Stadt aus Wasser und Licht - Die Maskenmagierin (Stadt aus Wasser und Licht 1) (eBook)
384 Seiten
arsEdition GmbH (Verlag)
978-3-8458-5698-8 (ISBN)
Mela Nagel wurde 1983 im bayrischen Rottal geboren. Weil sie bis zu ihrem Abi alle dort verfügbaren Abenteuer erlebt hatte, zog es sie in die weite Welt, jobbte in britischen Pubs, Schlössern und Fitnessstudios, machte zwei Studienabschlüsse in Musik, absolvierte eine Ausbildung zur Requisiteurin und arbeitete einige Jahre für diverse Kinofilmproduktionen, Theater und Musikhäuser. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Köln, schreibt, macht Musik und spielt ab und zu Improtheater.
Kapitel 1
Überraschung!
Könnte bitte jemand die Zeit zurückdrehen? So fünf Minuten? Die reichen vollkommen. Dann könnte ich mein Skizzenbuch rechtzeitig unter meinem Matheheft verschwinden lassen. Könnte mit den anderen auf dem Weg zum ersten Treffen für den Maskenball der Schule sein. Aber nein. Signora Anola kann ihre Stifte nicht im Zaum halten. Deshalb stehe ich schon am Ende des ersten Schultags vor Signore Eduardo, dem Mathelehrer, der mich von der anderen Seite seines Mahagonimonsters von einem Lehrerschreibtisch aus beäugt. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, gerade zu ihm Abstand zu halten. Seit meinem ersten Tag auf dem Liceo Artistico Palazzo Tutori Venezia vor genau einem Jahr ist uns beiden klar, dass meine Mathekenntnisse unter dem hier herrschenden Durchschnitt liegen. Was für mich kein Problem ist – hey, akzeptiere deine Schwächen und du hast mehr Zeit für deine Stärken –, ist für ihn eine absolute Katastrophe. Mich beim Stärken meiner Stärken, dem Zeichnen, erwischen zu lassen, okay, ist dämlich.
Auf seiner Glatze bilden sich Falten, als schiebe jemand das Verdeck eines Cabrios nach hinten. So wie er mich anschaut, könnte man fast meinen, es liegt an meinem Outfit, denn meine zerfetzten schwarzen Shorts und das ebenso schwarze und übergroße Shirt scheinen seinen Geschmack nicht zu treffen – genau wie meine Mathekünste. Trotz der Hitze, die Venedig seit Tagen in Beschlag nimmt, trägt er wie immer lange Cordhosen, ein Karohemd, Hosenträger und eine Fliege, auf der sein roter runder Kopf sitzt. Nur die runde Brille schert sich nicht um die Korrektheit seines Auftritts: Immer wieder rutscht sie auf der mit Schweißperlen überzogenen Stupsnase ein Stück nach unten.
Während ich mich zurückhalten muss, nicht wie ein Pinguin auf Speed auf und ab zu hibbeln, hockt er ganz gelassen in seinem Sessel. Unter seiner Hand mein Skizzenbuch, das er mir kurz vor Ende der Stunde abgenommen hat. Ein dicker Strich quer über die filigranen Masken, die ich gezeichnet habe, zeigt deutlich, wie in flagranti er mich erwischt hat. Ein Anblick zum Heulen.
Ich liebe meine Zeichenstifte, sie sind wie eine Verlängerung meiner Finger für mich. Und ich liebe mein Skizzenbuch. Den dunkelbraunen Ledereinband, die roten Bänder, um es zu verschließen. Papa hat es mir geschenkt, für die vielen Inspirationen, die Venedig mir bieten wird. Schnell schiebe ich den Gedanken an Papa beiseite. Konzentration, Anola!
»Anolaaaa …« Oje, ein Säusler. Wenn Signore Eduardo anfängt, meinen Namen gleichzeitig genervt und mitleidig zu seufzen, dann heißt es Nerven behalten. »Ich wollte ohnehin mit dir reden, aber dass es heute dafür einen zusätzlichen Anlass gibt, stimmt mich traurig.«
Mich stimmt traurig, dass sich die Schritte und Stimmen meiner Mitschüler draußen auf dem Flur entfernen, ohne mich. Wie es eine der vielen Traditionen dieser Schule verlangt, hilft der vorletzte Jahrgang dem Abschlussjahrgang bei der Vorbereitung und der Orga des alljährlichen Maskenballs, der als Aushängeschild der Schule gilt und zu Karneval stattfindet. Alle sind heiß drauf. Ich auch. Also: Flucht nach vorn!
