Sex (eBook)
176 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60458-0 (ISBN)
André Comte-Sponville wurde 1952 in Paris geboren. Der ehemalige Professor für Philosophie an der Sorbonne widmet sich seit 1998 ausschließlich dem Schreiben. Mit dem internationalen Bestseller ?Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben? begründete er eine neue Welle, die ?Philosophie für alle?, die den Philosophiemarkt aufblühen ließ. Weitere große Erfolge waren ?Woran glaubt ein Atheist?? und ?Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg?. André Comte-Sponville lebt in Paris.
[12] Was ist Sexualität?
Weder Sexualität noch Tod beginnt mit uns: Letzterer ist offenbar fast so alt wie das Leben; Erstere weit jünger (das Leben war anfangs über Jahrmillionen ungeschlechtlich), jedoch viel älter als die Menschheit. Sterblichkeit und Sexualität sind zunächst einmal objektive Gegebenheiten, die auf die meisten Arten zutreffen. Aber erleben kann man sie nur subjektiv. Das gilt für den Tod (nicht die Art stirbt, sondern die Individuen) und in noch höherem Maße für die Sexualität: Nicht die Art zeugt, kopuliert, begehrt – dazu sind nur die Individuen fähig.
Was ist Sexualität? Im Französischen taucht das Wort im 19. Jahrhundert auf.2 In ihren verschiedenen Erscheinungsformen ist die Sache selbst viel älter als die ältesten Sprachen. Aus biologischer Sicht können wir alles als Sexualität bezeichnen, was die geschlechtliche Fortpflanzung betrifft. In diesem Sinne sprechen Botaniker gelegentlich von pflanzlicher Sexualität, wenn mir diese Ausdrucksweise auch etwas fragwürdig erscheint. Für die menschliche Sexualität wäre diese Definition dagegen zugleich zu eng und zu weit: Viele unserer sexuellen Handlungen oder Phantasien haben [13] nichts – oder allenfalls indirekt – mit der Fortpflanzung zu tun. Bestimmte Formen der künstlichen Befruchtung (vom Klonen nicht zu reden) können in Raum und Zeit vollkommen abgekoppelt sein von dem, was wir normalerweise unter Sexualität verstehen. Geschlechtsakt und Befruchtung mögen zwar physiologisch eng zusammenhängen, sind aber trotzdem theoretisch und praktisch zwei sehr verschiedene Vorgänge. Das ist nicht nur eine Errungenschaft der Wissenschaft, sondern auch eine Gegebenheit, die seit je die Sexualität des Menschen bestimmt. Heute können wir Kinder zeugen ohne Zeugungsakt. Mit ein bisschen Pech oder Glück war es schon immer möglich, Sex zu haben, ohne Kinder zu zeugen. Da fällt mir ein sehr alter Witz ein, der einer jungen Katholikin folgendes Gebet an die Mutter Gottes in den Mund legt: »Oh, heilige Jungfrau Maria, die du empfangen hast, ohne zu sündigen, lass mich sündigen, ohne zu empfangen!« Das Dogma von der unbefleckten Empfängnis, das uns so antiquiert erscheint (und über das Christus, nebenbei gesagt, kein Wort verlauten lässt), weist paradoxerweise eine Gemeinsamkeit mit der Empfängnisverhütung auf: Es handelt sich um zwei Strategien zur Entkoppelung von Beischlaf und Befruchtung. Nur verwunderlich, dass die Kirche darin in dem einen Fall ein Wunder und in dem anderen eine Sünde erblickt. Egal. Das Dogma und der Fortschritt bestätigen beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise – Erstere mythologisch, Letztere wissenschaftlich –, dass Fortpflanzung und Sexualität zwei verschiedene Funktionen sind, die man nicht durch die jeweils andere definieren kann.
