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Männlicher Krieg und weiblicher Frieden?. Geschlechterordnung von Gewalterfahrungen. [Was bedeutet das alles?] (eBook)

Kemper, Claudia - 14351 - Originalausgabe
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
60 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962193-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Männlicher Krieg und weiblicher Frieden?. Geschlechterordnung von Gewalterfahrungen. [Was bedeutet das alles?] -  Claudia Kemper
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In Kriegen und Gewaltkonflikten sind Zivilisten und vor allem Frauen zunehmend Opfer von Gewalt. In den militärischen Kampfeinheiten dienen wiederum hauptsächlich Männer. Diese Tatsache wird in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch reduziert auf eine stumpfe Gegenüberstellung: Männlicher Krieg und weiblicher Frieden. Tatsächlich aber entspricht die Wirklichkeit von Gewalt und Gewalterfahrungen nicht dieser strikt bipolaren Rollenverteilung. Die Historikerin Claudia Kemper diskutiert die Komplexität von Geschlechterordnung und Gewalt und wie diese sich fortsetzt, wenn die Gewalt längst beendet ist oder weit entfernt stattfindet. 

Claudia Kemper, geb. 1973, ist wissenschaftliche Referentin am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster sowie Privatdozentin an der Universität Münster. 

Claudia Kemper, geb. 1973, ist wissenschaftliche Referentin am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster sowie Privatdozentin an der Universität Münster. 

Männlicher Krieg und weiblicher Frieden?


Was ist das Problem?


Lassen Sie uns ein einfaches Experiment durchführen. Schalten Sie an einem beliebigen Abend eine Nachrichtensendung ein und verfolgen Sie die Berichte aus dem In- und Ausland. In der Regel wird auch über Gewaltkonflikte berichtet. Verfolgen Sie die Auswahl der Ereignisse, hören Sie auf die Sprache und schauen Sie sich die Bilder an. Eine gewisse Abweichung einkalkuliert, dürften diese Berichte einem klaren geschlechtsspezifischen Muster folgen. Sie sehen Diktatoren, Kriegsherren, Soldaten oder Marodeure, und Sie sehen oder hören zumindest von Opfern, Vertriebenen oder Getöteten. Werden Sie überrascht sein, dass erstere Gruppe hauptsächlich aus Männern besteht und letztere aus Frauen und Kindern? Mit großer Wahrscheinlichkeit werden Sie die geschlechtsspezifischen Muster der Berichterstattung sogar normal finden und meine Frage eher gelangweilt zur Kenntnis nehmen. Männer führen Kriege, und Frauen sind Opfer. C’est ça.

In der Tat kann die Berichterstattung über internationale oder lokale Gewaltkonflikte und Kriege deshalb nicht überraschen, weil die kämpfenden Militäreinheiten dieser Welt in überwältigender Zahl aus männlichem Personal bestehen, auch in Ländern, in denen weibliche Rekrutinnen schon lange zugelassen sind. Die meisten Todesopfer im Krieg sind deshalb männlich. Jedoch nimmt die Zahl der Zivilist*innen unter den Kriegsopfern stetig zu, mittlerweile liegt sie schätzungsweise bei 90 Prozent. Und die Mehrheit davon sind Frauen und Kinder. Sie mögen überleben, aber tragen vielfältige Gewalterfahrungen mit sich.

Dennoch sollten wir uns wundern. Warum halten Sie diese, wenn man so will, Rollenverteilung für normal? Was genau müsste sich ändern, um Sie in einer Berichterstattung über Krieg und Gewaltkonflikte zu überraschen? Wie lässt sich erklären, dass die Welt immer komplizierter, die Rechtslage umfassender, das Wissen über die Bedingungen von geschlechtsspezifischer Gewalt immer umfangreicher wird, aber der Umstand, dass Gewalt im starken Maße von Männern ausgeübt und überwiegend von Frauen erfahren wird, eine Konstante bildet, die – wie aktuelle Studien belegen – sich sogar wieder intensiviert? Und zudem: Welcher Zusammenhang besteht zwischen geschlechtsspezifischer Gewalt in Kriegszeiten und der Geschlechterordnung in Friedenszeiten? Ein starker, behaupte ich.

