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Anatomie der Angst

Ängste annehmen und an ihnen wachsen

(Autor)

Buch | Hardcover
349 Seiten
2010 | 1., Aufl.
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-94653-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anatomie der Angst - Egon Fabian
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Egon Fabian liefert tiefe Einsichten in das Wesen und die Entstehung von Ängsten. Unser Umgang mit ihnen ist kulturabhängig und individuell verschieden: Jeder von uns hat seine eigene Angstgeschichte und eine dazu passende Bewältigungsstrategie entwickelt.
- Welche Ängste sind normal?
- Welche Bedeutung haben Ur-Ängste?
- Welche Ängste müssen therapiert werden?

Angst ist ein fester Bestandteil des Menschseins. Uns allen ist sie gemeinsam: eine Ur-Angst. Nur durch Rückbesinnung kann es uns gelingen, mit ihr umzugehen und sie als Teil unseres Lebens zu akzeptieren. »Ängste besiegen«, »Endlich frei von Angst und Panik« - so oder so ähnlich lauten die Heilsversprechungen einer wahren Flut von Ratgebern.
Dabei ist es nicht nur ethisch bedenklich, sondern auch nicht ungefährlich, wenn sogar Fachleute die Angst zum besiegbaren Symptom erklären.

- Ein Leben ohne Angst ist gar nicht möglich.
- Keine Angst zu spüren ist gefährlich.
- Die Quelle aller Ängste ist die Ur-Angst.
- Die Ur-Angst können wir nicht besiegen, doch wir können lernen, mit ihr zu leben.
- Angst hilft, unser Leben zu vertiefen und mit anderen solidarisch zu sein.
- Angst ist fester Bestandteil des Menschseins: Nur wer Ängste spürt, ist empathiefähig.

Egon Fabian, Dr. med., Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker und Lehranalytiker, ist Chefarzt der Dynamisch-Psychiatrischen Klinik Menterschwaige in München.

Vorwort von Raymond Battegay ... . . . . . . . .. . . 13
Einleitung: Angst und der heutige Mensch . . . . . . 15
I Die Angst
1 Was heißt Angst? Was ist eine Angststörung? . 25
2 Angst - Begleiter des Menschen . . . . . . . . . . . 43
3 Wie Philosophen über Angst denken . .. . . . . . 53
4 Angst und Religion . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 61
5 Angst in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . .. . . . 70
6 Angst in den Psychosen und den Borderline-Störungen . . 81
7 Die vielen Gesichter der Angst. Variationen auf ein Thema . . . . . 91
Angst und Furcht. Stufen der Konkretisierung . . 101
Angstlust, Angst und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Panik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ....... . 111
Durch Verdrängung bestimmte (»neurotische«) Angst-Manifestationsformen.. . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Phobien 112 ? Angst zu versagen 114 ? Angst, ausgelacht zu werden 114 ? Verarmungsangst 115 ? Angst vor Bedeutungslosigkeit 116 ? Kastrationsangst 118 ? Angst um die anderen 119
Durch Ausagieren bestimmte (»borderlinehafte«) Angst-Manifestationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Trennungsangst 121 ? Angst vor Zurückweisung 125 ? Verantwortungsangst 127 ? Identitätsangst 128 ? Lebensangst 130 ? Angst vor dem Neuen und vor Veränderung 131
Durch Abgrenzungsschwierigkeiten charakterisierte (»psychotische«) Angst-Manifestationsformen .. . 134
Kontaktangst/Gruppenangst 134 ? Auflösungsangst 137 ? Projektionsformen der Angst. Verfolgungsangst (Paranoia) ...138
»Normale« Angst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Angst in den Träumen. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . 141
Angst und Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
8 Defizitäre Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
9 Angst und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
10 Gruppendynamische und transgenerationale Aspekte der Angst . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . 186

