Schritte über uns hinaus II (Schritte, Bd. 2) (eBook)
347 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10186-7 (ISBN)
Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg. Von 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an den Universitäten in Stuttgart, Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde. Robert Spaemann hatte zahlreiche Gastprofessuren inne, erhielt mehrere Ehrendoktorwürden und war 2001 der Träger des Karl-Jaspers-Preises der Stadt und der Universität Heidelberg. Robert Spaemann, einer der führenden konservativen Philosophen im deutschsprachigen Raum, starb am 10. Dezember 2018.
Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg. Von 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an den Universitäten in Stuttgart, Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde. Robert Spaemann hatte zahlreiche Gastprofessuren inne, erhielt mehrere Ehrendoktorwürden und war 2001 der Träger des Karl-Jaspers-Preises der Stadt und der Universität Heidelberg. Robert Spaemann, einer der führenden konservativen Philosophen im deutschsprachigen Raum, starb am 10. Dezember 2018.
Über die Bedeutung der Worte »ist«,
»existiert« und »es gibt«
(1980/81)
1. Heidegger: Die Frage nach dem Sein
und ihre Bedeutung
Vor einer Erörterung der Frage, was wir denn mit den Worten »ist«, »existiert«, und »es gibt« meinen, und vor der Suche nach einem Leitfaden zur Beantwortung dieser Frage sollte man versuchen, sich erstens darüber zu verständigen, was die Frage eigentlich meint, d. h. was man eigentlich zu wissen wünscht, wenn man so fragt. Um sich darüber zu verständigen, ist es zweitens notwendig, sich klar darüber zu werden, warum man sich diese Frage stellt. Und schließlich wäre zu fragen, unter welchen Umständen wir bereit wären, eine Antwort als zufriedenstellende Antwort gelten zu lassen.
Was die Verständigung über die Bedeutung der Frage betrifft, so wäre natürlich jetzt eigentlich zunächst zu erörtern, was wir überhaupt wissen wollen, wenn wir fragen, was jemand meint, wenn er etwas sagt, insbesondere was er mit bestimmten Worten meint. Ich will das jetzt nicht im Allgemeinen erörtern, sondern nur in Bezug auf unser Thema. Und da stellt sich natürlich die Frage: Mit Hilfe welcher Worte will man ein Wort erklären, dessen Gebrauch uns allen geläufig ist, und dessen Bedeutung – wie Aristoteles sagt – die allerbekannteste ist?1 Was können wir eigentlich zu verstehen hoffen, wenn wir nicht immer schon verstanden haben, was das Wort »ist« bedeutet und was ein Kind wissen will, wenn es fragt, ob es Einhörner wirklich gibt, oder was der insipiens des Psalmisten meint, wenn er sagt, non est Deus? Was wollen wir eigentlich wissen, wenn wir fragen, was hier »ist« eigentlich heißt? Warum stellen wir die Frage? Warum haben die Griechen sie gestellt? Und: Haben sie sie überhaupt gestellt? In dem Sinne, in dem wir sie stellen? Heidegger hat bekanntlich mit Bezug auf die Bedeutung des Wortes »Sein« folgende Thesen vertreten:2
a. Die Selbstverständlichkeit der Bedeutung des Wortes »Sein« beruht auf einem Vergessen, nämlich auf dem Vergessen eines ursprünglichen Reichtums an Konnotationen, der überhaupt erst so etwas wie einen Verstehenshorizont eröffnete. Unser durchschnittlicher Seinsbegriff ist ein aufs Äußerste – nämlich auf das bloße »Vorhandensein« – reduzierter. Diese Selbstverständlichkeit dessen, was Vorhandensein meint, beruht allerdings darauf, dass es hier gar nichts mehr zu verstehen gibt. Wie kann das sein, dass etwas ganz selbstverständlich und ganz unverständlich ist? Die Antwort Heideggers ist: Beim Begriff des Vorhandenseins handelt es sich um das caput mortuum einer Verstehens- und Vergessensgeschichte. Ziel der Heidegger’schen Bemühung ist die Aufklärung dieser Geschichte, Anamnesis. Dies geschieht durch eine Hermeneutik desjenigen Seienden, das vom Sein spricht und nach der Bedeutung dieser Rede fragt, weil diese Bedeutung der Vergessenheit anheimgefallen ist.