[14] Eher eine Funktion als eine Fähigkeit
Ich werde eine andere Definition der Sexualität vorschlagen, eine, die enger ist, insofern sie sich auf eine Art konzentriert (die Menschheit, was nicht heißen soll, dass unsere Sexualität nichts zu tun hätte mit den tierischen oder pflanzlichen Spielarten der Sexualität), und zugleich umfassender, insofern sie eine Vielzahl von Phänomenen einschließt. Die Sexualität in dem Sinne, wie wir das Wort gewöhnlich verwenden, betrifft weniger die Fortpflanzung als eine Reihe von Begierden (diejenigen, die ein Mensch für einen anderen in seiner fleischlichen und geschlechtlichen Wirklichkeit empfindet) und eine Reihe von Lustempfindungen (diejenigen, die uns die Geschlechtsorgane und andere erogene Zonen verschaffen). Es geht weniger um Fruchtbarkeit als um Sinnlichkeit, weniger um Fortpflanzung als um Genuss, weniger darum, die Art zu erhalten, als Lust zu empfangen oder zu schenken. Der Sex ist nicht in erster Linie dafür da, für künftige Generationen zu sorgen. Das wissen die Liebenden. Und die Vergewaltiger auch.
Was ist Sexualität? Die Gesamtheit der Affekte, Phantasien und Verhaltensweisen, die verknüpft sind – und sei es nur in der Vorstellung – mit der Lust am Körper eines anderen oder dem eigenen, insoweit er geschlechtlich ist. Es ließe sich einwenden, diese Definition sei zirkulär (da sie das Geschlecht in die Definition der Sexualität einbezieht); aber dieser Zirkelschluss ist vorgegeben durch die Natur (die unsere: den Körper), von der alles kommt, auch die Kultur, und der sich nichts und niemand entziehen kann. Die Geschlechtlichkeit des menschlichen Körpers ist eine [15] Tatsache. Dank der Sexualität können wir mit dem Körper spielen und Lust empfinden, ihn nutzen oder auch nicht. Sie ist weniger eine Fähigkeit als eine Funktion, weniger ein Instinkt als ein Trieb.
Was ist der Unterschied zwischen einer Fähigkeit und einer Funktion? Zwar haben die beiden Begriffe durchaus miteinander zu tun, doch der erste bezeichnet ein paar mehr oder minder effiziente Mittel, die es anzuwenden gilt; der zweite betont stärker den Zweck (eher nicht zielgerichtet: Darwin), auf den diese Mittel ausgerichtet sind. So gibt es die Funktion der Ernährung oder der Fortpflanzung; und die Fähigkeit, die man hat oder nicht, sich zu ernähren oder fortzupflanzen. Die Funktion ist der Art eigen und bleibt abstrakt oder virtuell, solange kein Individuum die Fähigkeit aufbringt, sie zu verwirklichen. Die Fähigkeit dagegen besitzt das Individuum in stärkerer oder schwächerer Form: Die Gesamtheit der – beispielsweise organischen – Mittel befähigen es, die eine oder andere Funktion zu erfüllen, mit anderen Worten, dieses oder jenes zu machen (lateinisch facultas – Fähigkeit – kommt von facere – machen, tun), beispielsweise zu denken, zu wollen, Lust zu erleben. Die Fähigkeit ist eine »Kraft« (Locke)3, ein »Vermögen« (Kant)4, ein »tätiges Vermögen« (Leibniz)5. Die Funktion [16] bleibt erhalten, und sei es als Defizit, wenn wir nicht oder nicht mehr können.