II Die Angst vor der Angst
11 Einige Bewältigungs- und Abwehrformen der Angst . . . . . . 199
Durch scheinbares Ignorieren gekennzeichnete (»neurotische«) Abwehr- und Bewältigungsformen. 203
Verdrängung 203 ? Aktionismus 203 ? Streben nach Macht 205 ? Besitzsucht 207 ? Genusssucht 210 ? Faszination der Technik 211 ? Übermäßiges Rivalisieren 212 ? Gewohnheiten 213
Durch Ausagieren bestimmte (»borderlinehafte«) Abwehr- und Bewältigungsformen. . . . . . . . .. . . . 216
Hyperaktivität 216 ? Umwandlung in Aggression 218 ? Erotisieren und Sexualisieren 218 ? Identifikation mit dem Angreifer 220 ? Sucht 220
Durch Abgrenzungsschwierigkeiten charakterisierte (»psychotische«) Abwehr- und Bewältigungsformen . . . . 221
Zwang 221 ? Konkretismus 225 ? Dissoziation 226 ? Depression und Manie 228
Körperliche Abwehr- und Bewältigungsformen . . 229
Psychosomatik 229
Die so genannte Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Exkurs: Jüdischer Humor und Angst. . . . . . . . . . . 232
12 Professionelle Angst: Die Angst des Wissenschaftlers, des Arztes und des Psychotherapeuten . . .. . .236
13 Angst und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .244
14 Angst und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .248
15 Die Angst vor der Angst . . .. . . . . . . . . . . . . . .250
16 Angst und Aggression in der Psychotherapie 253 Angst, Hass und Suizidalität. . . . . . . . . . .. . . . . . . 267
17 Therapie der Angststörungen .. . . . . . . .:: . . . . .270
18 Ausblick: Angst und menschliche Entwicklung. . 305
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

Einleitung: Angst und der heutige Mensch Stefan Zweig schrieb in seiner Autobiographie »Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers« im Jahr 1944 über das Ende des 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts: »In dem einen kleinen Intervall, seit mir der Bart zu sprossen begann und seit er zu ergrauen beginnt, in diesem einen halben Jahrhundert hat sich mehr ereignet an radikalen Verwandlungen und Veränderungen als sonst in 10 Menschengeschlechtern.« »Mein Vater, mein Großvater, was haben sie gesehen? Sie lebten jeder ihr Leben in der Einform. Ein einziges Leben von Anfang bis zum Ende, ohne Aufstiege, ohne Stürze, ohne Erschütterung und Gefahr, ein Leben mit kleinen Spannungen, unmerklichen Übergängen; in gleichem Rhythmus, gemächlich und still, trug sie die Welle der Zeit von der Wiege bis zum Grabe. Sie lebten im selben Land, in derselben Stadt und fast immer sogar im selben Haus; was außen in der Welt geschah, ereignete sich eigentlich nur in der Zeitung und pochte nicht an ihrer Zimmertür.« 2 »Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit [. . .]. Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal.« Und der Begründer der modernen Psychosomatik, Franz Alexander, aus der gleichen Monarchie stammend, charakterisiert die Zeiten, die darauf folgten in seinen Erinnerungen 16 Jahre später mit den Worten: »Wir leben in einer sich rapide verändernden Welt. Die Geschwindigkeit dieser Verände rung hat seit der Industriellen Revolution vor 150 Jahren ständig zugenommen und hat während der letzten 50 Jahre ein beispielloses Tempo erreicht.« 4 Oft in der Geschichte fanden die Menschen, dass sie mit dem raschen Tempo der Veränderungen nicht mehr Schritt halten konnten, dass es die kurze Spanne ihres Lebens und ihre Wandlungsfähigkeit überforderte. Es ist dabei von Bedeutung, dass die Veränderungen, die wir seit einigen Jahrzehnten durchmachen, global sind: Kein Gebiet bleibt ausgespart. Der Wandel führt zu Unsicherheit, Desorientierung, Destabilisierung und zu einem Vakuum bezüglich ethischer Normen und Werte, besonders in unserer Jugend. Hinzu kommen die tief greifenden Folgen der Migration von Menschen aus armen Ländern und der weltweiten Globalisierung, die