Gefühlte Opfer
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-94649-9 (ISBN)
Von der unendlichen Bürde entlasten: Diese Sehnsucht bestimmt Erinnern und Gedenken an das Dritte Reich
Seit Jahrzehnten empfinden sich die Deutschen als gefühlte Opfer und vertrauen seit der Rede Richard von Weizsäckers 1985 dem Versprechen, Erinnerung führe zu »Erlösung«. Diese Erinnerungsmoral untersuchen Ulrike Jureit und Christian Schneider historisch, geistesgeschichtlich und psychoanalytisch. Ihr Fazit: Eine vollkommene »Vergangenheitsbewältigung» bleibt eine Illusion.
Ulrike Jureit, Dr. phil., Historikerin, Hamburger Institut für Sozialforschung, Sprecherin der zweiten Wehrmachtsausstellung.
Christian Schneider, geboren 1951, Dr. phil. habil., Privat dozent an der Universität Kassel; zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich psychoanalytischer Kulturtheorie.
ULRIKE JUREIT UND CHRISTIAN SCHNEIDER Unbehagen mit der Erinnerung
ULRIKE JUREIT Opferidentifikation und Erlösungshoffnung: Beobachtungen im erinnerungspolitischen Rampenlicht
I. Erinnerung wird zum Gesellschaftszustand: Eine Beobachtung
Olympioniken der Betroffenheit: Ein Unbehagen . . Geliehene Identitäten: Die Figur des »gefühlten Opfers«
Everything is under Control: Normierungstendenzen einer opferidentifizierten Erinnerungskultur
II. Erinnerung und Erlösung: Ein Missverständnis
Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung: Eine Inanspruchnahme
Formen säkularen Erinnerns: Zwischen Abstinenz, Imitation und Irritation
III. Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses: Eine Kritik
Erinnerungen im Wechselrahmen
Assmann & Assmann: Erinnerung als kulturelle Arterhaltung
Wir-Gefühle am Abgrund
IV. Reichweiten des Erinnerns: Eine Perspektive
Sehnsucht nach dem Neuanfang: Generation und Gedächtnis
Global denken - global erinnern? Opferidentifikation als europäisches Gemeinschaftsversprechen
Wem gehört der Holocaust? Deutungskonflikte in der Weltgesellschaft
CHRISTIAN SCHNEIDER Besichtigung eines ideologisierten Affekts: Trauer als zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik
V . Grundlagen der Vergangenheitspolitik
1966. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik
Die Sprecherposition der »Kritischen Theorie« nach 1945
1968. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse
1967. Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern
VI . Sigmund Freud: Trauer und Melancholie
VII. Trauer und Geschichte. Formen der Erinnerung
Norbert Elias: Jeder trauert um seine Toten
Kollektive Fehlleistungen
VIII. Noch einmal Trauer: Modelle einer anderen Affektkultur
Trauer als »Selbstreflexion im verlorenen Anderen«
Auf dem Weg zu einer neuen Erinnerungskultur?
Anmerkungen
ULRIKE JUREIT UND CHRISTIAN SCHNEIDER
Unbehagen mit der Erinnerung
"Nach Auschwitz ist alle Kultur Müll", lautet ein berühmtes Diktum der deutschen Nachkriegsgeschichte. Theodor W. Adorno verband sein brachiales Urteil mit einem pädagogischen Auftrag: Alles sei dafür zu tun, »daß Auschwitz nicht sich wiederhole«.
Seit dieser Zeit prägt das Schreckenswort Auschwitz die Selbstverständigungsdebatten der Deutschen. Und in dessen Schatten haben sich ihre Geschichtsbilder und ihr Geschichtsbewusstsein entwickelt. Die deutsche Vergangenheitsbeschäftigung steht seit jeher unter dem Zeichen einer Wiederholungsphobie: der Angst, die Vergangenheit könne wiederkehren, das abgründig Destruktive der Geschichte wieder gegenwärtig werden. Diese Furcht dominiert nicht nur das Lebensgefühl der nachwachsenden Generation, sie bestimmt auch bis heute Formen und Muster unseres historischen Erinnerns.
