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Das stille Kind (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 2. Auflage
288 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-41539-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das stille Kind -  Asta Scheib
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Das Leben beginnt jeden Tag neu Paulina und Lukas können ihr Glück nicht fassen. Ihr Traum vom Häuschen mit Garten mitten in München wurde für die fünfköpfige Familie endlich wahr. Das freut sie besonders für ihren mittleren Sohn, den vierjährigen David. Er ist anders als seine Geschwister, anders als die Kinder im Kindergarten. David spricht wenig, hat kaum Kontakte und braucht immer eine zwanghafte Ordnung um sich herum. Die ärztliche Diagnose Asperger-Syndrom, eine Art von Autismus, lässt die Eltern zunächst verzweifeln. Doch dann beschließen Paulina und Lukas, ihren Sohn aus seinem seelischen Gefängnis zu befreien.

Asta Scheib, geboren in Bergneustadt im Rheinland, arbeitete als Redakteurin bei verschiedenen Zeitschriften. Sie gehört heute zu den bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen und lebt mit ihrer Familie in München. 

Asta Scheib, geboren in Bergneustadt im Rheinland, arbeitete als Redakteurin bei verschiedenen Zeitschriften. Sie gehört heute zu den bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen und lebt mit ihrer Familie in München. 

  1  


Lukas legte seinen Arm um Paulina und zog ihren Kopf sanft an seine Schulter. Paulina seufzte, tat so, als schliefe sie noch. Aber sie verriet sich, drängte sich an Lukas, und er spürte wieder die seidige Weichheit ihrer Haut, ihres warmen, geschmeidigen Körpers. Jetzt zog er sie fest an sich, grub seine Lippen in ihren Mund und suchte ihre Zunge, die ihm rasch entgegenkam. Paulina griff in Lukas’ dichten Schopf, dann glitten ihre Finger über seinen Körper. »Verdammt schön, dass du mich so gut kennst«, murmelte Lukas und schloss die Augen, seine Hand streichelte Paulinas Haar. Sie mussten leise sein. Paulina bewegte sich unter der Bettdecke an seinem Körper entlang, bedeckte ihn mit Küssen und liebkoste ihn, als wollte sie ihm ihren gesamten Vorrat an Liebe auf einmal schenken.

»Und du?«, flüsterte Lukas Paulina später ins Ohr. Sie hatte sich noch mal an seine Schulter geschmiegt, lag still da und atmete mit ihm. Sie gab ihm noch einen flüchtigen Kuss, sagte: »Heute nicht«, und stieg graziös aus dem Bett.

Lukas schaute ihr nach, sah die Schwimmerschultern, den festen Po und die langen Beine Paulinas im Bad verschwinden. Er versuchte, alles zu speichern, Paulinas Duft, ihren fast jungenhaften Körper an seinem – dann war es auch Zeit für ihn, aufzustehen. Es hatte sich so ergeben, dass er den Tee zubereitete und für jeden eine Schale Milch mit Flocken, Rosinen und Honig.

Als er in die Küche kam, sah er auf Cosimas Platz die Geburtstagsdekoration, die Paulina wohl gestern noch gemacht hatte, als er schon schlief. Seine Große wurde sechs Jahre alt. Er ging ins Kinderzimmer, setzte sich vorsichtig an ihr Bett und streichelte sie wach.

Sein Sohn David ließ sich nicht stören. Er hockte schon unterm Küchentisch und spielte selbstvergessen mit seinen Soldaten, die er in pingelig genauen Reihen aufmarschieren ließ. Wehe, einer fiel um. Niemand, auch nicht die Eltern, durfte an Davids Streitmacht etwas verändern. Er hatte die Soldaten von Granny bekommen. Die kleinen Figuren aus bunt bemaltem Zinn, etwa daumengroß, waren nach dem deutsch-französischen Krieg in Nürnberg hergestellt worden, denn sie trugen die Uniform des Garderegiments, schwarze Stiefel, weiße Hosen, blaue Jacke. Die französischen Soldaten waren an ihren roten Hosen zu erkennen. Lukas, Franziskas Enkelsohn, war nie an dieser Armee interessiert gewesen, die noch von seinem Urgroßvater stammte. Für David jedoch waren die Zinnsoldaten sein Ein und Alles.