alte Traditionen und Werte verdrängt. Technologisierte Uniformität setzt sich überall dort durch, wo früher lokale kulturelle Bräuche tief verwurzelt waren. Damit verbunden ist der Abbau sozialer Verhaltensnormen und der Zerfall ethischer Werte zugunsten einer Pseudoethik des Wirtschaftlichen und des Hedonismus; ferner die weitere Abschwächung des Einflusses des Glaubens, der früheren sozialen Strukturen, sowie das weitgehende Fehlen von echten Vorbildern. Wie schon bemerkt, stellen die sozialen, technologischen und kulturellen Veränderungen, die während einer Lebensspanne seit Bestehen der Menschheit noch nie so rasant gewesen sind, die Anpassungsfähigkeit des Individuums auf eine harte Probe. Ältere Menschen müssen die neuen Medien und Technologien in raschem Tempo erlernen und mit den aufeinander folgenden Weiterentwicklungen Schritt halten, um in ihrer Arbeit und ihrem Beruf bestehen zu können, oft verdrängt von den Jüngeren, die mit diesen Medien aufgewachsen sind. Bei den Jugendlichen haben die neuen Medien, die Fernsehfilme, Spielautomaten und elektronischen Apparate das Märchenerzählen, oft auch das Lesen und die alten Spiele ersetzt. Die soziale Kommunikation wird formalisiert, Vereinsamung wird durch die elektronischen Massenmedien beschleunigt. Aufgrund der rapiden Veränderungen, der »radikalen Enttraditionalisierung der Lebensformen«, 5 die die Menschheit noch nicht ausreichend integrieren kann, wird die Frage der Identität des heutigen Menschen zu einem wesentlichen Problem unserer Zeit. Die in immer schnellerem Tempo, quasi exponentiell zunehmende Veränderung um uns hat psychologische Folgen. Sie betreffen unsere Beziehungen zur Welt und zu den Menschen, unser Gefühl der eigenen Identität und unsere Ängste. Alexander sprach von einer Krise des »integrierten Selbst«, die zu einem zentralen Problem unserer Zeit wird. 6 Sie berührt den Alltag, die menschlichen Beziehungen, die Erziehung, soziale Probleme, Wirtschaft und Politik, die Wissenschaft, die Medizin und nicht zuletzt auch die Psychotherapie. Die psychotherapeutische Arbeit zeigt, dass der Einfluss der globalen Probleme potenziert wird durch den Zerfall traditioneller familiärer Strukturen und des Gruppenzusammenhalts, mit dem Ergebnis einer wachsenden Isolation des Individuums. Darüber hinaus sind das häufige Fehlen des Vaters als Identifikationsfigur und die Seltenheit echter Vorbilder in der nationalen und Weltpolitik Faktoren, die die Entwicklung der Persönlichkeitsstörungen und Psychosen begünstigen. Identitätsprobleme neigen da zu, die existenzielle Angst zu vergrößern. Natürlich lebten die Menschen auch in anderen Zeiten mit ihren Ängsten: Die Lebenserwartung war kürzer, Krankheiten, Seuchen, Kriege, Armut bedrohten die Menschen. Jedes Zeitalter hatte »seine« Ängste, die mit der besonderen Geschichte der Zeit verbunden waren. Unsere Ängste hängen stark mit den Verunsicherungen, den Bedrohungen unserer Zeit, mit dem Nachlassen oder dem Untergang traditioneller Strukturen, den rapiden Veränderungen der Technologie und ihren Gefahren, mit der identitätsmäßigen Unsicherheit zusammen. Haben wir heute spezifische Ängste, die andere Epochen nicht oder weniger kannten? Der bekannte Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Raymond Battegay schreibt dazu: »Die Angst hat die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt. Sie scheint aber noch nie so dominant wie heute gewesen zu sein. Der moderne Mensch, obschon er kaum einen Ort findet, an dem er für sich selbst sein kann, fühlt sich zutiefst vereinsamt. Allein steht er oft seinen Lebensaufgaben gegenüber. Angst bemächtigt sich deshalb seiner.