Norbert Elias beschrieb 1977 die damalige politische Situation in Deutschland als eine Spirale der Selbstzerstörung. Die bundesdeutsche Gesellschaft laufe angesichts terroristischer Anschläge und staatlicher Gewalt zunehmend Gefahr, »in eine Eskalation der Furcht verwickelt zu werden, in eine polarisierende Eskalation der Konflikte zwischen denen, die die Errichtung einer kommunistischen Diktatur, und denen, die das Wiederkommen einer faschistischen Diktatur in Westdeutschland befürchten«. 1 Diese gesellschaftliche Spaltung, die ihren destruktivsten Ausdruck im Terrorismus der RAF fand, führte Elias auf eine ausgebliebene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit zurück, durch die die Bundesrepublik in eine tiefe und zudem generationell strukturierte Identitätskrise geraten sei. Während ein erheblicher Teil derjenigen, die den Nationalsozialismus noch selbst erlebt hatten, so täte, als wenn nichts geschehen sei, hätten sich vor allem nachwachsende Jahrgänge vom politischen System der Bundesrepublik abgewandt und im Marxismus das Gegenmodell zum vermeintlich autoritären Staat gesucht. »Für das Identitätsbewußtsein dieser jüngeren Generationen als Deutsche«, so hielt Elias fest, »wurde die offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dringlicher. Dadurch, daß man ihnen dabei nicht half, daß die offizielle Politik weitgehend dahin ging, die offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu vermeiden, trug man nicht nur dazu bei, die gefährliche Hinterlassenschaft Hitlers aus dem Bewußtsein der westdeutschen Bevölkerung zu verbannen, man drängte dadurch besonders auch die intellektuell wacheren jungen Menschen dazu, ihre Identität im Marxismus zu suchen, dem einzigen Gedankengebäude, das ihnen eine Erklärung des Faschismus bereitstellte und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit gab zu fühlen , sie hätten mit dieser Vergangenheit nichts zu tun, sie seien frei von jeder Schuld.«
Elias markierte damit den gesellschaftlichen Wandel in den 1960er und 1970er Jahren als einen Umbruchs- und Transformationsprozess, den er eng an die generationelle Auseinandersetzung und Weitergabe der nationalsozialistischen Vergangenheit gebunden sah. Dieser gesellschaftliche Konflikt mündete zwei Jahrzehnte nach der Staatsgründung nicht nur in eine soziale, ökonomische und politische Neuerfindung der Bundesrepublik, er brachte auch nachhaltige und für die damalige generationelle Konfliktlage signifikante Muster der Vergangenheitsdeutung und Aufarbeitung hervor. Hierbei sei entscheidend, so Elias, dass jüngere Jahrgänge aufgrund der unverstandenen Vergangenheit dem eigenen politischen System entfremdet blieben und mit dem Marxismus die Hoffnung verbanden, dem Gefühl des Makels und der Schuldgefühle, die der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, entkommen zu können. Im Ergebnis weist Elias daher darauf hin, »daß das nationalsozialistische Problem nicht ein Problem der Vergangenheit ist; es hat nie aufgehört, ein aktuelles Problem zu sein«.
Diese Aktualität bestätigte sich 1985 erneut, als Bundespräsi
Erscheint lt. Verlag | 4.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Maße | 136 x 211 mm |
Gewicht | 421 g |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Erinnerung (Geschichte) • Erinnerungskultur • Erinnerungspolitik • Gedenken • Holocaust • Holocaust / Shoah • Kollektives Gedächtnis • Nationalsozialismus • Nationalsozialismus (Ideologie) • Vergangenheitsbewältigung |
ISBN-10 | 3-608-94649-7 / 3608946497 |
ISBN-13 | 978-3-608-94649-9 / 9783608946499 |
Zustand | Neuware |
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