Geschlechtsspezifische Kriegsgewalt ist kein Phänomen, das für sich alleinsteht. Dass mehrheitlich weibliche Opfer Gewalt erleben, sei es durch Bombardierungen, Massenvergewaltigungen, Versklavung oder Femizide, ist ebenso ein Fakt wie die entsprechende Überzahl männlicher Täter. Jedoch wird diese Tatsache in der öffentlichen Wahrnehmung reduziert auf eine stumpfe Gegenüberstellung: Männlicher Krieg und weiblicher Frieden, männliche Gewalt und weibliche Opfer. Diese strikt bipolare Rollenverteilung entspricht zwar nicht der Wirklichkeit von Gewalt. Dennoch hat die Vereinfachung eine starke Wirkung und setzt sich fort, so behaupte ich, wenn die Gewalt längst beendet ist oder weit entfernt stattfindet. Die Rollenverteilung wird nicht in Frage gestellt, sondern als Folge essentialistischer Eigenschaften gedeutet: »Männer sind nun mal so. Und Frauen auch.« Auf diese Weise bleibt aber sowohl die strukturelle Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt unsichtbar als auch die Heterogenität von Gewalterfahrungen und Geschlechterordnungen.

Es gibt genügend Gründe, um über den Zusammenhang von Gewalterfahrung und Geschlechterordnung differenziert nachzudenken. Nicht erst mit dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine im Februar 2022 ist der Krieg als ein Erfahrungsraum wieder näher an die mitteleuropäische Lebenswirklichkeit gerückt. Er zeigt eindrücklich, welche Relevanz die Kategorie Geschlecht im Krieg entfaltet, da etwa die ukrainische Wehrpflicht nur für Männer gilt, männliche Staatsbürger nicht ausreisen dürfen und deshalb die Mehrheit der Geflüchteten weiblich und die Lage von trans* Personen vor Ort prekär ist. Zugleich wird von russischer Seite sexualisierte Gewalt insbesondere gegen Frauen als Kriegswaffe eingesetzt und innerhalb Russlands wird die Existenzberechtigung der LSBTIQ*-Community im Namen der nationalen Einheit zunehmend in Frage gestellt. Dieser Krieg führt uns einmal mehr vor Augen, dass jedes friedliche Miteinander bedroht und gewalthaft unterbrochen werden kann.

Historisch gesehen ist die Gewalthaftigkeit des menschlichen Miteinanders, genauso wie die spezifische Gewalttätigkeit gegenüber Frauen und sexuellen Minderheiten, eine hartnäckige anthropologische Tradition. Und dennoch stellen Krieg und Gewaltausübung keine natürliche Zwangsläufigkeit dar wie ein Sonnenuntergang oder der Geschmack von Salz. Im Gegenteil: Wer Gewalt ausübt, hat sich dazu entschieden und bewegt sich meist in menschengemachten Strukturen, die das begünstigen. Wer wiederum Gewalt erleidet, hat das in der Regel nicht selbst gewählt. Und wie mit seinen oder ihren Gewalterfahrungen umgegangen wird, kann die Person nur bedingt beeinflussen, weil darüber die Machtverhältnisse entscheiden.

Gewalt umfasst jedoch mehr als nur jene, die ihre Verletzungsmacht gewalthaft anwenden und jene, die verletzungsoffen sind und Gewalt erleiden. Erstens sind Täter- wie Opfergruppen heterogen zusammengesetzt. Sicherlich zählt Gewalt gegen Frauen, zählen Femizide und systematische Vergewaltigungen zu den global häufigsten Phänomenen, aber auch Frauen üben Gewalt aus und sind Täterinnen. Gleichermaßen sind Männer wie Frauen auf der Flucht vor Gewalt oder erleben sexualisierte Gewalt, nicht selten, weil sie einem bestimmten Männlichkeitsideal nicht entsprechen. Simple Geschlechtszuweisungen von Tätern=Männer und Opfern=Frauen verschleiern zudem die Gewalterfahrung von Menschen, die sich dem bipolaren Geschlechtsschema entziehen, und verhindern auch den Blick auf all jene Personen, die das gewaltvolle Setting stützen, weil sie Beihilfe leisten, gaffen oder Hilfe verweigern. Gewalterfahrungen hängen eng zusammen mit Geschlecht. Aber sie können nicht mit einfachen bipolaren Geschlechtermustern erklärt werden.