b. Heideggers zweite These ist: Die Geschichte dieses Vergessens ist alt. Zwar schwingen bei den Griechen noch ursprüngliche Konnotationen des Wortes mit, aber gerade sie werden nicht thematisch. Die Metaphysik, die das Seiende als Seiendes thematisiert, ist zugleich von Anfang an eine Verdrängung des ursprünglich Gemeinten. Sie fragt eigentlich nie nach dem, was es heißt, dass etwas ist, sondern sie fragt nach dem, was allen Seienden gemeinsam ist. Sie fragt nach dem, was etwas als etwas charakterisiert, und insofern ist die antike Metaphysik trotz ihrer größeren Nähe zu der anfänglichen Fülle des im Wort »Sein« Gedachten ein erster Schritt auf dem Wege, dessen Ende durch Quines Formel bezeichnet wird: »To be is to be the value of a variable«.3
c. Heideggers dritte These zielt auf das Interesse, das uns leitet bei der Frage nach der Bedeutung von »Sein«. Heidegger geht davon aus, dass erst von diesem Interesse her der Sinn der Frage aufzuklären ist und eine Antwort versucht werden kann. Die Frage entspringt dem Interesse jenes Wesens, das vor der Situation steht: »To be or not to be, that is the question.«4 D. h. des Wesens, das durch Sorge bestimmt ist, durch Sorge um sein eigenes Sein. Und zwar nicht bloß im Sinne der Erhaltung dessen, was es ohnehin schon ist – d. h. kraft Natur oder physei –, sondern das in seiner Selbstbehauptung zugleich in jedem Augenblick darüber entscheidet, was es ist, als was es sich behauptet. Die Seinsfrage stellt sich ihm angesichts der Antizipation des eigenen Nichtseins, des Todes. Hierdurch aber wird für ihn nun auch sein So-Sein zu einer Frage. Ein Wesen hat nur ein So-Sein, insofern es Einheit besitzt. Für ein sich zeitigendes und sein Ende antizipierendes Wesen ist Ganz-Sein nicht eine unmittelbare, von außen konstatierbare Qualität, sondern, etwa analog zu der Ganzheit eines Musikstückes, eine bestimmte Weise der Integration, eines über die Zeit erstreckten Lebens. Angesichts der Endlichkeit dieses Lebens und der damit gegebenen Unmöglichkeit, alle »Möglichkeiten« zu realisieren, wird die Frage nach dem spezifischen So-Sein des Menschen, die Frage nach seinem Ganz-sein-Können, zu einer Frage, deren Beantwortung nicht ohne eigene Entscheidung möglich ist.5 In jedem Falle hat Sein für dieses Wesen, den Menschen, den Charakter eines Um-zu.6
d. Heideggers vierte, die sog. Kehre charakterisierende These geht davon aus, dass das Wort »Sein« mit unseren sonstigen Worten überhaupt inkommensurabel ist. Es bezeichnet den äußeren Horizont unseres Welt- und Selbstverständnisses. Es eindeutig in seinem semantischen Gehalt fixieren, hieße, sich selbst und die Welt endgültig verstanden haben. Es hieße, dass die Geschichte zu Ende wäre und der Mensch auch. Das ist natürlich ein Missverständnis, das in Wirklichkeit das Äußerste der Seinsvergessenheit markiert, einen szientistischen Anthropozentrismus, der Seiendes nur noch als Gegenstand menschlicher Subjektivität kennt, den Menschen selbst schließlich auch unter die Gegenständlichkeit subsumiert und so die Herrschaft einer seinslosen Subjektivität errichtet, des Nihilismus. In Wirklichkeit kann die Bedeutung des Wortes Sein gar nicht analog zu anderen Wortbedeutungen behandelt werden, bei denen es darum geht, sie durch eindeutige Zuordnung zu einem semantischen Gehalt oder zu einer Leistung des Sprechers festzulegen. Vielmehr übergreift der Sinn des mit diesen Worten Gemeinten den