Eher ein Trieb als ein Instinkt
Welcher Unterschied besteht zwischen Instinkt und Trieb? Auch diese beiden Begriffe haben miteinander zu tun: Beide lassen sich dem Oberbegriff der angeborenen Verhaltenstendenzen zuordnen. Doch der Instinkt ist eine Tendenz mit eingebauter Bedienungsanleitung, ein Wissen, das biologisch weitergegeben wird. Der Trieb dagegen enthält keine Bedienungsanleitung, kein angeborenes Wissen: Er drängt uns dazu, in einer bestimmten Weise zu handeln (und ist infolgedessen eine Verhaltenstendenz), aber ohne dass er mit seiner genetischen Botschaft ein explizites Ergebnis anstrebt noch uns die Mittel in die Hand gibt, es zu erreichen. Vögel können Nester bauen und Spinnen Netze weben, ohne es lernen zu müssen. Das sind instinktive Verhaltensweisen, für die die Gene genügen. Der Mensch ist in dieser Hinsicht ziemlich benachteiligt, denn er wird nur mit wenigen Instinkten geboren (Saugen, Greifen…), zu denen die Sexualität definitiv nicht gehört. Wir erhalten sie ohne Bedienungsanleitung. Deshalb interessieren sich Kinder so vehement für Zweck und Funktion der Genitalien (lesen Sie nach, was Freud über die sexuelle Neugier schreibt), und die Erwachsenen kaum weniger. Das sexuelle Begehren lehrt uns nicht, was wir beim Geschlechtsakt zu tun haben, nicht, was der andere begehrt, und noch nicht einmal immer, was wir selber begehren. Der Koitus? Ein [17] Trieb drängt uns zu ihm. Kein Instinkt lehrt ihn uns. Daher die Unwissenheit in den Jahren der Kindheit, dann die Unruhe, die Phantasien, später die Vorbereitungen, die Entdeckung, die Improvisation, die tastenden Versuche, die Initiation, die Lehrzeit, schließlich eine gewisse Virtuosität, zumindest zeitweise, die uns aber nicht gegen Ungeschicklichkeit feit, gegen Scheitern, mangelnde Befriedigung, Ängste… Die Harmonie der Geschlechter gibt es nicht von Natur aus. Die Organe entsprechen sich nur ungefähr. Die Begierden, Phantasien, Verhaltensweisen nicht immer. Deshalb ist alle Erotik kulturell. Wir sind Tiere, kein Vieh.
Das Obszöne und das Obskure
Hüten wir uns vor dem übereilten Schluss, dass der Mensch keine Natur hätte, oder gar, dass ihm nichts Natürliches eigen wäre. »Der Mensch hat keine Instinkte«, wurde behauptet, »er schafft sich Institutionen.«6 Mag sein, zweifellos gehört die Ehe dazu. Nicht aber die Sexualität: Sie ist kein Instinkt und noch weniger eine Institution. Sie geht jeder Entscheidung, jeder Regel, jeder Kultur voraus. »Der Mensch ist ein Tier, das im Begriff ist, die Art zu plündern.«7 Zugegeben, aber er hat es nie geschafft. Sonst gäbe es keine Menschheit mehr. Wir sind kein Vieh, das stimmt, aber wir sind Tiere und werden es immer bleiben. Das ruft uns die [18] Sexualität immer wieder ins Gedächtnis, weshalb sie so beunruhigend, aufwühlend, schockierend, so angenehm ist. Sie ist die wahre Erbsünde (»…und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren«8), allerdings keine Sünde, sondern ein Trieb, der verknüpft ist mit der Furcht, die er in uns weckt (»Ich… fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich…«9), als müsste man sich schämen, nur ein Tier, nur dieser geschlechtliche Körper zu sein. Vielleicht ist das der Punkt, wo der Verstand beginnt, in der Scham, der Beklommenheit, dem Verbot (besonders dem Inzestverbot), die uns die Sexualität entrücken – durch Kleidung, Erziehung, Ehe – und sie dadurch nur umso...
Erscheint lt. Verlag | 25.2.2015 |
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Übersetzer | Hainer Kober |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Le sexe ni la mort |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Begehren • Eros • Erotik • Leidenschaft • Lust • Moral • Philosoph • Philosophie • Sex • Sexualität |
ISBN-10 | 3-257-60458-0 / 3257604580 |
ISBN-13 | 978-3-257-60458-0 / 9783257604580 |
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Größe: 1,3 MB
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