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik, Gender Studies und kritische Theorie an der University of California, Berkeley. 2012 erhielt Butler den Adorno- Preis der Stadt Frankfurt am Main.</p>
Judith Butler, geboren 1956, lehrt Rhetorik, Komparatistik und Gender Studies in Berkeley, Kalifornien.
1.
Geschlechterpolitik und
das Recht zu erscheinen
»Körperallianzen« [Bodies in Alliance] war ursprünglich der »Titel« einer Vorlesungsreihe, die ich 2011 am Bryn Mawr College in Pennsylvania gehalten habe und die diesem Text als Vorlage dient. Es war ein passender Titel, wie sich zeigt, dabei konnte ich in dem Augenblick, als er mir einfiel, noch nicht ahnen, wie sich seine Bedeutung im Laufe der Zeit entwickeln und welche neue Gestalt und Kraft er erlangen würde. Während wir in unserem akademischen Rahmen beisammensaßen, versammelten sich überall in den Vereinigten Staaten und in mehreren anderen Ländern Menschen, um verschiedene Sachverhalte in Frage zu stellen, etwa despotische Herrschaft oder wirtschaftliche Ungerechtigkeit, manchmal auch den Kapitalismus selbst oder einige seiner aktuellen Erscheinungsformen; dabei kamen oft große Menschenmassen in der Öffentlichkeit zusammen, um als plurale politische Präsenz und Kraft gesehen und gehört zu werden.
Wir könnten in solchen Massendemonstrationen eine kollektive Ablehnung der gesellschaftlich und wirtschaftlich bedingten Prekarität sehen. Was wir aber vor allem sehen, wenn Körper auf Straßen, Plätzen oder an anderen öffentlichen Orten zusammenkommen, ist die – wenn man so will, performative – Ausübung des Rechts zu erscheinen, eine körperliche Forderung nach besseren Lebensbedingungen.
Auch wenn die Idee der Verantwortlichkeit in problematischer Weise für neoliberale Zwecke vereinnahmt worden ist, spielt der Begriff eine entscheidende Rolle für die Kritik der zunehmenden Ungleichheit. Nach der neoliberalen Moralvorstellung ist jeder nur für sich selbst und nicht für andere verantwortlich, und diese Verantwortung richtet sich in erster Linie darauf, unter Bedingungen, unter denen die Autarkie strukturell unterminiert wird, wirtschaftlich unabhängig zu werden. Diejenigen, die sich keine medizinische Versorgung leisten können, sind nur ein Beispiel dafür, dass Teile der Bevölkerung als frei verfügbar betrachtet werden. Und wer die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich wahrnimmt, wer das Gefühl hat, Sicherheiten und Hoffnungen verloren zu haben, sieht sich auch als jemand, der von einer Regierung und einer Volkswirtschaft im Stich gelassen worden ist, die eindeutig den Wohlstand einiger weniger auf Kosten der breiten Bevölkerung vermehrt. Eine Implikation der Tatsache, dass sich Menschenmassen auf den Straßen versammeln, scheint daher klar: Es gibt sie noch und sie sind noch da; sie lassen nicht locker; sie versammeln sich und bekunden damit die Einsicht oder zumindest den Beginn der Einsicht, dass ihre Situation etwas Gemeinsames ist. Und auch wenn sie nicht sprechen und keine verhandelbaren Forderungen vorbringen, wird hier ein Ruf nach Gerechtigkeit laut: Die versammelten Körper »sagen«: »Wir sind nicht frei verfügbar«, ob sie dazu Worte benutzen oder nicht. Was sie sagen, ist gleichsam: »Wir sind noch hier, wir harren aus, wir fordern mehr Gerechtigkeit, die Befreiung aus der Prekarität und die Aussicht auf ein lebbares Leben.«
