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Graffiti Writing in Deutschland. Seine Ästhetik und sein sozialer Kontext: "Imagine your name here" - Johannes Temeschinko

Graffiti Writing in Deutschland. Seine Ästhetik und sein sozialer Kontext: "Imagine your name here"

Buch | Softcover
120 Seiten
2015 | 1. Erstauflage
disserta Verlag
978-3-95935-124-9 (ISBN)
CHF 62,95 inkl. MwSt
Die Fahrt von der S-Bahnstation Berlin Schönhauser Allee über den ehemaligen Grenzstreifen, der bis 1989 die Stadt teilte, bis zur Station Gesundbrunnen im Wedding dauert heute nur noch knapp anderthalb Minuten. Aber in diesen anderthalb Minuten rauscht der arglose Passagier an einer Menge visuellen Inputs vorbei.BAD, DISTER, AKIM, EHSONE: Namen von unmissverständlicher Intensität.Meterhoch und dichtgedrängt kleben sie an den Wänden der Tunnel, an den Brückenpfeilern und Häuserfassaden, an den Schallschutzmauern und den Betonabdichtungen. Groß, bunt und ins Auge stechend – man kann sich ihrer optischen Präsenz nicht entziehen, selbst, wenn man es wollte. Das Schauen aus dem Fenster rückt ohne Ausweichmöglichkeit Bilder ins Blickfeld des Betrachters, die heutzutage in mindestens ähnlicher Größe wie die alten Meisterstücke im Louvre um die Aufmerksamkeit des Schauenden kämpfen. Urbanes Graffiti zu Beginn des 21. Jahrhunderts.Oder besser gesagt: in erster Instanz kryptisch anmutende Zeichen, die sich neben- und übereinander lagernd die Wände entlang schlängeln, sodass aus dem vorbei rauschenden Zug eine Art zweite Haut, ein Überzug aus Farben an den Mauern suggeriert wird. [.]Daher gilt es in dieser Arbeit zunächst, das Zeichensystem der urbanen Graffiti-Kultur in seinen einzelnen Ausprägungen vorzustellen und anhand exemplarischer Abbildungen ein Fazit zu treffen, inwiefern Graffiti-Zeichen durch ihre ästhetische Komponente als verbindliche visuelle Ausdrucksform aufgefasst werden. Und zwar aufgefasst als ein neues Zeichensystem, das sich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren in Deutschland etabliert hat und möglicherweise als ein weltweit verständlicher Code anzusehen ist. Zu diesem Zweck werde ich mich nach einem historischen Abriss über die Entwicklung der Graffiti-Kultur auf die Hauptstadt Berlin konzentrieren, da hier nicht nur das politische Zentrum zu finden ist, sondern Berlin daneben als eine der Graffiti-Metropolen Europas angesehen wird.Einleitend wird ein Überblick über den Forschungsstand gegeben, denn die Graffiti-Szene zeichnet sich – dabei beziehe ich mich nur auf Deutschland – nicht durch eine differenzierte Darstellung im zeitgenössischen Diskurs aus, und dies zu ändern ist nicht zuletzt mein Anliegen mit dem vorliegenden Buch. [.]

