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Mädchen- und Frauenbildung in Europa (eBook)

Von 1500 bis zur Gegenwart
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
509 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-42156-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mädchen- und Frauenbildung in Europa -  Juliane Jacobi
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Neuere Gesamtdarstellungen der deutschen Bildungsgeschichte berücksichtigen die Mädchenbildung allenfalls marginal. Auch europäische Perspektiven werden in ihnen fast gar nicht eingenommen. In ihrem komparativ angelegten Buch - der Summe ihrer langjährigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Mädchen- und Frauenbildung - folgt Juliane Jacobi einem anderen Ansatz: Sie bezieht die für die Bildungsgeschichte Europas besonders aufschlussreiche frühe Neuzeit mit ein und greift bis ins 20. Jahrhundert mit seinen veränderten Geschlechterordnungen aus. Im Fokus steht dabei die Entwicklung der Mädchen- und Frauenbildung in Deutschland, Frankreich und England; Blicke nach Süd- und Osteuropa sowie nach Skandinavien und in die Niederlande ergänzen das Bild.

Juliane Jacobi war von 1996 bis zu ihrer Emeritierung 2010 als Professorin für Historische Pädagogik an der Universität Potsdam tätig.

Juliane Jacobi war von 1996 bis zu ihrer Emeritierung 2010 als Professorin für Historische Pädagogik an der Universität Potsdam tätig.

Inhalt

Einleitung: Warum eine vergleichende Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung seit der Frühen Neuzeit? 9

1 Ehrbarkeit und Frömmigkeit (1500-1700) 17
1.1 Weibliche Bildungsideale im Spannungsfeld der Konfessionen 17
1.1.1 Die Erziehung zur Ehefrau und Mutter 20
1.1.2 Weibliche Gelehrsamkeit als Ausnahmefall 33
1.1.3 Die Alternative: Ehelosigkeit 46
1.1.4 Französische Salonkultur 61
1.2 Bildungsangebote für Mädchen 65
1.2.1 Privaterziehung 66
1.2.2 Schulen 70
1.2.3 Der Lehrstoff: Lesen, Schreiben, Nähen 87
1.2.4 Alphabetisierungsrate der Mädchen 92
1.2.5 Schulmeisterinnen und Ordensfrauen 96
1.3 Zusammenfassung 104

2 Vernunft, Gefühl und Tugend (1700-1800) 107
2.1 Erziehungstheorie - mehr als nur Rousseau 109
2.2 Französische Pädagogik 122
2.3 Englische Pädagoginnen 128
2.4 Deutschlands Töchter 137
2.5 Erziehung und Unterricht 142
2.5.1 Privaterziehung 142
2.5.2 Fortbildung durch Lektüre 145
2.5.3 Internate und Pensionate 148
2.5.4 Stadtschulen für den Mittelstand 159
2.5.5 Elementar-, Armen- und Industrieschulen 162
2.6 Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? 170
2.7 Zusammenfassung 172

3 Bildung und fromme Häuslichkeit (1800-1860) 175
3.1 Rosenstreuende Engel und Mütter der Nation 177
3.1.1 Weibliche Liebestätigkeit: die Romantisierung der Religion 189
3.1.2 Das Hauswesen als staatstragende Aufgabe 195
3.2 Pensionate, Töchterschulen und boarding schools 200
3.2.1 Unternehmerinnen, Lehrkongregationen und der Staat: Frankreich 203
3.2.2 Von der Wohnstube zum Klassenzimmer: Deutschland 207
3.2.3 Mädchenschulen als family home: England 217
3.3 Lehrpläne und Methoden 220
3.3.1 Tendenz zur Nützlichkeit 220
3.3.2 Näh- und Strickschulen 223
3.3.3 Prüfungen als Gefahr für die Weiblichkeit 225
3.4 Kulturimperialismus und Frauenförderung - europäische Mädchenbildung außerhalb Europas 229
3.5 Zusammenfassung 233

