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Mein Hirn hat seinen eigenen Kopf (eBook)

Spiegel-Bestseller
Wie wir andere und uns selbst wahrnehmen
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-56161-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Hirn hat seinen eigenen Kopf -  Dong-Seon Chang
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Was kann unser Hirn verraten? Warum begegnen wir Fremden mit Vorurteilen? Warum spielt Religion eine wichtige Rolle dabei, wie wir die Welt wahrnehmen? Warum sehen für Europäer Asiaten meist gleich aus? Warum wählen wir manchmal unfähige Politiker? Unser Gehirn sucht immer nach Erklärungen. Erklärungen, wie die Welt funktioniert, wie wir selbst funktionieren und wie andere Menschen funktionieren. Doch jedes Gehirn findet eben seine eigenen Antworten - warum das so ist und ob wir diesen Antworten immer trauen können, erfahren Sie in diesem Buch.

Dong-Seon Chang, geboren 1980 in Heidelberg, studierte Biologie an der Universität Konstanz und ist promovierter Neurowissenschaftler am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. Er begeistert sein Publikum deutschlandweit als Science-Slammer, Wissenschaftskommunikator und Redner. Mit seinen Vorträgen hat er über dreißig deutsche und internationale Wettbewerbe gewonnen und wurde u. a. deutscher Bundessieger vom «Science Slam im Wissenschaftsjahr 2014: Die Digitale Gesellschaft» und «FameLab Germany 2015».

Dong-Seon Chang, geboren 1980 in Heidelberg, studierte Biologie an der Universität Konstanz und ist promovierter Neurowissenschaftler am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen. Er begeistert sein Publikum deutschlandweit als Science-Slammer, Wissenschaftskommunikator und Redner. Mit seinen Vorträgen hat er über dreißig deutsche und internationale Wettbewerbe gewonnen und wurde u. a. deutscher Bundessieger vom «Science Slam im Wissenschaftsjahr 2014: Die Digitale Gesellschaft» und «FameLab Germany 2015».

Mit deinen Augen und mit meinen Augen


Es geht aber noch krasser. Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn wir unseren Farbsinn ein wenig verschieben würden? Beispielsweise so, dass wir kein Rot mehr sehen können, dafür aber ultraviolettes Licht, auch Schwarzlicht oder UV-Licht genannt? Sie ahnen es vielleicht schon: Ich will Sie – ganz ohne Gentechnik – zu einer Biene machen. Denn für Bienen ist unser Rot einfach Schwarz. Mit ihren Augen betrachtet, sind Sonnenuntergänge kein bisschen romantisch, hat die Deutschlandfahne oben einen doppelt so dicken dunklen Balken und muss man an Ampeln bei Schwarz stehenbleiben. Klingt ein bisschen trostlos, oder?

Zum Ausgleich gibt es aber auf der anderen Seite des Farbspektrums eine Menge Neues zu entdecken. Mit einem UV-Blick könnten wir ohne Speziallampe die Sterne und Glitzersplitter auf den Euro-Geldscheinen sehen, weiße Wäsche wäre noch strahlender, und scheinbar einfarbige Blumen hätten auf einmal ein interessantes Muster, wie Bild 5 es zeigt.

Bild 5.

Welche Blüte sieht das menschliche Auge, welches das einer Biene?

Was für Geldfälscher eine Katastrophe wäre, ist für die Biene natürlich wunderbar, denn mit ihrem Sinn für UV-Licht sieht sie die sogenannten Saftmale. Das sind für uns Menschen unsichtbare Flecken auf den Blütenblättern, mit denen die Pflanze signalisiert, dass es hier leckeren Nektar gibt, es sind sozusagen die Werbetafeln der Blume für ihre Bestäuber.

Bienen sind im Übrigen nicht die einzigen Tiere, die ultraviolettes Licht sehen können. Auch Ihr Wellensittich steht total darauf. Zumindest die Mädchen. Wenn Wellensittichweibchen sich einen Partner aussuchen, hören sie nämlich nicht auf das ganze Gequassel, mit dem sie ihr Käfignachbar zutextet. Vielmehr achten sie darauf, wie schön die Kehlflecken des eifrigen Werbers das ultraviolette Licht reflektieren. Das hat die Biologin Kathryn Arnold von der Universität York mit einem ziemlich fiesen Trick herausgefunden. Sie hat einigen der männlichen Wellensittiche gründlich die Show vermiest, indem sie deren Gefieder mit UV-dichter Sonnencreme eingerieben hat. Mit diesen Kandidaten wollte anschließend keines der Weibchen mehr etwas zu tun haben. Da konnten sich die armen Möchtegernmachos noch so sehr ins Zeug legen beim Balzen.

