Der Feind steht im Osten (eBook)
296 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-114-1 (ISBN)
Der renommierte Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller bestreitet in seinem neuesten Buch diese Sichtweise. Auf Grundlage von bislang weithin unbeachteten Quellen kann er zeigen, dass Hitler sich seit seinem Machtantritt 1933 immer wieder mit der Möglichkeit eines baldigen Interventionskriegs gegen die UdSSR beschäftigt hat. Dafür setzten er und die Wehrmacht zunächst auf Verhandlungen mit Polen und zogen auch früh eine Allianz mit Japan in Erwägung. Noch im September 1939, nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, war ein unmittelbarer militärischer Zusammenprall mit der Roten Armee möglich. Die Wehrmacht scheute ihn nicht.
Der Blick auf die Vorgeschichte zeigt: Es gab weder einen festgelegten Stufenplan für die Ostexpansion, noch war das »Unternehmen Barbarossa« ein Präventivkrieg, wie manche Publizisten meinen.
Prof. Dr. Rolf-Dieter Müller: Jahrgang 1948, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Pädagogik in Braunschweig und Mainz, 1981 Promotion, 1999 Habilitation, seit 1979 wiss. Mitarbeiter im Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Leiter des Großprojekts "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" (mit 13 Bänden abgeschlossen 2008), Honorarprofessur für Militärgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges, zuletzt "Der letzte deutsche Krieg 1939-1945" (2005), und die Einführung "Militärgeschichte" (UTB 2009), wiss. Beratung von Rundfunk- und Fernsehdokumentationen, u.a. "Soldaten für Hitler" und "Heimatfront".
Einleitung
Vor 70 Jahren, am 22. Juni 1941, begann der Überfall der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten auf die UdSSR. Der Deckname des Unternehmens lautete »Barbarossa«. Es war der Auftakt zum größten und blutigsten Krieg der Weltgeschichte. Siegesgewiss marschierten Hitlers Armeen in den ersten Wochen nach Osten, trotz hoher Verluste und bei einem nachlassenden Marschtempo. Doch Stalins Imperium brach nicht wie erwartet beim ersten Ansturm zusammen. Unter ungeheuren Opfern verstärkte sich der Widerstand der Roten Armee. Zwar gelang es den Deutschen, innerhalb von fünf Monaten bis an den Stadtrand von Moskau vorzudringen, doch dann schlug Stalin zurück und brachte die deutsche Ostfront ins Wanken. Die sowjetischen Streitkräfte brauchten aber weitere 40 Monate, um sich den langen Weg nach Westen zu erkämpfen, bis sich Hitler in seinem Berliner Bunker vergiftete und damit den Weg zur Kapitulation freimachte.
Der deutsch-sowjetische Krieg steht im Zentrum der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Er war mehr als ein Duell der Diktatoren. Hitler verstand seinen Krieg als rassenideologischen Vernichtungskrieg. Er sorgte von deutscher Seite dafür, dass diese militärische Auseinandersetzung mit größter Härte und Entschlossenheit geführt und durch eine verbrecherische Besatzungspolitik begleitet wurde. Es war hinsichtlich seiner Zielsetzung zweifellos der größte Raub- und Vernichtungskrieg, der in seinen destruktiven Elementen den Schrecken eines Dschingis-Khan verblassen ließ. Im Ergebnis der deutschen Niederlage wurde nicht nur das Deutsche Reich zerstört, sondern auch die Staatenwelt Ostmitteleuropas, die für mehr als 40 Jahre vom sowjetischen Imperium beherrscht wurde. Die Teilung Europas und der Kalte Krieg zwischen Ost und West prägten in dieser Zeit das Weltgeschehen.
Der Ausgangspunkt für diese Entwicklung ist der deutsche Überfall am 22. Juni 1941 gewesen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass dieser Krieg noch immer einen herausragenden Platz in der kollektiven Erinnerung einnimmt und die Historiker zu Fragen an die Geschichte veranlasst.1 Manche Zeitgenossen betrachteten schon während des Zweiten Weltkriegs den Entschluss zum Überfall auf die UdSSR als den größten Fehler Hitlers. Die Siegermächte sahen in der Vorbereitung des Angriffskrieges eines der größten Verbrechen des NS-Regimes, zumal das Deutsche Reich erst im August 1939 einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion abgeschlossen hatte. Der Überfall knapp zwei Jahre später erfolgte ohne zwingenden Anlass, wortbrüchig, hinterhältig und heimtückisch.
