2 Problemzonen
Wir haben nun ausführlich die verschiedenen Teilaspekte kennengelernt, die der Interaktion und Kommunikation mit anderen zugrunde liegen, nämlich sprachlich und nicht-sprachlich vermittelte Signale, der situative Kontext und das Vorwissen über die Person, mit der wir interagieren oder kommunizieren. Wir können uns nun – entsprechend vorinformiert – den verschiedenen Störungen und Schwierigkeiten zuwenden, auf die Menschen mit Autismus in diesen Bereichen stoßen. Es ist dazu notwendig, das innere Erleben von autistischen Personen näher zu untersuchen. Im Folgenden werden auch einige Personen mit Autismus selbst zu Wort kommen.
Im Vordergrund dieses zweiten Kapitels steht das Mentalisierungsdefizit, also die Schwierigkeit des »Sich-Hineinversetzens« in andere. Damit hängen eine ganze Reihe von weiteren Schwierigkeiten im Sozialen zusammen, die ebenfalls erörtert werden. Dazu gehört etwa das Phänomen des »Eindrucks auf den ersten Blick« oder des »ersten Eindrucks«. Daneben sind aber auch weitere Auffälligkeiten zu erwähnen, über die autistische Personen oft berichten, nämlich das Bedürfnis nach Regelmäßigkeiten sowie andere Veränderungen im Bereich der Wahrnehmung.
Intelligente Kompensation bis ins Erwachsenenalter
Eine wichtige Vorbemerkung muss hier vorangestellt werden. Erwachsene Menschen mit einer autistischen Verfassung, die zum ersten Mal im Erwachsenenalter bei sich selbst das Vorliegen einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum erwägen, oder bei denen Angehörige diese Frage vorlegen, sind in mindestens zweierlei Hinsicht eine besondere Gruppe von Personen.
(1) Zum einen handelt es sich in aller Regel um »hochfunktional« autistische Personen. Das bedeutet, dass keine Intelligenzminderung oder Lernbehinderung und keine anderen relevanten kognitiven Einbußen vorliegen (bis auf die im Folgenden thematisierten Probleme im Bereich der Interaktion und Kommunikation). Die Intelligenz liegt meist mindestens in einem durchschnittlichen Bereich, in der Kölner Spezialambulanz liegt z. B. der Intelligenzquotient aller als autistisch Diagnostizierten sogar leicht über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Man könnte also auch von einer Teil-Leistungsstörung sprechen, die im Kern die Fähigkeiten zur sozialen Kognition betrifft, also alle solchen Prozesse, die sich mit der Interaktion und Kommunikation mit anderen Personen beschäftigen. Dagegen sind andere Funktionen einschließlich Intelligenz, Gedächtnis, Aufmerksamkeit oder die komplexen Leistungen, die unserer Handlungsplanung im Sinne der sogenannten exekutiven Funktionen zugrunde liegen, oft unbeeinträchtigt.
(2) Zum anderen ergibt sich aus dieser normalen Intelligenz der zweite Aspekt, der diese Gruppe von erwachsenen Personen, die erstmals über eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum nachdenken, hervorhebt. Aufgrund der hohen Intelligenz ist davon auszugehen, dass diese Personen längst ein Bewusstsein von den eigenen Schwierigkeiten und Störungen bekommen haben. Diese Einsicht hat natürlich auch dazu geführt, dass sie Ersatzstrategien entwickelt haben, wie man mit den eigenen Defiziten umgehen kann. So kann ein Teil der Beeinträchtigungen von den Betroffenen selbst schon aufgefangen werden. Beispielsweise können intelligente autistische Kinder und Jugendliche soziale Regeln erlernen, wie man sich bei Geburtstagen oder Familienfeiern allgemein verhält, dass man bei Gesprächen anderen Personen in die Augen schaut, weil das Wegschauen üblicherweise als Unhöflichkeit oder Desinteresse interpretiert werden kann. Diese Kompensationsfähigkeit stößt allerdings regelmäßig an ihre Grenzen, und zwar immer dann, wenn entweder überwiegend nonverbale Kompetenz erforderlich wird, oder wenn sehr viel potenziell sozial relevante Information integriert werden muss wie etwa in einem laufenden Gespräch mit einer anderen Person, das nicht standardisierten Regeln folgt.
Beispiel
»Seit meiner Pubertät ist interpersonelle Kommunikation mein Lieblingsthema. (…) Zu lernen, das Handeln von Menschen vorausahnen zu können, interessierte mich.«
(Lasse von Dingens, Risse im Universum, 2010, S. 160)
Konsequenzen, die sich aus diesen Besonderheiten ergeben: Überforderung und Stress
Die Betroffenen leben schon viele Jahre mit ihren Schwierigkeiten und haben sich mehr oder weniger hilfreiche Strategien gesucht und angeeignet, um ihren sozialen Alltag so gut wie möglich zu bestreiten und um so wenig wie möglich aufzufallen. Paradoxerweise kann es also sogar so sein, dass die Anpassungsleistungen sehr gut gelungen sind und die Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit anderen oft gar nicht mehr ohne Weiteres erkennbar sind. So lassen sich Redewendungen, mit denen man Small-Talk-Situationen überstehen kann, lernen. Ebenso kann man sich im nonverbalen Bereich bestimmte Fähigkeiten aneignen wie beispielsweise das Anschauen anderer Personen während eines Gesprächs mit ihnen.