Der Zweck unseres kleinen Ausflugs in die Tierwelt liegt natürlich nicht darin, über Sinn und Unsinn von Sonnenschutzcreme zu philosophieren (zum Glück sind Menschen ja blind für UV-Licht, sodass wir Männer am Strand nicht ständig mit einem Sonnenbrand herumlaufen müssen, um unsere Chancen beim anderen Geschlecht zu wahren). Der Schlenker zu den Bienen und Sittichen zeigt vielmehr, dass unsere Sinne uns lediglich einen Teil der Welt zeigen. Sogar nur einen winzigen Bruchteil dessen, was es über unsere Umgebung eigentlich zu erfahren gäbe. Denn neben dem UV-Licht wären da noch Röntgen-, Gamma- und Infrarotstrahlung sowie Mikro- und Radiowellen.

Und unsere anderen Sinne? Auch sie zeigen uns nur einen Ausschnitt unserer Umwelt: Wir bekommen nichts mit von Ultraschall (denken Sie nur an die Ortungssysteme der Fledermäuse) oder Infraschall (den nutzen Elefanten gerne für ihre Ferngespräche), und unzählige Düfte ziehen ungerochen an unserer Nase vorbei (Ihr Hund könnte Ihnen dazu einen stundenlangen Vortrag halten).

Selbst das bisschen an Information, was wir durch unsere Sinne erhalten, ist noch so viel, dass unser Gehirn völlig überlastet wäre, wenn es das alles verarbeiten müsste. Der Fleck auf dem Tisch, das Muster der Tapete, das Brummen der Autos vor dem Haus, das Tschilpen der Spatzen … Ihre Sinne nehmen diese Wahrnehmungen auf und leiten sie an Ihr Gehirn weiter, während Sie diese Zeilen lesen. Doch Ihr Gehirn ignoriert sie, denn es konzentriert sich völlig auf den Text. (Das tut es doch, oder?) Es schaltet gewissermaßen einen Filter ein, der nur Informationen hindurchlässt, die es in diesem Moment als wichtig und relevant einstuft. Das kann so weit gehen, dass Sie einen Gorilla übersehen, der in einer Turnhalle durch Ihr Blickfeld läuft. Ernsthaft!

An der Universität von Illinois haben Christopher Chabris und Daniel Simons ein entsprechendes Experiment zur sogenannten Unaufmerksamkeitsblindheit durchgeführt. Dazu filmten sie Basketballspieler, die sich einen Ball zuwarfen. Ein Team trug weiße, das andere schwarze T-Shirts. Die Aufgabe der Testpersonen bestand darin zu zählen, wie oft sich das weiße Team den Ball zupasste. Anschließend wurden die Probanden nach der Anzahl der Ballwechsel befragt und ob ihnen während des Films etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Überraschenderweise hatte rund die Hälfte der Teilnehmer nicht bemerkt, dass ungefähr nach der Hälfte des Filmchens ein Mensch in einem Gorillakostüm auf der Bildfläche erschienen war. Er trottete gemächlich in die Mitte des Feldes, trommelte sich mehrfach auf die Brust und setzte danach seinen Weg durch die Spieler fort.

Wenn Sie das Gorilla-in-unserer-Mitte-Experiment einmal mit Ihren Freunden und Verwandten selbst durchführen möchten, finden Sie das Video im Internet unter www.theinvisiblegorilla.com/videos.html. (Sie selbst werden ihn nun nicht mehr übersehen können und sich fragen, wie das überhaupt jemand tun kann. Sie werden sich wundern!)

Videos in Büchern zu zeigen ist nicht so ganz einfach, aber ich kann Ihnen einen anderen Test anbieten. Schauen Sie sich bitte Bild 6 an, und sagen Sie mir, was Sie darauf sehen.

Auf den ersten Blick scheint es sich um ein abstraktes Muster von weißen und schwarzen Flächen zu handeln. Auf den zweiten Blick auch. Selbst mit großer Mühe kann das Gehirn der meisten von uns nicht viel mit dem Muster anfangen. Es fehlt ihm einfach ein Anhaltspunkt, welche Teile wichtig sind und welche nicht. Blättern Sie jetzt bitte um, und betrachten Sie Bild 7. Na, erkennen Sie es jetzt?