4 Politisierung und weiblicher Kulturbeitrag (1860-1918) 235
4.1 Die Gesellschaft, der Staat und die Mütter 238
4.1.1 Getrennte "Lebenskreise" für Frau und Mann 240
4.1.2 Weibliche Erwerbstätigkeit und mütterlicher Beruf 247
4.2 Elementarbildung für brave Mädchen aus dem einfachen Volk 254
4.2.1 Ein Meilenstein: die allgemeine Schulpflicht 257
4.2.2 Organisation der Elementarschulen 260
4.2.3 Elementarbildung geschlechtstypisch 265
4.2.4 Berufsziel: Lehrerin 271
4.2.5 Nationale Entwicklungen in der Lehrerinnenausbildung 276
4.3 Sekundarschulen und Hochschulzugang 277
4.3.1 Frankreich: Mädchenbildung zwischen Kirche und Staat 278
4.3.2 Deutschland: der Ausbau der Töchterschule zur höheren Mädchenschule 289
4.3.3 England: Privatschulen für Mädchen 307
4.3.4 Der Kampf um die akademische Bildung 317
4.4 Ausbildung als Vorbereitung für neue Berufsfelder 320
4.5 Zusammenfassung 344

5 Gleichheit und Ungleichheit: 1918-2000 349
5.1 "Emanzipation unter Vormundschaft" 350
5.2 Schulen: Chancengleichheit und Geschlechterdifferenzierung 358
5.2.1 Auf dem Weg zur "Demokratisierung": die Zwischenkriegszeit 358
5.2.2 Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg 380
5.2.3 Bildungschancen für Mädchen 395
5.3 Bildung und Ausbildung für "Frauenberufe" 399
5.4 Die akademischen Studien für Frauen 410
5.4.1 Bildungspolitik in Frankreich, Deutschland und England 411
5.4.2 Studienfachwahl: autonome Entscheidungen? 424
5.4.3 Studienbereitschaft, Eheschließung und Studienabbruch 427
5.4.4 Deutschland - eine verspätete Nation? 431
5.5 Gleichheit und Ungleichheit 436

Lebensverhältnisse - Bildungsverhältnisse 441

Abkürzungen 449
Literatur 450
Auswahlbibliografie 488
Bildnachweis 490
Danksagung 491
Register 493

Wer würde der englischen Historikerin Catherine Macaulay (1731-1791) heute noch widersprechen, die im Zeitalter der Aufklärung die Vorstellung für 'absurd' erklärte, 'dass die Erziehung des weiblichen Menschen der des männlichen entgegengesetzt sein solle', und Eltern aufforderte, ihre Söhne und Töchter gemeinsam zu erziehen? Im 21. Jahrhundert werden Mädchen und Jungen in Europas öffentlichen Schulen überwiegend gemeinsam erzogen, um 'der Vermischung der Geschlechter, die in allen europäischen Gesellschaften vorherrscht', angemessen Rechnung zu tragen. Dabei bestand in den meisten europäischen Ländern jahrhundertelang Konsens darüber, dass Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet werden sollten; denn Mädchen mussten auf ein Erwachsenendasein vorbereitet werden, in dem Frauen in anderen rechtlichen, kulturellen und sozialen Verhältnissen lebten als Männer. Selbst heute ist die Debatte um die gemeinsame Erziehung von Mädchen und Jungen nicht verstummt. Denn die Gleichheit aller Schülerinnen und Schüler, die die bildungspolitische Rhetorik seit den großen Bildungsreformen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschte, hat sich spätestens in dem Moment als Fiktion erwiesen, als man die Geschlechterdimension empirisch einbezog: Die Zahlen zur Verteilung von Jungen und Mädchen auf Schultypen und Bildungsgänge und zur Entwicklung der Bildungsbeteiligung zeigen, dass weiterhin Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen bestehen. Dass die Mädchen gemessen an ihrer Leistung zudem in der Schule erfolgreicher als die Jungen sind, führt zu neuen Kontroversen. Weil das Geschlecht eines Kindes offensichtlich nach wie vor bei Bildungsentscheidungen, Bildungserfolg und Erwerbschancen eine, oft sogar die entscheidende Rolle spielt, werden Koedukation und neuerdings auch die wachsende Präsenz von Frauen als Lehrerinnen zum Gegenstand pädagogischer und bildungspolitischer Debatten.