Paulina hatte ihren Bademantel angezogen und stillte das Baby. Wie jedes Mal, wenn Lukas und sie sich am Morgen liebten, hatte sie ihren Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen. Als täte sie etwas Verbotenes. Sie hatte Angst, Cosima oder David könnten plötzlich ins Schlafzimmer kommen.

Sie sah mit einem kurzen Lächeln auf, aber ihre Aufmerksamkeit gehörte nicht mehr ihrem Mann. Lukas erlebte das nicht zum ersten Mal. Kein Gedanke an den letzten Augenblick, er war abgemeldet. Fast war er beleidigt, und er hätte das Paulina gern ein wenig spüren lassen, aber es war schon acht Uhr vorbei, er musste sich beeilen denn ausgerechnet heute sollte er einen Kollegen auf dem Waldfriedhof vertreten. Und vorher wollte er Cosima noch in den Kindergarten bringen.

Lukas legte kurz seine Wange an Paulinas Gesicht, küsste David und Mavie, nahm die fertig angezogene Cosima an der Hand und polterte die Treppe hinunter. Da erschien Paulina noch einmal am Treppenabsatz und rief ihm hinterher, dass er seinen Schal vergessen habe, es sei für den ganzen Tag Schneefall gemeldet. Sie warf den wollenen Schal runter ins Treppenhaus. Lukas fing ihn auf und sah, wie Paulina die Wohnungstür schon wieder schloss. Manchmal war er hilflos – als Mann und als Vater. Familienvater, Vater dreier Kinder. Noch vor sieben Jahren wäre das für ihn unvorstellbar gewesen, und manchmal fühlte er sich so platt, als habe ein Traktor ihn überfahren. Dann wieder fand er alles großartig – durch diese vier geliebten Menschen schien er doppelt und dreifach zu leben.

Dieser Gedanke war ihm zum ersten Mal gekommen, und Lukas fand ihn eindrucksvoll. Vielleicht könnte er den Gedanken seinem Schwiegervater vortragen. Oder der Schwiegermutter. Lukas hatte schon mal gehört, dass sie ihren Mann mit »Herr Professor« ansprach und er sie mit »Frau Doktor«. Das war zwar nicht ernst gemeint, aber Lukas fand es trotzdem lächerlich. Es kam sogar vor, dass die Eltern sich siezten, wie es die gebildeten Schichten in Frankreich machten. Das war auch Paulina jedes Mal peinlich.

Der erste Nachmittag bei Paulinas Eltern war beklemmend verlaufen. Professor Robert Mertens war herablassend wohlwollend aufgetreten, auch nicht sonderlich interessiert; er entschuldigte sich ständig zum Telefonieren. Als er hörte, dass Paulina und Lukas heiraten wollten, war sein Gesicht hart und abweisend geworden. »Was machen Sie denn beruflich?«, hatte Paulinas Mutter in das Schweigen hinein gefragt. Doch auch sie, die Lukas eigentlich sympathisch gefunden hatte, war nur noch höflich, als sie hörte, dass Lukas Landschaftsgärtner sei. Er ärgerte sich, und als Melanie Mertens bemüht fragte, was er denn an seinem Beruf am meisten schätze, sagte er: »Den Feierabend!« Sogar Paulina war verblüfft gewesen, dann aber schaltete sie und verzog sich schleunigst mit Lukas.

Ein Segen, dass die Schwiegereltern selten zu Besuch kamen. Waren sie zwei oder drei Mal in die Donnersbergerstraße gekommen? Lukas und Paulina waren mit Ikea-Möbeln eingerichtet, womit sonst. Allerdings hatte Granny ihnen ihren alten fränkischen Geschirrschrank zur Hochzeit vermacht. Er wirkte trotz seiner Größe elegant mit seinem grau schimmernden Eichenholz. Auf beiden Türen strahlte ein großer Stern in kunstvoller Intarsienarbeit. Fast zu fein für die Wohnung, aber Paulina und Lukas liebten den Schrank. Er war denn auch Anlass für die Mertens gewesen, sich über sein Alter, seinen Wert und seine Herkunft zu unterhalten. Einer wollte den anderen mit seinem Wissen übertrumpfen, bis Professor Mertens schließlich etwas zusammenhanglos erklärte: »Unsere zweihundert Quadratmeter Tengstraße sind das richtige Ambiente für Designermöbel.« Und Melanie Mertens nickte zustimmend.