« Wir sind zum ersten Mal in der Geschichte für unsere Ängste selbst verantwortlich, wir haben sie größtenteils selbst heraufbeschworen. Zum ersten Mal in der Geschichte sind es Bedrohungen von Menschenhand , die unsere existenziellen Ängste schüren. Der frühere Mensch fürchtete sich vor Blitz und Donner, vor der Pest; er brachte diese »Strafen« in Verbindung mit seinen Sünden und suchte Gnade und Vergebung bei den Göttern, die es zu beschwichtigen galt. Jeder konnte sein Leben tugendhafter gestalten, seinen Glauben stärken. In unserem Zeitalter sind dieser Glaube und die damit verbundene Hoffnung nicht mehr Teil unserer Welt. »Die Angst [ist] längst nicht mehr ein Problem des einzelnen: Sie ist zur ?Krankheit? unseres [des 20.] Jahrhunderts geworden. Sie äußert sich nicht nur im Leben des Individuums, sondern im Kollektiv, in der Gesellschaft.« 9 In Anlehnung an ein Gedicht von W. H. Auden, »The Age of Anxiety«, 10 spricht man von einem Zeitalter der Angst, die in Kunst, Literatur und Philosophie mehr und mehr im Mittelpunkt steht. Freilich hätten Kafkas Romane und Erzählungen nicht den Popularitätsgrader reicht, den sie heute besitzen (trotz der einzigartigen literarischen Qualitäten seiner Schriften), wenn sie nicht dieses Empfinden einer vagen, unerklärlichen, unheimlichen Angst für viele Leser ausdrücken würden. Die Angst vor der Leere, vor der Begegnung mit sich selbst kommt auch zum Ausdruck, quasi als Symptom, in der all-gegenwärtigen akustischen Füllung, die uns allenthalben begegnet: in Restaurants, auf den Flughäfen, in öffentlichen Gebäuden. Die Jugendlichen (und die vielen jugendlichen Erwachsenen) müssen sich durch ohrenbetäubende Musik in Discos, Autos und durch Ohrenstöpsel vor der Leere und Langeweile schützen; ihre Popmusik, der genuinste Ausdruck ihrer inneren Welt und ihrer Not, drückt Wut, oft blinde Revolte und Verzweiflung aus, die Suche nach einem Sinn in Liebe oder Sex. Sie scheinen in einen Teufelskreis zu geraten, der sie auf der Flucht vor der Angst (oft nur als innere Leere wahrnehmbar) in die Wut, von der frustrierten Wut wieder in die Angst treibt. Aktivität und Konsum werden als Auswege von unserer Marktwirtschaft angeboten und nach Kräften gefördert. In der Kunst und der Musik unserer »Postmoderne« können wir die Schatten der Orientierungslosigkeit, der Angst, der Ohnmacht und der Wut, die diese Ohnmacht erzeugt, deutlich spüren. Die moderne Architektur mag eindrucksvoll sein, schreibt der Psychoanalytiker Arno Gruen, »sogar Schwung haben«. Aber wenn wir fertig sind, sie mit unseren Augen zu überfliegen, »befinden wir uns immer noch auf der Suche nach etwas mehr. Das Auge ist nicht ?gesättigt?, man ist nicht zur Teilnahme angeregt worden. Ja, vielleicht gab es dem Betrachter sogar unmittelbar ein Gefühl von Macht; das füllt aber auch nicht aus, da es einen dazu bringt, nur nach mehr zu suchen.« Aber noch etwas hat sich in unserer Zeit geändert: die Mechanismen, die früher die Angst linderten und Hoffnung schafften: die Religion, der Glaube, die menschliche Gemeinschaft, das Leben in großen Gruppen. Der Mensch vereinsamt immer mehr, lange nicht mehr nur in der Anonymität der Großstädte; die Großfamilie und die traditionellen sozialen Strukturen lösen sich überall auf, in Europa schon seit der Industriellen Revolution vor etwa 150 Jahren, und andere Kontinente folgen, vom technologischen Fortschritt verblendet, in raschem Tempo. Die Sicherheit alter Bräuche, Mythen, kultureller Traditionen schwindet wie die Gletscher auf Grönland. Der moderne Mensch bleibt angesichts seiner Ängste allein. Das ist das Neue. Mit dem Verschwinden der Sicherheit der alten sozialen Strukturen und des Glaubens verschwindet auch der Halt, und der Mensch sieht sich alleine konfrontiert mit dem Nichts. Die Medien und die Populärwissenschaft haben sich des aktuellen und publikumswirksamen Themas Angst angenommen: Sie haben eine wahre Angstkultur geschaffen. Andererseits sind es die Medien, darunter auch die ernst zu nehmenden, die beängstigende Nachrichten bagatellisieren. »Erdbeeren aus Grönland?