Textprobe:Kapitel 4.5. Motivation zum Zeichen:Es gibt verschiedene Formen der Selbstvergewisserung, wenn man als Bestandteil einer millionenfachen Gemeinschaft dieser seine Individualität unter Beweis stellen will. "Der Mensch in einer neuen Existenzform, eben der großstädtischen, will sich selbst begreifen."Es liegt auf der Hand, dass dieser Prozess der Selbsterkenntnis und der ästhetischen Forschung stets individuell vonstatten geht und keinem einheitlichen Muster folgt.Der psychologischen Studie von Manig und Rheinberg aus dem Jahr 2003 zufolge können Motivation und motivierende Aspekte nicht oder nur unzureichend den Anreiz und das sogenannte Flow-Erleben beim Writing erklären. Mit den gesellschaftlich anerkannten Kategorien zur Leistungsbemessung kommt man nicht weiter, wenn "[a]us der Perspektive konventioneller Belohnungssucher also alles gegen diese Aktivität [spricht]."Demnach gelangt man aus psychologischer Sicht folgerichtig zu der Annahme, es müsse ein Anreiz im eigentlichen Vollzug der Tätigkeit liegen, bzw. die Risiken rechtfertigen den Status eines Writers in Bezug auf die Produktion seiner Zeichen."Graffiti ist Konkurrenzkampf: Du willst den anderen zeigen, dass du besser bist als sie und dass du Dinger bringst, die sie nicht bringen können." Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, bedarf es allerdings keiner aufwendigen empirischen Untersuchung - Manig und Rheinberg haben 138 Anreizschilderungen gesammelt, die sie im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit in 294 Interviews mit Writern überprüft haben - wie ein Statement aus der Writing Kultur beweist: "Fame hat mehr einen sozialen Hintergrund in einer Zeit der anonymen digitalen und visuellen Welt der namenlosen Massen. Getting Up. [...] In einer Gesellschaft, die einen Scheiß auf den einzelnen gibt, spielt Anerkennung eine große Rolle." Die vornehmliche Motivation ist das Bekanntwerden (getting up) unter einem anderen Namen, in dem sich der Charakter spiegelt, aber sein Träger anonym bleibt.In diesem Zusammenhang fällt auf, dass trotz ihrer Abgrenzung gegenüber der Stammkultur die Writer innerhalb ihrer Subkultur ähnliche Kategorien zur Bemessung einer Leistung heranziehen, wie sie sonst im anerkannten Rahmen verwendet werden, womit eine Trennung zwischen beiden Kulturbereichen nicht eindeutig möglich ist.Die Motivation sich abzuheben führt in einem zweiten Schritt wiederum zur Situation, in der ein Writer sein Können (oder Unvermögen) zur vergleichenden Kritik stellt. "Du lebst unter Millionen von Menschen, bist ne kleine Nummer und hast keinen Bock mehr darauf. [...] Du schaffst dir eine zweite Identität. In diese Buchstaben packst du alles, was du erlebst und auf dem Herzen hast; oder auch wie du gern sein würdest. Und das alles, um deine Konkurrenten zu burnen und Dein eigenes Ego zu bekämpfen. [...] Das Ziel [ist], der Beste zu sein."Aufgrund dieser Konstellation funktioniert es nicht, sich mit dem Verweis auf seine Individualität vor dem Vergleich mit anderen Anhängern der Subkultur zu verweigern (s.o.:'Ich male nur für mich und meine Jungs'). Die Motivation wird vielmehr erheblich dadurch gesteigert, dass im Bewusstsein des Produzenten stets ein potentielles Publikum mitschwingt, dem er seine Zeichen aufzwingt.Das Öffentlichmachen seines Codes zieht immer einen öffentlichen Diskurs nach sich - ich erinnere an Mailers Diktum von 1974: 'the name is the faith of graffiti'.Meines Erachtens stellt daher die Psychologie nicht die richtige Frage, welche allerdings eher in den sozialen Kontext gehört: Wie schaffe ich es, von einem niemand zum jemand zu werden?Das gleichermaßen hohe Flow-Erleben, das Manig und Rheinberg sowohl für legales wie auch illegales Writing ermitteln, zielt lediglich auf den Zustand der Tätigkeit selbst - womit ich nicht sagen will, dieser Prozess bedarf nicht ebenfalls genauerer Untersuchungen, wie sie in den Anfängen nun zu finden sind. Das Erleben im Moment des Schreibens von Tags ode

Erscheint lt. Verlag 3.7.2015
Sprache deutsch
Maße 155 x 220 mm
Gewicht 199 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Kunstgeschichte / Kunststile
Geisteswissenschaften Philosophie
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Graffiti • Kulturwissenschaft • Kunstmarkt • stammkultur • Subkultur • Writing
ISBN-10 3-95935-124-0 / 3959351240
ISBN-13 978-3-95935-124-9 / 9783959351249
Zustand Neuware
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