»Es tut mir leid und ich kann Ihren Ärger verstehen. Ich hätte nicht zeichnen dürfen. Aber ich kann mich einfach besser konzentrieren, wenn ich meine Finger beschäftige.«
»Kannst du das? Mich verstehen?«
Die Ungeduld lässt mich stöhnen. Gerade noch kaschiere ich es mit einem Husten. Jemanden, der die Funktion x von Absolute-Lebenszeitverschwendung studierenswert findet, werde ich vermutlich nie verstehen. Doch diese Antwort würde mein Skizzenbuch wohl eher in seiner Schreibtischschublade und nicht in meiner Umhängetasche verschwinden lassen. »Sie sind Lehrer und wollen mir Mathe beibringen. Ich zeichne in Ihrem Unterricht. Nicht optimal.«
Er nickt, seine Miene wirkt weicher. »Jedes Jahr erlebe ich das gleiche Drama: Sobald es um den Maskenball geht, werden die Schüler unaufmerksam. Dabei steht ihr Abschluss kurz bevor. Dein Abschluss steht kurz bevor.«
Ich lächle, so höflich ich kann. »Genau genommen habe ich noch zwei Jahre.«
»Das ist der Punkt, den du unterschätzt.« Sein Blick streicht von mir durch sein Klassenzimmer. Klassensaal trifft es wohl eher. Wie der Rest der Schule ist sein Kursraum überdimensioniert. Ein ganzes Orchester passt hier rein, zusammen mit einem voll besetzten Chor. Stuck an den Decken, ein Kronleuchter aus Kristall und wunderschön polierter Parkettboden. Eliteschule lautet das Zauberwort. Keine städtische Schule könnte es sich je leisten, in einem Palast, nur eine Gondellänge vom Canal Grande entfernt, so wenige Schüler zu unterrichten. In meinem Jahrgang sind wir 24. Das ist nicht einmal die Hälfte der Schüler, mit denen ich bis vor einem Jahr ein stinknormales Liceo in Trient besucht habe. Wenn es nach mir ginge, hätte Trient gereicht, ein mittelmäßiger Abschluss auf einer mittelmäßigen Schule. Aber mein Vater war anderer Meinung. Generell kann ich die Schnöselhaftigkeit dieses Vereins hier verdrängen, denn das Kunstprogramm ist viel zu himmlisch. Aber in diesem Moment könnte ich darauf verzichten. Als ich zu einer Antwort ansetzen will, kommt mir Signore Eduardo zuvor. Mist.
»Wenn du jetzt Stoff verpasst, wirst du ihn kaum aufholen. Im Abschlussjahr gibt es dafür keine Zeit. Also gilt es, die Zeit davor zu nutzen. Aus diesem Grund herrscht in meinem Klassenzimmer hundertprozentige Konzentration, Anola. Diese habe ich bei dir bisher kaum gesehen.«
»Heute ist der erste Schultag. Da ist man schon mal abgelenkt«, sage ich und muss mich zusammenreißen, die Ungeduld in meiner Stimme zu unterdrücken.
»Heute ist ein ganz normaler Schultag. Genauso wie alle anderen im letzten Jahr. An denen du meistens nur mit einem Bruchteil deines Verstandes anwesend warst.«
Ich hole tief Luft. »Letztes Jahr war … hart.« Eine bessere Beschreibung gibt es nicht. Mehr will ich dazu nicht sagen. Nicht daran denken.
»Ich weiß«, räumt Signore Eduardo ein. »Deshalb habe ich dich erst einmal in dieser neuen Situation ankommen lassen. Doch nun ist die Schonzeit vorbei, Anola. Ich werde nicht dabei zusehen, wie du dir deine Zukunft verbaust oder«, er wirft einen Blick auf meine Skizzen, »verkritzelst. Du wirst in die Nachbetreuung gehen.«
Die Fliege schnürt die Durchblutung einiger seiner Gehirnregionen ab, eindeutig. Die bestimmende Art und Weise seines »Du wirst« macht mich kurz sprachlos. Darf er mir das überhaupt aufbrummen?
Signore Eduardo bemerkt gar nicht, wie ich nach Luft schnappe. »Je eher du deine Schwachstellen angehst, desto schneller füllen sich die leeren Gruben, die deine Bildung in der Mathematik darstellen.«
Vielleicht mag ich meine leeren Gruben? Da hat vieles Platz. Den könnte ich vermieten, Platz ist in Venedig Mangelware. Die Miete pro Quadratmeter kriege ich auch ohne seine höhere Mathematik berechnet. »Ich glaube nicht, dass ich das möchte.« Ich bin ein bisschen stolz, das Beben in meiner Stimme ist kaum zu hören.
Signore Eduardo lächelt mich an. »Es ist das Beste für dich.«
Eine von diesen Gruben irgendwo in meiner Magengegend ist definitiv nicht leer, sondern mit heißer Lava gefüllt. Zumindest fühlt es sich so an. Denn: wie herrlich! Schon wieder weiß jemand besser als ich, was das Beste für mich ist. Auf den Umzug nach Venedig hätte ich verzichten können. Auf diese Schule hätte ich verzichten können. Aber: »Es ist gut für dich, das Beste.« Noch einer oder eine, die das zu mir sagt, und ich stürze mich aus dem Fenster und ertränke mich im Kanal. Doch eine kleine schlaue Stimme in meinem Kopf fügt sofort hinzu: Bei deinem Glück fällst du auf eines der Müllboote, die Venedig täglich durchkreuzen. Und landest wieder hier. Stinkend …
»Sie stempeln mich ab, am ersten Tag. Nur weil ich kurz eine Skizze angefertigt habe, muss ich nicht gleich durchfallen. Ob ich Nachhilfe nehme, ist meine Sache.«
»Wie soll das erst in ein paar Wochen laufen, wenn dein Jahrgang Tag und Nacht mit den Vorbereitungen beschäftigt ist? Da ich diesen Ball nicht verhindern kann, leider, und die Konsequenzen in Kauf nehmen muss, ergreife ich bereits jetzt Ausgleichsmaßnahmen. Dein-«
Weiter kommt Signore Eduardo nicht, denn ein Klopfen unterbricht ihn. Anstatt wie sonst wegen der Störung gereizt zur Tür zu sehen, tritt ein freudiger Ausdruck in sein Gesicht. Ein Anblick, der mich gruselt. Trotzdem wittere ich meine Chance auf ein schnelles Ende dieser Farce. »Ich will nicht weiter stören«, sage ich. Meine Füße machen einen Schritt in Richtung Pult, um mein Skizzenbuch einzupacken und zu verschwinden.
Doch die Linke von Signore Eduardo hebt sich wie ein Stoppschild...
Erscheint lt. Verlag | 26.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-8458-5698-X / 384585698X |
ISBN-13 | 978-3-8458-5698-8 / 9783845856988 |
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