Manche Personen haben aufgrund ihrer hohen Grundintelligenz sogar Leitungsfunktionen im mittleren oder höheren Management erreicht. Je stärker aber die betroffenen Personen mit zunehmenden Leitungsfunktionen auch Aufgaben in der Personalführung zugewiesen bekommen oder je stärker Flexibilität abverlangt wird, umso eher werden Überforderungen deutlich, die auf die autistischen Kernsymptome zurückzuführen sind. Vielleicht wirkt der soziale Kontakt gelegentlich etwas unbeholfen, aber mehr wird von Außenstehenden manchmal gar nicht an der Oberfläche wahrgenommen. Die betroffenen Personen selbst beklagen aber einen sehr hohen Anspannungsgrad und eine schnelle Erschöpfbarkeit während sozialer Kontakte, was als kräftezehrend beschrieben wird. Die Konzentration ist schnell für den sozialen Kontakt verbraucht und kann, wenn der soziale Kontakt abgeschlossen ist, nicht mehr anderen Aufgaben zur Verfügung gestellt werden. Auf diese Weise erleben viele Betroffene ihr Leben als sehr anstrengend und stressreich.
Beispiel
»Ich vermute, dass ich deshalb so fertig bin, weil jegliche soziale Interaktionen während der Arbeitszeit meine ganze Energie verbrauchen.«
(Carsten, Risse im Universum, 2010, S. 219)
Dieser Umstand des erlernten »Überspielens« der eigenen sozialen Schwierigkeiten kann dazu führen, dass einige Symptome im ersten Kontakt schwer zu erkennen sind. Diese Kompensationsstrategien können auch die Diagnosestellung im Erwachsenenalter deutlich erschweren. Bei hinreichender Kenntnis des autistischen Erlebens lässt sich aber verlässlich prüfen, ob sich unter der Oberfläche des Verhaltens tatsächlich autistisch geprägtes inneres Erleben verbirgt, das dann zu Überforderung und Stress führen kann. In einer eigenen Befragung betroffener autistischer Personen, die zur Vorbereitung einer Gruppenpsychotherapie durchgeführt wurde (Gawronski et al., 2012), zeigte sich, dass etwa zwei Drittel der Befragten Hilfe bei der Reduzierung von Stress wünschten. Woher dieser Stress vermutlich rührt und wie man ihm entgegentreten kann, soll im Folgenden erörtert werden.
2.1 Mentalisierungsdefizit
Die Kernschwierigkeit bei sozialen Interaktionen betrifft das automatische, unbewusste »Sich-Hineinversetzen« in andere, das für Menschen mit Autismus entweder nur schwer möglich oder gänzlich unmöglich ist. Wir haben diese Leistung auch schon als Mentalisierungsfähigkeit (Abschn. 1.2) kennengelernt. Der sonst schnell und intuitiv erfassbare Gesamteindruck eines anderen muss von betroffenen Personen aus verschiedenen Hinweisreizen erst »ausgelesen« und bestimmt werden. Dazu gehören unter anderem sprachliche Signale (Absch. 2.3) oder mimisch oder gestisch vermittelte Ausdrucksweisen (Abschn. 2.4), die ihrerseits ihre Schwierigkeiten aufweisen, wie noch weiter auszuführen sein wird. Während das intuitive oder automatische Erkennen psychischer Verfassungen von Personen also zumindest erschwert oder aber auch ganz unmöglich ist, bleibt die Möglichkeit erhalten, über die Verfassung der anderen Person mittels schlussfolgerndem Denken nachzudenken, nachdem alle wichtigen Signale, die in der Kommunikation informativ sind, analysiert wurden.
Bewältigen strukturierter Situationen. Erwachsene autistische Personen absolvieren die meisten klassischen Testverfahren zur Mentalisierungsfähigkeit ohne Probleme (Abschn. 1.2), wohingegen sie im komplexen sozialen Alltag oft massive Schwierigkeiten haben, die innere Verfassung oder die mentalen Zustände bei anderen Personen zu erkennen. Dies ist dadurch erklärbar, dass intelligente autistische Erwachsene durchaus in der Lage sind, sich die Überzeugungen, Gefühle und Gedanken anderer Menschen mit Hilfe von oft mühsam erlernten, expliziten Regeln und Formeln zu erschließen. In den klassischen Testverfahren zur Theory-of-Mind besteht meist die Möglichkeit, auf diese erlernten Fertigkeiten zurückzugreifen, da in den Aufgaben oft eine klar strukturierte soziale Situation beschrieben wird und genügend Zeit zur Lösung der Aufgabe zur Verfügung steht. Diese eher rational und analytisch vorgehende Interpretation des Verhaltens und des inneren Erlebens anderer Personen wird von nicht-autistischen Personen oft fälschlich mit emotionaler Kälte oder mangelndem Interesse an der anderen Person verwechselt.
Beispiel
»Wenn man Probleme hat, Kontakt zu anderen zu finden, bedeutet das nicht, dass man kein Interesse an Beziehungen hat. Wenn man seine Gefühle nicht richtig zeigen kann, bedeutet das auch nicht, dass man gefühllos sei.«
(Prinz...