Die zählen einfach nicht, sagte sich Lukas grimmig. Es ist noch nicht aller Tage Abend, sagte seine Granny immer, wenn sie ihn trösten wollte. Lukas könnte jederzeit nach Kanada gehen, mit der ganzen Familie; er hatte schon mehrere interessante Angebote bekommen. Man lebte dort komfortabler als hier in München, wo man für jeden Quadratmeter ein Vermögen zahlen musste. Doch Paulina träumte nicht von Kanada. Sie träumte von einem Haus in München. Das wusste Lukas, obwohl Paulina nie davon sprach. Aber Lukas nahm die Träume seiner Frau ernst. Für beide war München die Heimatstadt, eine der grünsten Großstädte Deutschlands. Lukas war angestellt bei der Stadt. Sein oberster Chef sei der Oberbürgermeister Christian Ude, betonte Lukas gerne. Er sagte auch manchmal, dass die Münchner oftmals Eingaben machten, zum Teil absurde Vorschläge oder Ideen unterbreiteten. Auf diese Weise seien die Bürger wiederum Chef von Ude, und diese These leuchtete jedem ein.

Lukas hatte nach seiner Rückkehr aus Kanada innerhalb weniger Wochen die Anstellung bei der Stadt bekommen. Er war vor allem für die Pflege der Grünanlagen an den städtischen Schulen, Bibliotheken, Krippen und Kindergärten zuständig. Die Erzieherinnen dort hatten oftmals Träume, die Lukas wahrmachen sollte. Sie wünschten sich Rasen, damit die Kinder darauf spielen konnten. Dort, wo Kinder täglich spielten, wuchs aber kein Rasen, das war ein Naturgesetz, das Lukas geduldig erklärte. Da sprachen die jungen Frauen von Rollrasen. Sie glaubten ihm nicht, dass der auch unansehnlich werden würde. Als er gerade die Mittel hatte, ließ Lukas in einem Kindergarten Rollrasen verlegen. Der wurde dann wirklich rasch häßlich, und diese Erzieherinnen wenigstens glaubten fortan Lukas, wenn er ihnen einen Wunsch abschlagen musste.

Er machte jeden Tag die Erfahrung, dass die meisten Menschen sich nach der Natur sehnen, dass sie Bäume, Pflanzen und Blumen um sich haben wollen, doch allenfalls die Hobbygärtner hatten eine Vorstellung von der Pflege, der immer wiederkehrenden Arbeit, die notwendig war, um der Natur das Bild abzuringen, das sich die Verantwortlichen der Stadt und auch die Bürger von ihr machten.

Paulina ging vorsichtig die Treppe hinunter, Mavie im Arm. Paulinas Vorsicht galt vor allem den Nachbarn, die sich offenbar darauf geeinigt hatten, dass die Ruges einfach nicht in das Haus in der Donnersbergerstraße passten. Niemand sagte es offen, doch Paulina hörte, wie sich Türen leise schlossen, sobald Paulina auf der Treppe war, oder wie ein Gespräch sofort abbrach, wenn Paulina näher kam. Wahrscheinlich hielten sie die Ruges für verrückt, vor allem wegen David. Und er gab den Vögeln reichlich Zucker, flatterte mit den Händen, wenn die Nachbarn aus der Türe kamen. Oder er sah die Nachbarn erst gar nicht an. Außer Frau Ramsauer. Sie schien ihm zu gefallen. Um die Siebzig war sie wohl. Im Sommer trug sie stets weiß. Duftig. Wie eine in die Jahre gekommene Elfe. Wenn sie David sah, legte sie einen Finger auf die Lippen und schaute verschwörerisch.

»Wir fliegen um die Welt«, sagte sie. Und David legte auch einen Finger auf die Lippen. Er nickte. »Wir fliegen um die Welt. Wir fliegen um die Welt.«

Am Anfang erschien es Paulina seltsam, einer Frau im Treppenhaus zu begegnen, die ihr im Vorbeigehen versicherte: »Ich brauche die Menschen, ich brauche die Menschlichkeit.« Paulina fand Frau Ramsauer mit der...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Philosophie Sprachphilosophie
Recht / Steuern Wirtschaftsrecht
Schlagworte Asperger-Syndrom • Autismus • Behindertes Kind • Belletristik • Ehe • Familienleben • Familienporträt • Familienroman • Familienromane • Gegenwartsliteratur • Sprachlosigkeit
ISBN-10 3-423-41539-8 / 3423415398
ISBN-13 978-3-423-41539-2 / 9783423415392
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