«, kündigt ein Artikel aus der Süd-deutschen Zeitung an, 12 in dem die Prognose, dass »der Meeresspiegel bis zur Jahrhundertwende allein durch das Wasser des grönländischen Eises bis zu 15 Zentimeter steigen wird«, gleichrangig ist mit der Erwartung der Erdbeerzüchtung. Die Populärwissenschaft, unterstützt von manchen Fachleuten, hat eine wahre Flut von »Ratgebern« hervorgebracht, die die Angst als ein fast überflüssiges Übel bagatellisieren und »wirksame« Wege für ihre Bekämpfung versprechen, um die »Ängste besiegen« und »Endlich frei von Angst und Panik« oder »Frei von Angst - ein Leben lang« sein zu können. Im Internet wird geworben: »Man braucht im Leben nichts zu fürchten«, »Angstfrei leben«. Der bekannte Angstforscher Borwin Bandelow verspricht sich von den Vomeropherinen, neuen Substanzen, die gegen Angst wirken sollen, einen derartigen Durchbruch, dass er hofft - nur halb scherzhaft -, es werde »vielleicht ein Nasenspray gegen Ängste entwickelt werden« 13 . Es ist nicht nur ethisch bedenklich, sondern auch nicht ungefährlich, wenn vor allem Fachleute die Angst und ihre Zunahme zum »besiegbaren« Symptom verharmlosen und dies mit verschiedenen Trainings und dergleichen erreichen wollen; sie verheißen ein Leben ohne Angst, so wie sie die Hoffnung und Illusion nähren, der Mensch könnte eines Tages ohne Schmerz und ohne zu altern existieren. Angst ist als existenzielle Angst ein Urgefühl menschlichen Daseins. Es wird nie ein Leben ohne Angst geben. Die Menschen unterscheiden sich weniger dadurch, ob sie Angst haben; sie unterscheiden sich in der Art, wie sie gelernt haben, die Angst auszudrücken. Und sie unterscheiden sich wesentlich in der Art, wie sie mit der Angst umgehen, mit anderen Worten in ihrer Art, die eigene Angst vor der Angst zuzulassen oder abzuwehren, zu verdrängen oder zu konfrontieren. Obwohl wir heute mit einer Vielfalt von Ängsten zu leben haben, die unsere Vorfahren nicht kannten - oder vielleicht gerade deswegen -, weichen wir der Angst mehr aus als früher: Wir vermeiden die Angst der Begegnung mit der eigenen Urangst, die Angst vor der Angst. Dies ist das Hauptthema des zweiten Teils dieses Buches. Trauma und Angst Ein Trauma kann die gesamte verborgene Todesangst mobilisieren. Die Sprache beinhaltet viele Ausdrücke, die die Verbindung zwischen Trauma und Angst veranschaulichen: »den Boden unter den Füßen entziehen«, »Sturz in den Abgrund« oder »Auflösung ins Nichts«; sie beschreiben plastisch das Gefühl der Urangst, besser, als konkrete Beschreibungen es tun könnten. In einem bestimmten Sinn ist die existenzielle Angst eine posttraumatische Angst: Das Ur-Trauma des unter Angst leidenden Menschen ist die Verlassenheit mit all ihren »Spielarten«. Jeder Patient mit einer psychosomatischen Krankheit, einer Persönlichkeitsstörung oder einer Psychose ist früh traumatisiert. Die Traumatherapie sondert die »sichtbaren« Traumata ab, weil sie biologisch gut nachvollziehbar sind, und begründet eine »neue Therapiemethode«, die sich jedoch lediglich mit dem isolierten Trauma beschäftigt. Im Grunde nutzt die Traumatherapie bekannte physiologische Erklärungen, »modernisiert« durch die neueren Fortschritte der Neurobiologie, besonders der bildgebenden Verfahren, und leitet daraus eine Therapie ab, die verhaltenstherapeutische und hirnphysiologische Elemente kombiniert. Sie beinhaltet die Gefahr der Physiologisierung und Banalisierung der menschlichen Angst und ist, nach Kernberg, »ideologisch durchsetzt«. Kernberg meint, dass »Traumabehandlung übertrieben [wird], besonders in Deutschland«. Traumata im pathologischen Sinne sind (wenn man einmalige akute Traumatisierungen wie Zug- und Flugzeugunglück, sexuelle und Gewalttraumata ausnimmt, die