Die farbigen Umrisse sind genau die Hilfe, die das Gehirn gebraucht hat. Plötzlich schält sich aus dem abstrakten Muster der Kopf einer Kuh heraus, und wir wundern uns, dass wir nicht gleich drauf gekommen sind. Vor allem, wenn wir uns noch einmal Bild 6 vornehmen und jetzt auf Anhieb die Kuh entdecken. Warum war das gerade so fürchterlich schwer?

Bild 6.

Was sehen Sie auf diesem Bild?

Weil Ihr Gehirn noch nicht gewusst hat, welche Flächen für das Erkennen relevant sind. Nachdem es das aber gelernt hat, ist es nahezu unmöglich, die Kuh nicht mehr zu sehen. Oder den Gorilla beim Spiel mit dem Basketball. Vom Moment der Erkenntnis an versorgt uns das Gehirn nicht mehr mit dem Wust von Informationen, die das Gesamtbild ausmachen, sondern es liefert uns nur noch die Auswahl, die es als wichtig ansieht.

Selbst wenn die Interpretation verkehrt ist.

Fehlleistungen des Hörsinns können besonders vergnüglich sein, wenn wir zum Beispiel versuchen, Liedtexte zu verstehen. Wenn Sänger sich so richtig ins Zeug legen, um mit ihrer Musik Emotionen zu vermitteln, entwickeln sie sich manchmal zu logopädischen Albträumen. Sie säuseln und nuscheln, dass kein Wort mehr deutlich an unser Ohr gelangt. Konfrontiert mit dem Schallwellensalat aus Worten und Musik, gibt unser Gehirn alles, um in dem Durcheinander dennoch einen Sinn zu entdecken. Es will mit aller Macht verstehen. Und stößt dabei ab und zu auf Wörter und Sätze, die ähnlich klingen, obwohl sie etwas ganz anderes bedeuten. So wird beispielsweise das kraftvolle «I’ve got the Power» von Snap zu einem ebenso nachdrücklichen «Agathe Bauer». Und Bryan Adams singt im Hit «Summer of ’69» nicht: «I got my first real six-string», sondern gesteht: «I got my first real sex-dream», während Paul McCartneys «Hope of Deliverance» an Dynamik gewinnt in der Version «Hau auf die Leberwurst!».

Forscher bezeichnen solche Hörunfälle, bei denen wir Wörter einer fremden Sprache umdeuten, mit dem japanischen Ausdruck Soramimi. Verhaspelt sich unser Gehirn in der eigenen Sprache, nennen sie das Mondegreen. Ein Klassiker ist sicherlich die Zeile «Der Wald steht schwarz und schweiget,/und aus den Wiesen steiget/der weiße Nebel wunderbar» aus dem Abendlied von Matthias Claudius, dessen letzter Vers zu «Der weiße Neger Wumbaba» wurde und den Autor Axel Hacke dazu angeregt hat, unter diesem Titel ein Buch voller Verhörer zu veröffentlichen. (Ich weiß, das Wort «Neger» ist diskriminierend und sollte nicht verwendet werden. Aber sagen Sie das mal einem Gehirn, das verzweifelt nach einem passenden Wort zu einem unverständlichen Klangbild sucht.)

Immerhin hören wir beim Verhören noch alles. Das ist keineswegs selbstverständlich. Wenn unser Gehirn nämlich trainiert, die wichtigen Informationen zu erkennen, übt es sich zugleich darin, alles Unwichtige zu ignorieren. Das geht so weit, dass wir objektiv vorhandene Laute überhaupt nicht wahrnehmen, so, als würde es sie gar nicht geben. Auf einer abgelegenen Pazifikinsel lebten Urvölker, deren Sprache für uns unhörbare Vokale enthielt. Ich meine damit nicht etwa «unaussprechliche» Vokale oder Konsonantenkombinationen, wie sie in vielen Sprachen vorkommen. Nein, die Laute dieser Völker lösten in den Gehirnen der Anthropologen und Kulturwissenschaftler, die dort ihre Forschungen durchführten, absolut keine Reaktion aus. Dabei dürften ihre Ohren durchaus etwas registriert haben, denn die Schallmessgeräte der Wissenschaftler schlugen eindeutig an. Aber die Gehirne der Forscher waren einfach nicht darauf konditioniert, diese Informationen ins Bewusstsein dringen zu...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2016
Zusatzinfo Zahlr. 4-farb. Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Adaption • Gehirn • Kognition • Körpersprache • Menschen lesen • Priming • Sehen • Soziale Interaktion • Soziale Signale • Wahrnehmung
ISBN-10 3-644-56161-3 / 3644561613
ISBN-13 978-3-644-56161-8 / 9783644561618
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