Sprecher und die Sprache, so dass Heidegger hier das Verhältnis von Sinn und Bedeutung, wie Frege es verstand, umkehrt: Der Sinn von Sein ist seine Bedeutung. Aber dieser Sinn ist nicht ein mit Bezug auf uns festgelegter intentionaler Gehalt, sondern umgekehrt, die Sprache ist das Sich-Geltendmachen des Sinnes, also des Seins. Was Sein heißt, kann gar nicht innerhalb der Sprache begriffen werden, sondern nur wenn wir begriffen hätten, was Sprache ist, hätten wir begriffen, was Sein ist. Besser aber sagen wir es umgekehrt, denn jeder Versuch, die Sprache vom Subjekt her als ein Mittel seiner Selbstverständigung zu begreifen, geht am Wesen der Sprache vorbei. Die Nähe Heideggers zur sprachanalytischen Philosophie ist nicht von ungefähr: Beide gehen von einem Primat der Sprache vor der Subjektivität aus. Allerdings tendiert die sprachanalytische Philosophie dahin, Sprache selbst noch einmal naturalistisch, z. B. behavioristisch zu interpretieren. Die Frage: Was ist Sprache? scheint nicht noch einmal mit den Mitteln der sprachanalytischen Philosophie beantwortbar zu sein, und insofern ist der Anspruch derselben, die Stelle der prima philosophia einzunehmen, nicht einlösbar. Heidegger ist hier radikaler. Seine Rede von der Sprache als dem »Haus des Seins«7 geht aus von der Unhintergehbarkeit der Metaphorik und sieht das Schicksal des Sinnes von Sein nicht als Sache der intersubjektiven Verständigung einer Kommunikationsgemeinschaft an, die sich über die Verwendung ihrer Termini einigt, sondern als ein Geschehen, innerhalb dessen das Auftauchen von Sprache und damit erst die Ermöglichung von Subjektivität selbst – als ein Ereignis des Sich-Zeigens – verstanden werden muss. Die Versuche, sich über die Natur dieses Ereignisses bzw. über die Bedeutung des Wortes Sein zu verständigen, sind Stadien dieses Ereignisses selbst und sind umso adäquater, als sie sich nicht als Vergegenständlichungen dieses Ereignisses für ein Subjekt verstehen. Wir sind dieses Gespräch und »führen« es nicht.8 Die Verständigung über die Sprache selbst kann deshalb auch nicht wissenschaftlich, sondern nur die eines dichterischen An-Denkens sein: »Dichterisch wohnet der Mensch.«9 Der Horizont, aus dem wir uns verstehen, steht nicht zu unserer Disposition.
2. Aristoteles: Wissenschaft vom »Seienden als solchen« –
eine Suche nach dem Grund von Wirklichkeit
Wie steht es mit Heideggers These von der Seinsvergessenheit der griechischen Metaphysik? Und zwar fragen wir mit Bezug auf Aristoteles. Was will Aristoteles eigentlich wissen, wenn er das on he on thematisiert? Im ersten Kapitel des Buches der »Metaphysik« deutet Aristoteles die Perspektive der Frage an. Es geht – im Unterschied zu jenem späteren Verständnis von Ontologie, auf das Tugendhat Bezug nimmt – nicht um Formalwissenschaft, sondern um Prinzipienwissenschaft. »Wir suchen«, so heißt es in 1003 a 26, »die ersten archai und die obersten aitiai.«
Nun argumentiert Aristoteles so:...
Erscheint lt. Verlag | 10.6.2011 |
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Reihe/Serie | Schritte | Schritte |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | Aufsatzsammlung • Essay • Essayistik • Philosophie • philosophisches Denken |
ISBN-10 | 3-608-10186-1 / 3608101861 |
ISBN-13 | 978-3-608-10186-7 / 9783608101867 |
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Größe: 2,3 MB
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