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Liebe (eBook)

Eine kleine Philosophie
eBook Download: EPUB
2014 | 2. Auflage
176 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60426-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Liebe -  André Comte-Sponville
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»Ein interessanteres Thema als die Liebe gibt es nicht«, sagt André Comte-Sponville und fächert ein Panorama von philosophischen Ideen auf, das hilft, das große Wort »Liebe« besser zu verstehen - in all seinen Facetten. Gedanken werden leicht, klug und humorvoll dargestellt, so dass der Leser auch Rat und Anregung für sein Leben findet.

André Comte-Sponville wurde 1952 in Paris geboren. Der ehemalige Professor für Philosophie an der Sorbonne widmet sich seit 1998 ausschließlich dem Schreiben. Mit dem internationalen Bestseller ?Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben? begründete er eine neue Welle, die ?Philosophie für alle?, die den Philosophiemarkt aufblühen ließ. Weitere große Erfolge waren ?Woran glaubt ein Atheist?? und ?Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg?. André Comte-Sponville lebt in Paris.

[38] Eros
oder die leidenschaftliche Liebe

Jeder kennt das Wort »Eros«, auch in unseren modernen Sprachen, zumal die Psychoanalytiker mit ihm, als Gegensatz von »Thanatos«, den Lebenstrieb bezeichnen, der nach Freud bekanntlich der Sexualität entstammt. Ich sehe darin vor allem die Gefahr einer Verwechslung. Ein Trieb ist kein Gefühl. Die Liebe kein Instinkt. Allerdings hatte die Verwirrung schon lange vor Freud in die Sprache Eingang gefunden und treibt dort noch heute ihr Unwesen: Da von dem Substantiv »Eros« Adjektive wie »erotisch« oder »erogen« abgeleitet wurden, meinen natürlich viele, das Wort beziehe sich nur auf die Sexualität. Allerdings stimmt das nicht ganz. Eros ist für die alten Griechen nicht der Sex, jedenfalls nicht zuerst und vor allem, sondern die Liebe. Das legt die Mythologie nahe: Eros ist nicht der Gott der Sexualität (die wird eher von Priapos oder Aphrodite symbolisiert), sondern der Gott der Liebesleidenschaft.23 Das [39] bestätigt auch der Sprachgebrauch: érōs ist auf Griechisch zunächst ein Substantiv, das »Liebe« bedeutet, während der Liebesgenuss, die sexuelle Lust, gewöhnlich durch das substantivierte Adjektiv ta aphrodisia ausgedrückt wird, wobei diese Aphrodisia ebenso wenig mit Eros zu verwechseln sind wie dieser mit jenen.24 Die Griechen wussten natürlich, dass man lieben kann, ohne sich körperlich zu lieben, so wie man sich körperlich lieben kann, ohne zu lieben. Genau das erläutert die philosophische Tradition, jedenfalls seit Platon. Eros ist kein Sex, sondern Liebe oder vielmehr eine bestimmte, ganz besondere Art von Liebe. Welche? Die Liebesleidenschaft: Die Liebe, die wir empfinden, wenn wir verliebt sind, in der stärksten und wahrhaftigsten Bedeutung des Wortes, wenn wir uns »bis über beide Ohren« verlieben. Kurzum, meine Damen, es ist die Liebe, die Sie für Ihren Mann empfanden, bevor er Ihr Mann war. Oder die Liebe, die Sie für Ihre Gattin empfanden, meine Herren, bevor sie Ihre Gattin war. Rufen Sie sich ins Gedächtnis, wie anders das damals war…

Eros ist die leidenschaftliche Liebe; und es ist auch die Liebe, von der Platon spricht. Warum? Weil nach fast [40] einhelliger Meinung aller Philosophen das schönste Buch, das je über diese Form der Liebe geschrieben wurde, ein hochgerühmtes Buch von Platon ist (eines der kürzesten und verständlichsten des Autors) – die Rede ist vom Gastmahl.