Gerechtigkeit ist natürlich ein großes Wort und sie zu fordern stellt jede Aktivistin und jeden Aktivisten vor ein philosophisches Problem: Was ist Gerechtigkeit und mit welchen Mitteln kann die Forderung nach Gerechtigkeit aufgestellt, verstanden und angenommen werden? Dass es manchmal heißt, es gebe »keine Forderungen«, wenn sich Körper auf diese Weise und zu diesem Zweck versammeln, liegt daran, dass die Liste der Forderungen nicht die ganze Bedeutung der geforderten Gerechtigkeit ausschöpfen würde. Natürlich können wir uns alle gerechte Lösungen für das Gesundheitssystem, die öffentliche Bildung, das Wohnungswesen oder die Verteilung und Verfügbarkeit von Nahrung vorstellen – wir könnten also die Ungerechtigkeiten einzeln auflisten und als eine Reihe von spezifischen Forderungen vorbringen. Doch vielleicht ist die Forderung nach Gerechtigkeit ebenso in jeder dieser Einzelforderungen präsent, wie sie notwendigerweise über sie hinausgeht. Dies ist eindeutig ein platonisches Argument, aber wir müssen uns nicht der Ideenlehre anschließen, um zu erkennen, dass es auf andere Weise wirkt. Denn wenn Körper sich versammeln, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen oder um ihre plurale Existenz im öffentlichen Raum zu inszenieren, dann stellen sie zugleich auch weiter reichende Forderungen: Sie verlangen, anerkannt und wertgeschätzt zu werden, sie machen das Recht geltend, zu erscheinen und ihre Freiheit auszuüben, und sie fordern ein lebbares Leben. Es müssen natürlich Bedingungen herrschen, unter denen ein solcher Anspruch auch als Anspruch registriert wird. Die Demonstrationen in Ferguson, Missouri, im Sommer 2014 lassen unschwer erkennen, wie schnell Formen der öffentlichen politischen Opposition – die sich in diesem Fall gegen die Tötung des unbewaffneten Schwarzen Michael Brown durch die Polizei richtete – als »Unruhen« oder »Krawalle« tituliert werden können.1 Die konzertierten Aktionen von Gruppen mit dem Zweck, gegen staatliche Gewalt zu opponieren, werden in solchen Fällen sogar dann als gewalttätig erachtet, wenn sie gar keine Gewalttaten beinhalten. Wie verstehen wir die Art der Bedeutung, die solche Proteste zu vermitteln versuchen, in Relation zu ihrer Benennung durch ihre Opponenten? Handelt es sich hier um eine politische Form inszenierter und pluraler Performativität, deren Wirkungsweise eine eigene Betrachtung verlangt?
Eine Frage, die mir oft gestellt wird, lautet: Wie kommt man von einer Theorie der Performativität der Geschlechter zu einer Betrachtung von gefährdeten Leben? Auch wenn darauf manchmal eine biografische Antwort erwartet wird, bleibt die Frage theoretisch interessant – welche Verbindung besteht zwischen den beiden Konzepten, wenn es denn eine gibt? Offenbar habe ich mich zunächst mit der Queer-Theorie und den Rechten sexueller und geschlechtlicher Minderheiten beschäftigt und schreibe jetzt allgemeiner darüber, wie Kriege und andere gesellschaftliche Bedingungen bestimmte Bevölkerungsteile als unbetrauerbar ausweisen. In Gender Trouble (1990; dt. Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) hat es manchmal den Anschein, dass bestimmte von einzelnen ausgeführte Handlungen eine subversive Wirkung auf Geschlechternormen haben oder haben könnten. Jetzt arbeite ich an der Frage der Allianzen zwischen verschiedenen als verfügbar erachteten Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen; genauer gesagt beschäftige ich mich damit, wie Prekarität – als Mittelbegriff und in gewisser Weise auch als vermittelnder Begriff – als ein Ort der Allianz von Gruppen wirken könnte oder schon wirkt, die ansonsten nicht viel gemeinsam haben oder sich sogar mit Misstrauen oder Feindseligkeit begegnen. Ein politischer Standpunkt ist dabei wahrscheinlich ziemlich unverändert geblieben, auch wenn sich mein Fokus verschoben hat, nämlich dass die Identitätspolitik keine umfassendere Vorstellung davon geben kann, was es – politisch – bedeutet, über Unterschiede hinweg und manchmal in unfreiwilliger Nähe zusammenzuleben, zumal das Zusammenleben, wie schwierig es auch sein mag, ein ethisches und politisches Gebot bleibt. Außerdem wird Freiheit meistens mit anderen ausgeübt und dies nicht notwendigerweise auf eine vereinheitlichte oder konformistische Weise. Sie erfordert oder erzeugt nicht unbedingt eine kollektive Identität, aber eine Reihe von ermöglichenden und dynamischen Beziehungen, darunter Unterstützung, Streit, Bruch, Freude und Solidarität.
