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Angst vor der Wahrheit (eBook)

Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
164 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73502-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Angst vor der Wahrheit -  Paul Boghossian
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Relativistische und konstruktivistische Wahrheits- und Erkenntnistheorien haben weite Teile der akademischen Welt erobert. Paul Boghossian diagnostiziert eine »Angst vor der Wahrheit«, überprüft diese Sichtweisen und macht ihre fundamentalen Schwächen sichtbar. Dabei konzentriert er sich auf drei verschiedene Lesarten der Behauptung, Erkenntnis sei nur sozial konstruiert und Wahrheit lediglich relativ, und widerlegt sie allesamt. Demgegenüber plädiert er dafür, dass wir unserem gesunden Menschenverstand folgen sollten: Die Welt ist, wie sie ist, unabhängig von unseren Meinungen über sie. Warum objektive Erkenntnis möglich ist und eine Wahrheit jenseits sozialer oder kultureller Perspektiven existiert, zeigt Boghossian in diesem brillanten Buch.

<p>Paul Boghossian ist seit 1994 Professor f&uuml;r Philosophie an der New York University und Direktor des New York Institute for Philosophy.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch und zum Autor 2
Impressum 4
Inhalt 5
Vorwort 7
1. Einleitung 9
Gleichwertigkeit 9
Die soziale Konstruktion der Erkenntnis 13
Philosophie im akademischen Bereich 14
2. Die soziale Konstruktion der Erkenntnis 17
Meinungen, Tatsachen und Wahrheit 17
Universalität, Objektivität und Bewusstseinsunabhängigkeit 19
Rationale Meinung 20
Soziale Konstruktion 23
Das konstruktivistische Bild der Erkenntnis 26
3. Die Tatsachen konstruieren 32
Beschreibungsabhängigkeit und Soziale Bedingtheit 32
Die Verteidigung der Beschreibungsabhängigkeit von Tatsachen 39
Tatsachenkonstruktivismus: Drei Probleme 44
4. Die Tatsachen relativieren 48
Rortys relativistischer Konstruktivismus 48
Lokale und globale Relativismen 53
Die Zurückweisung des globalen Relativismus: Das traditionelle Argument 58
Die Zurückweisung des globalen Relativismus: Ein anderes Argument 60
Fazit 62
5. Die Verteidigung des epistemischen Relativismus 64
Einführung 64
Rorty über Kardinal Bellarmin 65
Epistemische Systeme und Praktiken 69
Wittgenstein und die Zande 75
Zur Verteidigung des epistemischen Relativismus 78
6. Die Zurückweisung des epistemischen Relativismus 86
Vernunft vs. Gründe 86
Eine traditionelle Widerlegung 87
Die Befürwortung eines epistemischen Systems 88
Epistemische Systeme als Mengen von unvollständigen Propositionen? 92
Epistemischer Pluralismus 95
Epistemische Systeme als Mengen von Imperativen? 96
Fazit 98
7. Die Auflösung des Paradoxons 100
Wo stehen wir? 100
Die Entschärfung des Arguments der Normenzirkularität 100
Kohärenz 101
(Begegnung) vs. (Berechtigung) 104
Eine Neufassung des Arguments? 107
Bellarmin 108
Die Logik der Zande 110
Fazit 114
8. Epistemische Gründe und die Erklärung von Meinungen 116
Aus Gründen meinen 116
Starker Konstruktivismus: Die Symmetrieprinzipien 117
Wahrheitssymmetrie 119
Rationalitätssymmetrie 121
Die Unterbestimmtheit von Meinungen durch Belege: Thomas Kuhn 122
Eine Einschätzung von Kuhns Bild 126
Unterbestimmtheit: Duhem über Hilfshypothesen 129
Fazit 132
9. Epilog 133
Nachwort: Abgesang und Auftakt 135
I. Abgesang auf die Postmoderne 139
II. Auftakt eines Neuen Realismus 144
Literaturverzeichnis 157
Namenregister 162
Sachregister 164

91. Einleitung


Gleichwertigkeit


Am 22. Oktober 1996 druckte die New York Times eine ungewöhnliche Titelgeschichte. Unter dem Titel »Indianische Kreationisten bremsen Archäologen aus« beschrieb sie einen Konflikt, der sich zwischen zwei Auffassungen über die Herkunft amerikanischer Ureinwohner ergab. Nach der umfassend bestätigten archäologischen Lehrmeinung kamen die ersten Menschen über Asien nach Amerika, als sie vor ungefähr 10 000 Jahren die Beringstraße überquerten. Im Gegensatz dazu besagen einige Schöpfungsmythen amerikanischer Ureinwohner, dass die indigenen Völker auf dem amerikanischen Doppelkontinent leben, seit ihre Vorfahren aus einer unterirdischen Geisterwelt an die Erdoberfläche gestiegen sind. In den Worten von Sebastian LeBeau, einem Vertreter der Cheyenne River Sioux, eines Stamms der Lakota, ansässig in Eagle Butte, South Dakota:

Wir wissen, woher wir kommen. Wir sind die Nachfahren der Büffelleute. Sie kamen aus dem Inneren der Erde, nachdem übernatürliche Geister diese Welt für die Menschheit vorbereitet hatten. Wenn Nichtindianer glauben wollen, sie stammten von einem Affen ab, sei’s drum. Mir sind noch keine fünf Lakotas begegnet, die an die Wissenschaft und die Evolution glauben.