Das Paradox des Gastmahls

Worum handelt es sich dabei? Um einen Dialog, wie fast immer bei Platon, oder, genauer, um den Bericht über einen Dialog, um einen Bericht über, daher der Titel, eine Mahlzeit unter Freunden, ein »geselliges Trinkgelage« (ein Symposion, was üblicherweise mit »Gastmahl« übersetzt wird). Eines Abends kommen die Gäste zusammen, um den Erfolg eines der Ihren, Agathons, zu feiern, der einen Tragödienwettbewerb gewonnen hat. Da sie schon am Vorabend kräftig getrunken haben (das Gastmahl findet am Tag nach dem Tragödienwettbewerb statt) und da sie wissen, dass das Vergnügen an einem Abend unter Freunden weniger von der Qualität der Getränke oder der Darbietungen als von der der Gespräche abhängt, schicken sie die Musiker fort, beschließen, nur mäßig zu trinken und vor allem einen schönen Gesprächsgegenstand zu wählen. Sie entscheiden sich für den schönsten von allen: Sie wollen von Liebe reden oder vielmehr von der Liebe (schließlich ist es ein Essen unter Männern, die Geständnisse bekanntlich nicht zu ihren Stärken zählen), der Liebe im Allgemeinen also, statt von ihren wirklichen und besonderen Lieben, aber das ist noch immer besser als nichts. Im Laufe des Gastmahls werden [41] nacheinander sieben Reden gehalten, eine origineller als die andere: von Phaidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes, Agathon und schließlich von Sokrates, auf dessen Rede nur noch, allerdings auf einer ganz anderen Ebene, ein Beitrag von Alkibiades folgt, der zu spät kommt und vollkommen betrunken ist.

Jeder der Gäste hält eine Rede, die zugleich der Versuch einer Definition sowie ein Loblied auf die Liebe ist, als ließe sie sich nicht anders als positiv und emphatisch definieren. Es würde den Rahmen sprengen, die sieben Reden wiederzugeben, und auch kaum von Nutzen sein, weil ihr philosophischer Wert sehr unterschiedlich ist.

In der Philosophie kommt man fast immer nur auf die beiden zu sprechen, die in ihrer Begrifflichkeit sehr komplex und anspruchsvoll sind, während die anderen eher anekdotischen Charakter haben. Fragen Sie einen Philosophieprofessor nach den Reden von Phaidros, Pausanias, Eryximachos oder Agathon: Wenn er nicht gerade ein Platon-Spezialist ist oder das Gastmahl vor kurzem noch einmal gelesen hat, ist kaum damit zu rechnen, dass er Ihnen viel über diese Beiträge sagen kann. Fragen Sie ihn jedoch nach den Reden von Aristophanes oder Sokrates, wird er Ihnen sehr wahrscheinlich eine exakte und begeisterte Inhaltsangabe liefern können. Diese beiden Reden haben die Leser schon immer fasziniert, faszinieren sie heute noch, und diese Reden möchte auch ich hier präsentieren und erläutern.