Wenn von Erziehungs- und Bildungsverhältnissen die Rede ist, bleibt das Geschlecht der betroffenen Personen also ein Thema. Dies wird in den wenigsten bildungsgeschichtlichen Darstellungen, die meist eine Geschichte der Jungen- und Männerbildung erzählen, angemessen berücksichtigt. Erst im Zusammenspiel mit einer Darstellung der Mädchen- und Frauenbildung kann die Bildungsgeschichte beleuchten, warum die Geschlechterverhältnisse bei allem Wandel von einem bemerkenswerten Beharrungsvermögen geprägt sind.

Anders als in anderen europäischen Ländern wurde die Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung in Deutschland von der neueren historischen Bildungsforschung nie zusammenhängend dargestellt. Dabei haben zahlreiche Studien zu einzelnen Epochen der Mädchenbildung und zur Schulentwicklung, zu einzelnen bildungsgeschichtlich relevanten Personen, Schulen und Themen, zu einzelnen Städten oder Ländern in den letzten Jahrzehnten eine Fülle an neuen Informationen hervorgebracht - diese verlangen eine Synthese.

Vier Gründe waren dafür ausschlaggebend, dass sich diese Darstellung nicht auf die deutsche Geschichte beschränkt. Erstens hat eine zunehmende Anzahl von Forschungen zur Mädchen- und Frauenbildung in Frankreich und England aus den letzten drei Jahrzehnten dazu geführt, die Bildungsgeschichte dieser Länder neu zu deuten. Davon haben auch die Forschungen zur deutschen Bildungsgeschichte als Geschlechtergeschichte profitiert. Zweitens schützt der Vergleich vor Verzerrungen, denen bildungsgeschichtliche Entwicklungen im Allgemeinen, die Mädchen- und Frauenbildung im Besonderen häufig unterliegen, weil die nationale Perspektive in der historischen Bildungsforschung besonders ausgeprägt ist. Wird doch etwas oft als 'deutsch', 'französisch' oder 'englisch' wahrgenommen, was Mädchen und Frauen in ähnlicher Weise in ganz Europa betroffen hat. Ehe und Mutterschaft als Lebensaufgaben, auf die Erziehung vorbereiten sollte, sind nicht nur pädagogisches Erbe der deutschen Klassik, der 'gemäßigten' Frauenbewegung oder wahlweise des Nationalsozialismus, sondern haben die Mädchenbildung überall in Europa geprägt. Drittens treten aber auch die nationalen Unterschiede durch den Vergleich stärker hervor. Und viertens schließlich ist die Zirkulation von Ideen selbst aufschlussreich, denn unser Bild von Europa und seiner Geschichte wird damit um zwei wesentliche Dimensionen vervollständigt, die leicht in Vergessenheit geraten: die ungleichen Lebenschancen von Menschen wegen ihres Geschlechts und der Kampf um Frauenrechte.