Zum Verständnis dieser Dynamik schlage ich vor, zwei Theoriebereiche zu untersuchen, für die abgekürzt die Begriffe »Performativität« und »Prekarität« stehen; danach möchte ich auf das Recht zu erscheinen als koalitionären Rahmen eingehen, der geschlechtliche und sexuelle Minderheiten mit gefährdeten Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen verbindet. Performativität bezeichnet in erster Linie die Eigenschaft sprachlicher Äußerungen, durch die im Moment des Äußerns etwas geschieht oder ins Leben gerufen wird. Der Begriff stammt ursprünglich von John Langshaw Austin, hat jedoch in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Überarbeitungen und Veränderungen erfahren, insbesondere in den Werken von Jacques Derrida, Pierre Bourdieu und Eve Kosofsky Sedgwick, um nur einige zu nennen.2 Eine Äußerung bringt das, was sie beinhaltet, hervor (Illokution) oder sorgt dafür, dass in ihrer Folge eine Reihe von Ereignissen geschieht (Perlokution). Warum sollte sich jemand für diese relativ obskure Theorie der Sprechakte interessieren? Nun, zunächst eröffnet die Performativität offenbar die Möglichkeit, eine der Sprache innewohnende Macht zu benennen: die Macht, eine neue Situation zu erzeugen oder eine Reihe von Wirkungen in Gang zu setzen. Es ist kein Zufall, dass die erste performative Äußerung im Allgemeinen Gott zugeschrieben wird. Er sagt: »Es werde Licht«, und schon ist Licht da. Auch Präsident/innen, die einen Krieg erklären, erleben in der Regel, dass der Krieg infolge ihrer Erklärung Realität wird; und Standesbeamt/innen, die zwei Menschen für verheiratet erklären, produzieren, sofern alles rechtmäßig vonstattengeht, infolge ihrer Äußerung verheiratete Paare. Der springende Punkt ist nicht nur, dass Sprache handelt, sondern dass sie machtvoll handelt. Wie wird nun aus einer performativen Sprachtheorie eine performative Theorie der Geschlechter? Es beginnt damit, dass ein wimmerndes Baby nach der Geburt von medizinischen Fachleuten zum Jungen oder zum Mädchen erklärt wird; und auch wenn deren Äußerung in dem Lärm kaum hörbar ist, so ist das Kreuzchen, das sie später auf der amtlichen Bescheinigung...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2016 |
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Übersetzer | Frank Born |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Notes Toward a Performative Theory of Assembly |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Politische Theorie | |
Schlagworte | Aktivismus • Demokratie • Notes Toward a Performative Theory of Assembly deutsch • Öffentlicher Raum • Politik der Straße • Solidarität • STW 2258 • STW2258 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2258 • Theodor-W.-Adorno-Preis 2012 • Vereinigte Staaten von Amerika USA • Volk • Wutbürger |
ISBN-10 | 3-518-74814-9 / 3518748149 |
ISBN-13 | 978-3-518-74814-5 / 9783518748145 |
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