Erstaunlicherweise behalten die meisten Leser der beiden Reden gewöhnlich nur die von Aristophanes in Erinnerung. Ich erinnere mich an ein Kolloquium zum Thema [42] Liebe, das vor etwa zwanzig Jahren von der Familienplanungsstelle in Grenoble veranstaltet wurde.25 An den Diskussionen konnten sich alle Besucher beteiligen, und einige von ihnen verwiesen auf das Gastmahl von Platon, wobei sie sich stets auf die Rede von Aristophanes beriefen, nie auf die des Sokrates! Was umso erstaunlicher ist, als die Rede von Aristophanes aus Platons Sicht zwar brillant und talentiert ist (wie denn auch anders: schließlich hat Platon sie geschrieben!), vor allem aber falsch, oberflächlich, verlogen und illusionär. Im Übrigen misstraute Platon den Dichtern und verabscheute Aristophanes (der nicht nur eine Figur im Gastmahl ist, sondern auch ein realer Zeitgenosse, ein Mitbürger Platons und, im vorliegenden Fall, ein Dichter). Platon verabscheut ihn, weil er die schlimmste aller Sünden begangen hat: Er hat sich nämlich im Theaterstück Die Wolken über Sokrates lustig gemacht. Für Platon, den Schüler und Freund des Sokrates, ist das natürlich ein unverzeihlicher Fehler, vor allem nach dem Tod des verehrten Meisters, der bekanntlich zu Unrecht von seinen Richtern verurteilt wurde, den Schierlingsbecher zu trinken… Insofern ist es ausgeschlossen, dass Platon Aristophanes die Wahrheit über die Liebe sagen lässt. Bei Platon gibt es nur einen, der die Wahrheit über die Liebe – wie über jedes andere Thema – verkündet, und das ist Sokrates, Platons Lehrer, der schon tot ist, als Platon seine Bücher schreibt, aber der Mann bleibt, durch dessen Mund sich Platon weiterhin äußert. Das erklärt, warum sich die Philosophen seit [43] vierundzwanzig Jahrhunderten vor allem für die Rede des Sokrates interessieren. Wie kommt es, dass die breite Öffentlichkeit eher die brillante und falsche Rede des Aristophanes behält und fast immer die brillante und wahre Rede des Sokrates vergisst? Das ist kein Zufall. Aristophanes beschreibt die Liebe so, wie wir sie gern hätten: die Liebe, von der wir träumen, die große Liebe, die ewige Liebe, wie wir mit sechzehn sagten; da diese unseren Wünschen und Illusionen entspricht, erinnern wir uns gern an die Geschichte des Aristophanes. Sokrates hingegen beschreibt die Liebe nicht, wie wir sie uns wünschen, sondern so, wie sie ist: Bei ihm geht sie immer mit Mangel, Unvollkommenheit, Einsamkeit und Rastlosigkeit einher, so dass uns nur das Unglück oder die Religion bleibt. Da diese Vorstellung viel schwieriger, viel anspruchsvoller ist, sind die Leser gewöhnlich bestrebt, sie möglichst schnell zu vergessen.

Die beiden Reden sind also aus unterschiedlichen Gründen interessant: die des Aristophanes, weil sie uns die Illusionen der Liebe vor Augen führt; die des Sokrates, weil sie uns die Enttäuschungen der Liebe schildert – und damit die Liebe, wie sie in Wahrheit ist.

Die Rede des Aristophanes: Die Illusionen der Liebe

Beginnen wir mit der Rede des Aristophanes. Die Illusion kommt zuerst. Mit ihr müssen wir beginnen, damit wir zur Wahrheit gelangen können.

Aristophanes ist ein Dichter; folglich lässt Platon ihn [44] auch die Rede eines Dichters halten. Wenig Begriffe, viel Phantasie. Wenig Strenge, viel Begeisterung. Aristophanes erzählt uns eine Geschichte, in diesem Fall einen Mythos, das heißt eine Geschichte, die sich in einer fernen Urzeit ereignet, einer Zeit vor der Zeit, einer Zeit, die in Geschichtslosigkeit und Ewigkeit entrückt ist. Damals, so erklärt Aristophanes, seien die Menschen keineswegs so gewesen, wie wir sie heute sehen. Jeder Mann und jede Frau war doppelt und doch eine vollkommene Einheit. Beispielsweise hatten die Menschen nicht zwei Arme und zwei Beine wie Sie und ich, sondern vier Arme und vier Beine. Sie hatten nicht ein Gesicht, wie Sie und ich, sondern zwei Gesichter, eines vorne, das andere hinten. Sie hatten nicht ein Geschlechtsorgan wie Sie und ich, sondern zwei: Die einen hatten zwei männliche Geschlechtsorgane, die hießen Männer; andere hatten zwei weibliche Geschlechtsorgane, die hießen Frauen; wieder andere hatten ein männliches und ein weibliches Geschlechtsorgan, das waren Mann-Frauen, Androgyne auf...

Erscheint lt. Verlag 26.11.2014
Übersetzer Hainer Kober
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel L'Amour
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Einsamkeit • Eros • Leidenschaft • Liebe • Lust • Macht • Moral • Nächstenliebe • Narzissmus • Philosoph • Philosophie
ISBN-10 3-257-60426-2 / 3257604262
ISBN-13 978-3-257-60426-9 / 9783257604269
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