Warum mit dem Jahr 1500 beginnen? Das Jahr 1500 liegt zwischen zwei Ereignissen, die das Gesicht Europas grundlegend veränderten und seine Geschichte bis heute prägen: der Entdeckung der Neuen Welt und dem Beginn der Kirchenspaltung im westlichen Christentum. Während die Entdeckung einer neuen Welt jenseits des großen Ozeans für unser Thema zunächst nur von marginaler und allenfalls indirekter Bedeutung ist, so ist es durchaus gerechtfertigt, eine Darstellung der Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung in Europa mit den Umbrüchen durch die Kirchenreform im 16. Jahrhundert zu beginnen. Zwar wird die Bedeutung der Reformation für die Bildungsgeschichte in Deutschland in mancher Hinsicht überschätzt, ihre Auswirkungen auf die europäische Geschlechterordnung waren jedoch epochal. Vor allem das neuzeitliche Eheverständnis bestimmt für die folgenden Jahrhunderte Ziele, Debatten und Inhalte der Mädchenbildung. Seit dieser Zeit wird die Frage nach gleichberechtigter Teilhabe an Wissen oder nach einer in Form und Inhalt besonderen Bildung von Mädchen und Frauen diskutiert. In der Erziehungspraxis fiel die Entscheidung meist zugunsten einer speziellen Mädchenbildung aus, wenn auch mit unterschiedlichen Auswirkungen auf deren institutionelle Verankerung in den verschiedenen Ländern. Eine starke eigenständige Tradition von Mädchenschulen, die von Frauen geleitet, deren Unterricht von ihnen getragen wurde und deren Spuren sich bis heute nicht nur in Europa, sondern auch auf den anderen Kontinenten verfolgen lassen, hat sich nach der Kirchenspaltung nur in der katholischen Welt etabliert. Im protestantischen West-, Mittel- und Nordeuropa entwickelte sich zwar auch ein eigenes Bildungsmilieu von Frauen für Frauen, es war jedoch schulisch zunächst weniger profiliert als das katholische Ordensschulwesen.

Die frühneuzeitlichen Debatten und ihre Auswirkungen auf Erziehungsprogramme, Lebensformen und Bildungserfahrungen von Frauen in Schule und Unterricht stellen das Thema des ersten Kapitels dar. Dass Erziehung und Bildung, als fromme oder als vernunftgeleitete 'Seelenführung', den Menschen erst zum Menschen macht, gilt nach der neuen Philosophie des ausgehenden 17. Jahrhunderts auch für Mädchen und Frauen.

Zugleich bestimme die Natur Frauen in Abhängigkeit vom Mann zur Mutterschaft, so die Meisterdenker der Aufklärung. Die meisten von ihnen erklärten deshalb das Gefühl zum ureigensten Terrain von Frauen und sahen es als Aufgabe der Mädchenerziehung, dieses entsprechend auszubilden. Im 'pädagogischen' 18. Jahrhundert entstanden auch die ersten Musterschulen, die im 19. Jahrhundert als höhere Töchterschulen den Bildungsbedürfnissen der wohlhabenden, gebildeten bürgerlichen oder adeligen Oberschichten entsprachen. Dies wird im zweiten Kapitel dargelegt. In diesem Zusammenhang kommen die Stimmen von Frauen, die sich vernehmbarer in die Diskussionen über Mädchenbildung einmischten, selbst vermehrt zu Wort. Frauen griffen die Frage der Besonderheiten der Mädchenbildung auf und die meisten von ihnen forderten, als vernünftige Wesen in einer ihnen selbst gemäßen Weise am Wissen der Männer partizipieren zu können.

Als Reaktion auf die Zerstörung der alten Gesellschaftsordnung durch die Französische Revolution setzte sich - gegen Macaulays Wahrnehmung einer mixture of the sexes - die Vorstellung von den separate spheres der Geschlechter durch, die den Diskussionen und den institutionellen Entscheidungen über die Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert ihren prägenden Stempel aufdrückten. Deshalb ist das dritte Kapitel der frommen Häuslichkeit als scheinbar natürlichem Ziel von Mädchenbildung in den höheren Sozialschichten Europas gewidmet. Die Erziehung und Bildung der Töchter aus gebildetem Bürgertum und Adel ist seitdem von der Überzeugung getragen, dass Mädchen in besonderen Schulen anders, das heißt mit anderen Lehrplänen und anderen Methoden als die Jungen erzogen und ausgebildet werden müssen.