Die Times merkte an, dass viele Archäologen, hin und her gerissen zwischen ihrer Verpflichtung auf wissenschaftliche Methoden und ihrer Wertschätzung der indigenen Kultur, »in die Nähe eines postmodernen Relativismus gerieten, in dem die Wissenschaft nur ein weiteres Meinungssystem darstellt«. Roger Anyon, ein britischer Archäologe, der für die Zuñi arbeitete, wurde folgendermaßen zitiert:

Die Wissenschaft ist nur eine von vielen Weisen, die Welt zu verstehen. [Das Weltbild der Zuñi] hat den gleichen Wert wie die archäologische Sichtweise der Prähistorie.

Ein weiterer Archäologe, Dr. Larry Zimmerman von der Universität Iowa, wurde zitiert mit einem Appell für eine

10andere Art von Wissenschaft, zwischen den Grenzen westlichen und indianischen Wissens.

Dr. Zimmerman fügte hinzu:

Ich persönlich lehne es ab, die Wissenschaft als ein privilegiertes Weltverständnis zu betrachten.

So faszinierend diese Bemerkungen auch sind, sie wären nur von beiläufigem Interesse, gäbe es nicht den enormen Einfluss der allgemeinen philosophischen Haltung, für die sie stehen. Besonders innerhalb der Fachwelt, aber zu einem unvermeidlichen Teil auch außerhalb von ihr, hat die Idee tiefe Wurzeln geschlagen, dass die Wissenschaft nur eine von »vielen gleichwertigen Weisen ist, die Welt zu verstehen«. In großen Teilen der Geistes- und Sozialwissenschaften hat diese Art des »postmodernen Relativismus« von Wissensansprüchen den Status einer Orthodoxie erlangt. Ich bezeichne sie (so neutral wie möglich) als

Gleichwertigkeitsdoktrin:

Es gibt viele grundverschiedene Weisen, die Welt zu verstehen, die aber von »gleichem Wert« sind und unter denen die Wissenschaft nur eine ist.

Hier sind einige repräsentative Beispiele von Wissenschaftlern, die der Gleichwertigkeitsdoktrin grundsätzlich beipflichten:

Wenn wir den konventionellen und artefaktischen Status unserer Wissensformen erkennen, versetzen wir uns selbst in die Lage, zu bemerken, dass wir selbst und nicht die Wirklichkeit verantwortlich sind für das, was wir wissen.[1]

Die Wissenschaft der Ersten Welt ist eine unter vielen.[2]

Für den Relativisten ist mit der Idee kein Sinn verbunden, dass es einige wirklich rationale Standards oder Meinungen gibt im Gegensatz zu nur 11lokal akzeptierten. Da er denkt, dass es keine kontextfreien oder überkulturellen Normen der Rationalität gibt, hält er rational und irrational vertretene Meinungen nicht für zwei distinkte und qualitativ unterschiedene Gegenstandsklassen.[3]

Es gibt noch viele weitere derartige Textstellen, die man zitieren könnte.

Was an der Gleichwertigkeitsdoktrin wirkt so radikal und kontraintuitiv?

Nun, wenn es um Tatsachen wie die amerikanische Prähistorie geht, denken wir üblicherweise, dass sich die Dinge in einer Weise verhalten, die von uns und unseren Meinungen unabhängig ist – dass es, wie wir sagen können, eine objektive Tatsache über die Herkunft der ersten Amerikaner gibt.

Wir müssen in diesem Sinne keine Tatsachenobjektivisten im Hinblick auf alle Bereiche sein, über die wir urteilen. Wenn es um Moral geht, zieht es einige Menschen, auch Philosophen, zum Relativismus: Sie denken, dass es viele alternative Moralkodizes gibt, die festlegen, was als gutes oder schlechtes Verhalten zählt, aber keine Tatsachen, in deren Licht einige dieser Kodizes »korrekter« sind als die übrigen.[4] Andere sind Relativisten in ästhetischen Fragen, in denen es darum geht, was als schön oder künstlerisch wertvoll zählt. Diese Relativierungen von Wertfragen sind natürlich diskutabel und werden nach wie vor diskutiert. Aber selbst wenn wir sie letzten Endes für unplausibel halten, kommen sie uns doch nicht ohne weiteres absurd vor. Wenn es jedoch um Sachfragen geht, wie die der Herkunft der ersten Amerikaner, dann denken wir sicherlich, dass es eine objektive Tatsache gibt.