In seiner Erklärung gegenüber den Soldaten der Wehrmacht und der deutschen Bevölkerung hatte Hitler dagegen behauptet, der sowjetischen Expansionspolitik durch einen Präventivkrieg entgegentreten zu müssen.2 Verfechter dieser unsinnigen Begründung findet man noch heute, vereinzelt sogar unter Historikern und pensionierten Generalen.3 Für die Richter des Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunals stand dagegen außer Frage, dass »Barbarossa« ein räuberischer Überfall gewesen ist. Sie folgten allerdings weitgehend der Interpretation der Angeklagten und ihrer Verteidiger, wonach Hitler den Entschluss allein gefällt und am 31. Juli 1940 der militärischen Spitze als Auftrag übergeben habe. Ob er dabei stärker unter strategischen oder ideologischen Gesichtspunkten handelte, blieb offen. Während Wilhelm Keitel als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) und Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtführungsstabes, die engsten militärischen Berater Hitlers, zum Tode verurteilt wurden, blieben die Verantwortlichen im Oberkommando des Heeres (OKH) unbehelligt. Hitlers Generale konnten nach 1945 unwidersprochen den Eindruck vermitteln, dass sie im Anschluss an die Entscheidung des Diktators einen genialen Feldzugsplan entworfen und umgesetzt hätten, der nur wegen der ständigen Eingriffe Hitlers gescheitert sei. Ihr größter Feind sei nicht die Rote Armee gewesen, sondern der eigene »Führer«. Zu der Legende von der »sauberen Wehrmacht« kam die Legende von der überlegenen Professionalität ihrer militärischen Führungsspitze.
Die These, dass Hitler allein für den Angriff gegen die UdSSR verantwortlich war und sich dabei von seinen ideologischen Obsessionen leiten ließ, deren Ursprung in seiner frühen politischen Programmschrift Mein Kampf zu finden ist, ist zu einem festen Pfeiler des Geschichtsbildes geworden. Darauf stützt sich seit Jahrzehnten eine weiträumige Interpretation von Hitlers Außenpolitik. Sie nimmt an, dass sich der Diktator zielstrebig und konsequent nach der Machtübernahme, der inneren Festigung seines Regimes und einer gigantischen Aufrüstung schrittweise seinem eigentlichen Ziel, dem Lebensraumkrieg im Osten, genähert hat. Nach Österreich und der Tschechoslowakei folgte Polen als Opfer deutscher Expansionspolitik. Das waren die notwendigen Voraussetzungen, um Frankreich niederzuwerfen und so für Hitler den Rücken freizumachen, sich seinem eigentlichen Ziel zuwenden zu können. Die Eroberung der UdSSR sollte dann die Basis schaffen, um den »Kampf gegen Kontinente«, das heißt den Kampf um die Weltvorherrschaft, zu führen.
Verfügte Hitler tatsächlich über einen solchen Stufenplan und die Fähigkeit, ihn konsequent und taktisch klug umzusetzen? Stand für ihn die UdSSR erst an vorletzter Stelle dieses Plans? Ist Hitler also in den ersten Kriegsjahren ein erfolgreicher Stratege gewesen, dem fast alles gelang und der über eine Wehrmacht verfügte, die mit der Taktik des »Blitzkrieges« nahezu unbesiegbar war? Die ältere Geschichtsschreibung war davon überzeugt. Sie stützte sich auf eine Reihe bahnbrechender Studien von Historikern der Leutnants-Generation, die in den sechziger und siebziger Jahren höchstes Ansehen erlangten und bis heute das Verständnis der Vorgeschichte und Ursachen von »Barbarossa« prägen. Andreas Hillgruber und Hans-Adolf Jacobsen sind ihre prominentesten Vertreter. Bedeutsam für die Interpretation von Hitlers »Stufenplan« ist insbesondere Klaus Hildebrands systematische Darstellung der Außenpolitik des »Dritten Reiches« gewesen. Viele andere Historiker des In- und Auslands bewegten sich auf diesen Bahnen. Auch das Serienwerk des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hat sich mit der ausführlichen Darstellung des »Unternehmens Barbarossa« in seinem vierten Band (1983) auf diese Linie festgelegt. Kaum beachtet blieb dort eine wichtige Entdeckung von Ernst Klink, der festgestellt hatte, dass die ersten militärischen Überlegungen und Vorbereitungen zu einem Krieg gegen die UdSSR im Juni 1940 vom Oberkommando des Heeres angestellt worden sind, ohne jegliche Vorgaben von Hitler. Vereinzelt wurde diese Feststellung mit der Erklärung heruntergespielt, dass im OKH Hitlers Ostprogramm natürlich bekannt gewesen sei und man sich gleichsam in vorauseilendem Gehorsam auf die Wünsche des Diktators eingestellt habe.4