in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen - sie sind die Domäne der »klassischen« Traumatherapie) immer Beziehungstraumata. Das misshandelte oder missbrauchte Kind leidet nicht nur - und oft nicht einmal hauptsächlich - unter dem eigentlichen Trauma selbst, sondern vielmehr darunter, dass der Täter, meist ein Vertrauter, »plötzlich«, für das Kind völlig unerklärlich, sich verändert, bedrohlich und unkenntlich wird. Er ist unberechenbar geworden und hat sein wahres Gesicht verloren, hat nunmehr zwei Wesen. Auch Alkoholiker gehören zu solchen Bezugspersonen, die zwei unterschiedliche Gesichter haben können: Unter Alkohol traumatisieren sie das Kind durch Missachtung der Grenzen - im Sinne der Gewalt oder des Sexualisierens - im nüchternen Zustand können sie danach weiterhin »liebe« Elternfiguren sein. Eine junge Frau berichtete, dass sie und ihre Schwester - beide schliefen im Kinderzimmer im oberen Stockwerk - an den Schritten des heimkehrenden Vaters gelernt hatten zu erkennen, ob dieser nüchtern oder betrunken war. Im einen Fall war er ein liebevoller Vater, der den Kindern einen Gute-Nacht-Kuss gab; im anderen ein »Monster«, unansprechbar, gewalttätig, das die Kinder ohne ersichtlichen Grund weckte und verprügelte. Diese Beziehungsverunsicherung und -traumatisierung, das Unberechenbare der Bezugspersonen, trägt zur späteren Borderline-Pathologie bei. Spätere Traumatisierungen sind besonders dann folgenschwer, wenn sie auf den »fruchtbaren« Boden früherer (Beziehungs-)Traumatisierungen fallen. Damit ist das Trauma im Grunde eine Retraumatisierung. Dulz sieht frühkindliche traumatische Erfahrungen - auch schon pränatal - als prädisponierend für die Entwicklung einer Borderline-Störung. In diesem Sinn ist auch das Konzept kumulativer Traumatisierung zu verstehen. Die Entwicklung einer Borderline-Störung mit Angstsymptomatik nach einer Traumatisierung durch Misshandlung oder Missbrauch (im Sinne einer sog. Posttraumatischen Belastungsstörung, PTSD) hat zur Bedingung, dass in der Kindheit Verlassenheit, Vernachlässigung oder sonstige Beziehungsstörungen vorhanden waren. Die traumatisierenden Ereignisse wiederholen dynamisch die alten Verlassenheitstraumata und werden erst dadurch pathogenetisch wirksam. Ein ca. 40-jähriger, in seinem Beruf erfolgreicher Mann erzählte, dass seine posttraumatischen Symptome - Albträume, diffuse Ängste, schwere dissoziative Symptome (Bewusstseinsspaltungen) - mit einer Enttäuschung an seiner neuen Arbeitsstelle begonnen haben. Man hatte ihn befördert und ihm den Posten des zukünftigen Leiters der ausländischen Zweigstelle in Aussicht gestellt. Dort angekommen, wurde er bald vom älteren Chef enttäuscht, fühlte sich von diesem nicht richtig wahrgenommen, wurde schwer depressiv und kehrte schließlich gekränkt zum Wohnort der Mutter zurück. In der Therapie konnte der Patient zwischen diesem Ereignis und früheren einschneidenden Episoden in seiner Kindheit eine Verbindung finden: Als Vierjähriger fühlte er sich von seinem Vater, der »nur mit sich selbst beschäftigt war«, nicht gesehen; schließlich stellte sich heraus, dass dieser schwer erkrankt war und später auch starb, ohne eine Annäherung an den Sohn gefunden zu haben. Nach dem Tod des Vaters wurde das Kind zu den Großeltern genommen, wo es sich wohl fühlte und den Großvater als Ersatz für den verlorenen Vater erlebte. Bald aber holte ihn die Mutter unvermittelt zu sich zurück, nachdem sie nun für ihn »wieder Zeit hatte«; vom Großvater konnte er sich nie verabschieden. In der modernen Literatur über Trauma und Angst, die der Traumatologie verschrieben ist, vermisst man meistens die emotionale Qualität; diese geht verloren in der Analogie zwischen dem niedrigeren Tier, das aus Angst instinktiv handelt, und dem Menschen mit seinen komplexen emotionalen