Wir wissen vielleicht nicht, welche Tatsache das ist, wollen es aber wissen, sobald wir ein entsprechendes Interesse entwickelt haben. Und wir verfügen über eine Vielzahl von Techniken und Methoden – Beobachtung, Logik, Schluss auf die beste Erklärung usw., nicht aber die Zukunftsdeutung aus dem Kaffeesatz oder aus Kristallkugeln –, die wir für die einzig legitimen halten, wenn es 12darum geht, eine rationale Meinung zu einem Thema zu bilden. Diese Methoden – die für jene Praxis charakteristisch sind, die wir »Wissenschaft« nennen, die aber auch alltägliche Formen der Erkenntnissuche charakterisieren – haben uns zur Auffassung geführt, dass die ersten Amerikaner aus Asien über die Beringstraße nach Amerika kamen. Diese Auffassung mag falsch sein, ist aber angesichts der vorhandenen Belege die vernünftigste – so jedenfalls sind wir für gewöhnlich zu denken versucht.

Weil wir all das meinen, fügen wir uns den Ergebnissen der Wissenschaft: Wir weisen ihr eine privilegierte Rolle zu, wenn es darum geht, was unseren Kindern in der Schule beigebracht werden soll, was wir vor Gericht für beweiskräftig halten und worauf wir unsere Gesellschaftspolitik stützen sollen. Wir denken, dass es im Hinblick auf die Wahrheitsfrage Tatsachen gibt. Wir wollen nur das annehmen, was wir aus guten Gründen für wahr halten können; und wir halten die Wissenschaft für den einzig guten Weg, um zu vernünftigen Meinungen über Wahrheit und Unwahrheit zu kommen, jedenfalls dann, wenn es um reine Sachfragen geht. Daher fügen wir uns der Wissenschaft.

Damit diese Art der Fügsamkeit wirklich richtig ist, sollte wissenschaftliches Wissen aber auch wirklich privilegiert sein – es sollte besser nicht zutreffen, dass es viele andere, völlig verschiedene, aber gleichwertige Arten gibt, die Welt zu verstehen. Denn wenn die Wissenschaft nicht privilegiert wäre, müssten wir die Archäologie für genauso glaubwürdig halten wie den Kreationismus der Zuñi und die Evolutionstheorie für genauso glaubwürdig wie den christlichen Kreationismus – und genau diese Auffassung wird von einer wachsenden Zahl von Forschern im Wissenschaftsbetrieb propagiert und findet auch darüber hinaus ein zunehmendes Echo.[5]

Die Gleichwertigkeitsdoktrin ist also von beträchtlicher Bedeutung, nicht nur innerhalb des Elfenbeinturms. Wenn die vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Forscher, die ihr zustimmen, richtig liegen, hätten wir nicht nur einen philosophischen Fehler begangen, der allenfalls für einige wenige Kenner der Erkenntnistheorie von Interesse ist. Stattdessen hätten wir die Prinzipien, nach 13denen die Gesellschaft organisiert sein sollte, fundamental missverstanden. Die Frage, ob diese Forscher richtig liegen, ist damit von größerer Dringlichkeit als gewöhnlich angenommen.

Die soziale Konstruktion der Erkenntnis


Wodurch wurden so viele zeitgenössische Gelehrte von einer Doktrin überzeugt, die so radikal und kontraintuitiv ist wie die Gleichwertigkeitsdoktrin?

Die Frage, ob man diese Entwicklung in erster Linie mit intellektuellen oder ideologischen Motiven erklären soll, ist interessant; zweifellos enthält sie von beidem etwas.

Ideologisch kann die Anziehungskraft der Gleichwertigkeitsdoktrin nicht von ihrem Aufstieg in der postkolonialen Ära losgelöst werden. Die Verteidiger kolonialer Expansion versuchten ihre Projekte häufig mit der Behauptung zu rechtfertigen, die kolonisierten Völker würden von der überlegenen Wissenschaft und Kultur des Westens stark profitieren. In einem moralischen Klima, das sich entschieden vom Kolonialismus abgewendet hat, ist für viele nicht nur die These anziehend, dass man die Unterwerfung eines souveränen Volkes nicht im Namen der Wissensverbreitung moralisch rechtfertigen kann – was stimmt –, sondern auch die These, dass es so etwas wie überlegenes Wissen gar nicht gibt, sondern nur verschiedene Wissensformen, die alle zu ihrem jeweiligen Umfeld passen.

Intellektuell besteht die Anziehungskraft der Gleichwertigkeitsdoktrin wohl in der Überzeugung vieler Gelehrter, das beste philosophische Denken unserer Zeit habe die oben angedeuteten, intuitiven und objektivistischen Wahrheits- und Rationalitätsauffassungen hinweggefegt, um sie...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2013
Nachwort Markus Gabriel
Übersetzer Jens Rometsch
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Erkenntnis • Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism deutsch • STW 2059 • STW2059 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2059 • Theorie • Wahrheit
ISBN-10 3-518-73502-0 / 3518735020
ISBN-13 978-3-518-73502-2 / 9783518735022
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