Aber der Stellenwert von Bildung veränderte sich im 19. Jahrhundert, weil Bildung sich in vorher ungeahnter Weise mit sozialem Status verband. Im Zuge der Entwicklung der modernen Nationalstaaten wurden die nationalen Bildungssysteme ausgebaut und normiert sowie die soziale Differenzierung der Schülerschaft nach Klassenzugehörigkeit als selbstverständlich vorausgesetzt. Im vierten Kapitel wird deshalb dargestellt, wie die modernen Bildungssysteme zwischen 1860 und 1918 ihre uns auch heute noch bekannte Gestalt fanden und die Geschlechterordnung sich entscheidend wandelte. Frauen aus den bürgerlichen Eliten gelangten zu politischem Selbstbewusstsein und formulierten ihren 'Kulturbeitrag' diesseits und jenseits von Ehe und Familie. In den Frauenbildungsbewegungen wirkten sie an der Gestaltung des Bildungswesens aktiv mit. Auch wenn im Zentrum der Kampf um den gleichberechtigten Zugang zu akademischen Berufen stand, gehören die Elementarbildung und die Anfänge qualifizierter Berufsbildung in diesen Zusammenhang, denn die Frauen der gebildeten Schichten widmeten sich auch der Bildung und Ausbildung von Mädchen aus der breiten Masse des Volkes.

Die Ausweitung der politischen und sozialen Rechte von Frauen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war begleitet von der Umsetzung gleicher Bildungschancen für Mädchen und für Jungen. Der Abbau von geschlechtsbedingten Benachteiligungen im Bildungswesen gilt als ein wichtiges Signum der Bildungsreformen im 20. Jahrhundert. Im fünften Kapitel steht deshalb die Inklusion von Mädchen und Frauen in das ursprünglich für Jungen und Männer geschaffene selektive Schul-, Berufsbildungs- und Hochschulsystem im Zentrum. Sie fand in den drei großen Industrieländern zu verschiedenen Zeitpunkten statt und spiegelt zudem geschlechterpolitische Differenzen wider. Abschließend wird dargelegt, in welchem Umfang die Bildungsentscheidungen, Fächerpräferenzen und Studienfachwahl sich an der Wende zum 21. Jahrhundert zwischen Mädchen und Jungen unterscheiden und welche alten oder neuen Benachteiligungen Mädchen oder Jungen erfahren.

Jeder Einteilung der europäischen Geschichte nach bildungs-, frauen- oder geschlechtergeschichtlichen Gesichtspunkten haftet eine gewisse Willkürlichkeit an. Auch wenn die fünf Kapitel dieses Buches chronologisch angeordnet sind, so gibt es thematisch bedingte zeitliche Überlappungen. Die Zäsuren zwischen den einzelnen Epochen sind nicht überall die gleichen. Dazu verlief der wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Wandel in Geschwindigkeit und Intensität zu unterschiedlich. Einige Themen wie zum Beispiel die Elementarbildung für Mädchen oder das Hochschulstudium werden deshalb je nach ihrer Bedeutung einem bestimmten Kapitel zugeordnet, während die Darstellung von Schule und Unterricht für die Töchter der Ober- und gebildeten Mittelschichten sich durch alle Kapitel zieht.

Deutschland, Frankreich und England stehen im Zentrum dieses Buches. Dies ist zum einen durch die sprachliche Zugänglichkeit von Quellen und Sekundärliteratur sowie meine eigenen Vorarbeiten begründet, zum anderen erlaubt die Auswahl eine Konzentration auf typische Entwicklungen in Europa: Frankreich stand nach den Religionskriegen für das 'katholische Europa' und dominierte kulturell die Bildung der Oberschichten auf dem Kontinent bis ins 18. Jahrhundert. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde seine egalitäre, zentralistische und staatliche Organisation im Bildungswesen beispielhaft.