In den letzten drei Jahrzehnten haben sich Geschichtsforschung, Öffentlichkeit und Medien in Deutschland fast ausschließlich mit den verbrecherischen Aspekten des »Unternehmens Barbarossa« beschäftigt. Die umstrittene Hamburger Wehrmachtausstellung hat dazu 1995 wichtige Anstöße gegeben. Heute besteht kaum noch Zweifel daran, dass die Wehrmachtführung ein hohes Maß an Mitverantwortung für die Enthemmung des Ostkrieges trägt. Unbestritten ist auch, dass der »Weltanschauungskrieg« bereits bei der Planung und Vorbereitung des Feldzugs angelegt gewesen ist und seinen Ausdruck in den berüchtigten verbrecherischen Befehlen gefunden hat.
Aber gab es hierbei einen Zusammenhang mit der Kühnheit der operativen Planungen des OKH, und ließen sich die Militärs womöglich selbst von antibolschewistischen, antislawischen Vorurteilen leiten? War der Plan »Barbarossa« ein Meisterstück des deutschen Generalstabs, und sind nur einige der Grundannahmen falsch gewesen, verursacht etwa durch das Bild von der UdSSR als einem »tönernen Koloss«? Ist die im Sommer 1940 beginnende militärische Planung tatsächlich originell, geprägt von einem Übermut, der dem Rausch des unerwarteten Sieges gegen Frankreich entsprang – eine »gleichsam aus dem Stegreif« entworfene Skizze, wie Andreas Hillgruber meinte,5 oder griff man womöglich auf frühere Entwürfe zurück? War ein Krieg gegen die Sowjetunion zwischen 1933 und 1940 allenfalls eine Zukunftsvision fanatischer Nazis, außerhalb eines nüchternen militärischen Kalküls? Hatte Hitler in seinem Selbstverständnis als »größter Feldherr aller Zeiten« eigene Vorstellungen, wie ein Ostkrieg militärisch zu führen sei?
Dies sind Fragen, die auf das Feld der klassischen Militärgeschichte führen, in die Welt militärischer Führungsstäbe und Entscheidungsträger. Das ist gegenüber einer weithin vorherrschenden kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise in der Geschichtswissenschaft ein scheinbar »altmodischer« Zugang zum Thema, zumal einzuräumen ist, dass die Frage militärischer Operationsplanung und Kriegsvorstellung im Zusammenhang mit »Barbarossa« seit drei Jahrzehnten als beantwortet gilt. Natürlich wird man es bei dem in diesem Buch vorgenommenen neuen Gang durch eine alte Geschichte auch immer wieder im notwendigen Maße mit politischen, ideologischen, sozialen und vor allem wirtschaftlichen Aspekten zu tun haben. Aber der Fokus zielt auf die militärische Planungsebene.
Deshalb beginnt die Untersuchung nicht mit einer Analyse von Mein Kampf, sondern mit der Frage, wann in Deutschland zum ersten Male ein Krieg gegen Russland, genauer ein Kampf zur Eroberung russischen Territoriums, für Politik und Militär denkbar gewesen ist, welche Vorstellungen...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2012 |
---|---|
Reihe/Serie | NS-Geschichte |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 | |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Adolf Hitler • Alfred Rosenberg • Außenpolitik • Barbarossa • Deutsches Reich • Franz Halder • Geschichte 1933-1945 • Halder-Plan • Hermann Göhring • Hitler-Stalin-Pakt • Joseph Goebbels • Józef Beck • Józef Pilsudski • Krieg • Michail N. Tuchatschewski • Ostkrieg • Rote Armee • Sowjetunion • Stalin • Walther von Brauchitsch • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-86284-114-6 / 3862841146 |
ISBN-13 | 978-3-86284-114-1 / 9783862841141 |
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