Erfahrungen, die bereits im frühen Säuglingsalter einsetzen. Beim Kind und beim traumatisierten Erwachsenen geht es nicht um die Angst, die von der plötzlichen Begegnung mit einer Schlange im Wald verursacht wird, sondern um eine Urangst, die von Verlassenheit ausgelöst und in ihrer Intensität und Verhaltenssteuerung von verinnerlichten Dynamiken in der eigenen Geschichte moduliert wird. Bei all den oft verheerenden Folgen der Traumata darf man nach meiner Auffassung auch einen anderen Aspekt nicht aus den Augen verlieren: Für Menschen, die bereits unter einer diffusen, frei flottierenden Angst leiden, führt ein traumatisches Ereignis nicht nur zu einer Reaktivierung der Todesangst, sondern auch zu einer Art Konkretisierung dieser Angst. Wie ein »neurotischer« Mensch seine Angst in Furcht zu verwandeln sucht und ein »paranoid-psychotischer« diffuse Angst an eine verfolgende Instanz oder eine Verschwörung bestimmter Personen bindet, so kann auch ein traumatisierter Mensch seine Todesangst durch das Trauma konkretisieren, an ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Person binden. Freilich sind die Ängste eines traumatisch geschädigten Menschen oder eines paranoiden Patienten oft nicht weniger intensiv, dafür aber »fassbarer« und - falls das Trauma von Tätern verursacht wurde - auch »persönlicher« und damit meist leichter zu ertragen und zu verarbeiten. Deshalb zeigen viele Menschen das starke Bedürfnis, ihre Angst auf ein bestimmtes Trauma kausal zurückzuführen. Die Konzentration des Traumatherapeuten auf das Trauma beruht damit letztendlich auf einer Identifikation mit den Abwehrstrategien des Patienten. Traumatisierende Ereignisse beschränken sich selten auf eine einfache Täter-Opfer-Dynamik. Sie stellen mit großer Regelmäßigkeit gruppendynamische Situationen dar, in denen aktive und passive Mittäter bzw. duldende Dritte oder Untergruppen eine bedeutende Rolle spielen. Die häufigste Variante der Mitwirkung von Einzelnen und Gruppen in traumatisierenden Situationen ist das passive Dulden, das Nicht-Hin-schauen. Wir kennen sie aus zahlreichen Beispielen, aus Filmen wie »Gegen die Wand« 20 (hier wohnt eine Gruppe von »Unbeteiligten« der aggressiven Eskalation bei, die dann mit einem Mord endet, ohne zu intervenieren), oder »Shine« (in dem die Mutter »ruhig« bügelt, während der Vater den Sohn seelisch mit Schuldgefühlen misshandelt). Meist sind die Inhalte der Traumatisierung sowohl gewalttätig als auch sexuell. Eine 32-jährige Patientin erzählte von ihrer frühen »schleichenden« Traumatisierung mit aggressiven und sexuellen Inhalten: Ihr sadistischer Vater pflegte sie als Kind in den benachbarten Wald mitzunehmen, wenn sich dort jemand erhängt hatte, um ihr dies »zu zeigen«. Der Vater bestand darauf, dass die Tochter noch in ihrer Pubertät im Ehebett mit ihm schlafen sollte (die Mutter schlief im Wohnzimmer, aus »Bequemlichkeit«), wobei er als »Druckmittel« unter seinem Kissen ein Beil »bereithielt«. Die Mutter äußerte in einem späteren Gespräch mit der Tochter ein mildes Staunen darüber und rationalisierte ihre passive Haltung mit bestimmten »räumlichen Notwendigkeiten«; außerdem habe sie in diesen Dingen nichts Gravierendes erkennen können. Die passiv-aggressive Mittäterschaft wurde schon in den heftigen Gegenübertragungsgefühlen des Therapeuten, der das Gespräch führte, deutlich.

Vorwort Raymond Battegay
Sprache deutsch
Maße 136 x 211 mm
Gewicht 497 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Angst • Angst / Angstbewältigung; Ratgeber • Angststörung • Angsttherapie • Borderline • Furcht • Neurologie • Philosophie • Phobie • Psychiatrie • Psychoanalyse • Psychologie • Psychose • Psychotherapie • Ur-Angst
ISBN-10 3-608-94653-5 / 3608946535
ISBN-13 978-3-608-94653-6 / 9783608946536
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