Für das englische Schulwesen - seit der Reformation von anglikanischer Staatskirche, freikirchlichen autonomen Gruppen und unabhängigen Lehrerinnen und Lehrern getragen - bildeten öffentliche Stiftungen und private Unternehmen den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen seit den 1860er-Jahren zudem eine nationale, vom Parlament abhängige zentrale Schulverwaltung wesentliche Weichenstellungen für Ausbau und Finanzierung vornahm. Die Folge davon war bis in die jüngste Vergangenheit eine relative Autonomie der einzelnen Schule oder Universität in Fragen von Curriculum und Personalrekrutierung.

Bikonfessionalität und konfessionelle Konkurrenz bestimmten die frühneuzeitliche Schulentwicklung in Deutschland. Die konfessionelle Vielfalt wurde begleitet von der staatlichen Vielfalt, die auch nach der Reichsgründung von 1871 in einen Kulturföderalismus mündete, der die Rede von einem einheitlichen Bildungssystem erschwert. Geprägt wurden die länderspezifischen Entwicklungen im deutschen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts durch die enge Verknüpfung von Schulsystem, Militärsystem und staatlichen Berufslaufbahnen. Auch in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik Deutschland blieben die föderalen Strukturen ausschlaggebend. Eingeschränkt wurden sie für zwölf Jahre durch die nationalsozialistische Bildungspolitik und aufgehoben von 1949 bis 1990 im zentralistischen sozialistischen Erziehungsstaat der Deutschen Demokratischen Republik.

Punktuell werden die Verhältnisse in den anderen westeuropäischen skandinavischen Ländern und in Süd-, Mittel- und Osteuropa beleuchtet. Ein flüchtiger Blick über den Atlantik trägt auch dem unbestrittenen kulturellen Einfluss der USA auf Europa im 20. Jahrhundert Rechnung. Wer nach umfassenderen Informationen zum modernen Bildungswesen sucht, kann auf den von James Albisetti, Joyce Goodman und Rebecca Rogers herausgegebenen Sammelband Girls' Secondary Education in the Western World zurückgreifen.

Eine so große Zeitspanne und weite Räume in den Blick zu nehmen, wirft vielfältige methodische Probleme auf. Zunächst besteht die Gefahr anachronistischer Urteile. Ob die junge Anna Maria van Schurmann im Jahre 1617 ähnlich wie die meisten heute lebenden jungen Mädchen in den deutschen gymnasialen Oberstufen, den französischen lycées und den englischen sixth forms Latein lieber als Mathematik mochte, wissen wir nicht. Wahrscheinlicher ist, dass sie sich die Frage gar nicht gestellt hat. Hatte sie etwa kein Bewusstsein davon, dass sie ein Mädchen war? Das hatte sie durchaus, aber da sie am gelehrten Wissen ihrer Zeit teilhaben wollte, bestimmte der damalige Kanon, was man lernen musste, und die individuelle Präferenz kam gar nicht in den Blick. Weder bedeutet Bildung für die einzelne Person über den Zeitraum eines halben Jahrtausends also das Gleiche, noch bedeutete es im 17. Jahrhundert das Gleiche wie heute, eine Frau zu sein.

Ein weiteres methodisches Problem vergleichender historischer Bildungsgeschichte werfen die verschiedenen Sprachen auf, am augenfälligsten bei der Nomenklatur des Schulwesens. Kann man die école primaire supérieure, an der sich Schülerinnen unter anderem auf die Lehrerausbildung vorbereiten konnten oder als Näherinnen ausgebildet wurden, als Volksschuloberstufe bezeichnen, die in Deutschland streng allgemeinbildend war? Ist eine englische grammar school in den 1930er-Jahren, in der die Schülerinnen alternativ zwischen Hauswirtschaft und Mathematik wählen konnten, eine Sekundarschule im Sinne der deutschen Mittelschule oder eine Studienanstalt? Um diese Differenzen nicht zu verwischen, wurden die nationalen Begriffe durchgängig beibehalten.

Bildungsgeschichte über ein halbes Jahrtausend darzustellen, erfordert zudem Auswahl, Einschränkung und Schwerpunktbildung. Zu den Schwerpunkten gehört die Tradition der katholischen Frauenbildung, ohne die eine Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung in Europa undenkbar ist. Ebenso wie die katholischen Mädchenschulen lange ein Stiefkind der Bildungsgeschichte waren, sind die Elementarerziehung und die Berufsbildung für Mädchen selten explizit einbezogen worden. Dabei waren von deren Entwicklung ungleich viel mehr Mädchen betroffen als vom Ausbau der Töchterschulen zu höheren Schulen. Beide Themengebiete werden deshalb in besonderen Abschnitten behandelt. Auch die Geschichte der 'Frauenfächer' Hauswirtschaft und Handarbeiten in den Lehrplänen der öffentlichen Schulen seit dem späten 19. Jahrhundert findet besondere Berücksichtigung. Hierin wird das bildungspolitische Dilemma zwischen dem Recht auf Bildung und dem Erhalt der Geschlechterordnung besonders deutlich. Hingegen wird der Berufsgeschichte der Lehrerinnen, die zu den am besten erforschten Gebieten der Mädchen- und Frauenbildung gehört, nur so viel Platz eingeräumt, wie für das Verständnis bestimmter institutioneller Entwicklungen notwendig ist.

Stattdessen werden Stimmen von Frauen zu Gehör gebracht, die nicht zu den Klassikern der Pädagogik gezählt werden. Sie haben sich oft, aber nicht immer, im Schatten großer Männer auf dem 'Nebenschauplatz' der Mädchenbildung geäußert. Die meisten von ihnen taten dies im Bewusstsein, dass sie an einer Debatte teilnahmen, die im ausgehenden Mittelalter begonnen hat, und viele bezogen sich auf Vorläuferinnen oder Zeitgenossinnen in ganz Europa. Die erweckte protestantische Hannah More (1745-1833), von ihren Mitmenschen wegen ihres religiösen Eifers als 'bishop in petticoats' verhöhnt, beschwört unter Berufung auf die katholische Madame de Maintenon als 'genaue Kennerin des menschlichen Herzens' die Gefahren einer künstlerischen Ausbildung für junge Mädchen. Französische pädagogische Autorinnen wie Marie Le Prince de Beaumont (1711-1780), Stéphanie Félicité de Genlis (1746-1821) und Jeanne-Louise-Henriette Campan (1752-1822) werden in England, in Deutschland und von ihren französischen Nachfahrinnen gelesen. Nicht nur die Mitglieder katholischer Lehrkongregationen, sondern viele Pädagoginnen und Lehrerinnen waren sich bis in das 20. Jahrhundert der Tradition von lehrenden Frauen bewusst, wenn sie Mädchen unterrichteten. In Deutschland hat die nationalsozialistische Diktatur zum Abbruch einer selbstbewussten Tradition der Mädchenbildung geführt. Erst die starken Impulse, die von der zweiten, international eingebetteten Frauenbewegung zur Erforschung der eigenen Geschichte ausgingen, haben diese Tradition wieder in das historische Bewusstsein gerückt.

Erscheint lt. Verlag 2.10.2013
Zusatzinfo 8 Abbildungen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Schlagworte 19. Jahrhundert • 20.Jahrhundert • Bildung • Bildungsgeschichte • Deutschland • Emanzipation • England • Europa • Frankreich • Frauen • Frauenbildung • Frühe Neuzeit • Gender • Geschlechter • Gleichstellung • Großbritannien • Mädchen • Mädchenbildung • Neuzeit • Schule • Universität
ISBN-10 3-593-42156-9 / 3593421569
ISBN-13 978-3-593-42156-8 / 9783593421568
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