Zweitens betrifft Gewalt nicht nur die akute Situation der Gewaltausübung. Nicht umsonst gibt es den Begriff der Nachkriegszeit oder -gesellschaft, der ausdrücken soll, dass gesellschaftliches Zusammenleben nach immenser Gewalterfahrung eine besondere Herausforderung darstellt. Wird der Leib nicht mehr malträtiert und lässt der körperliche Schmerz nach, bleibt die Gewalt ja präsent. Solche unmittelbaren Erfahrungen oder auch Primärerfahrungen hat der Historiker Reinhart Koselleck als »Lavamassen« bezeichnet, die sich glühend »in den Leib ergießen und dort gerinnen«. Intensive, individuelle Erfahrungen bleiben wie kalte Lava »unverrückbar […] abrufbar, jederzeit und unverändert« und prägen auf diese Weise das Leben.1 Gerade weil Gewalt so tief einschneidet in die eigene Unversehrtheit und Intimität, bleibt sie im Erfahrungshaushalt so gegenwärtig – selbst wenn sie um des Weiterlebens willen verdrängt wird. (Gewalt-)Erfahrungen lassen sich aber nicht einfach in Erinnerungen umwandeln, letztere dienen vielmehr dazu, der Erfahrung nachhaltig Raum zu geben. Umso mehr sollte für kriegsbedingte Gewalterfahrung gelten, was für jede Erfahrung gilt: »Sowohl für Einzelne wie auch für Gruppen ist es wichtig, die eigenen Erfahrungen selber interpretieren, in Worte fassen und mit Sinn versehen zu können. Wer sich von anderen sagen lassen muss, was seine Erfahrungen bedeuten oder wem gar verwehrt wird, eigene Erfahrungen auf die eine oder andere Art darzustellen und zu repräsentieren, hat demgegenüber eine schlechte Position.«2 Wer über die eigenen Erfahrungen nicht verfügen und sie in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit nicht repräsentieren kann, hat nicht nur eine schlechte Position, sondern besitzt keine Macht.

Deshalb ist drittens Gewalt mehr als nur körperliche Verletzung, denn die Bedingungen, unter denen sie möglich ist, gehören genauso zum Gewaltakt wie ihre Auswirkungen. Rassismus, Sexismus und Klassismus begünstigen Gewalt, denn die Abwertung und Diskriminierung bestimmter Menschengruppen senkt auch die Hemmschwelle ihnen gegenüber. Da diese Formen von Menschenfeindlichkeit in der Regel miteinander verschränkt sind, müssen wir fragen, was von diesen Bedingungen nach einem Gewaltkonflikt bleibt? Wie schlägt sich beispielsweise die rassistisch begründete Gewalt einer Diktaturzeit, sagen wir des Nationalsozialismus, nieder in den Strukturen, Diskursen und langfristigen Sichtbarkeitsverhältnissen der post-nationalsozialistischen Gesellschaft? Man mag sich über den Begriff der ›strukturellen Gewalt‹ streiten, aber strukturell bedingte Gewalterfahrungen gehören zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen. Wie sonst sollte man erfassen, wenn etwa in Reaktion auf fortgesetzte Diskriminierung unter anderem körperliche Beschwerden auftreten? Wessen Gewalterfahrungen werden schließlich gehört, wiedergegeben und anerkannt, ob nun vor Gericht oder in der öffentlichen Berichterstattung? Alles in allem unterscheidet sich Gewalt nicht nur auf der individuellen Erfahrungsebene, sondern auch nach ihrem Stellenwert im gesellschaftlichen Wahrnehmungsraster.

Um den Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung und Geschlechterordnung in meinem Essay zu diskutieren, gehe ich auf Militär und kriegerische Gewalt und ihre langfristige Bedeutung für Geschlechterordnungen ein. Unter Kriegsgewalt verstehe...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2023
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek – [Was bedeutet das alles?]
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Schlagworte Analyse • Bücher Philosophie • Denkanstöße • Erklärungen • Erläuterungen • Essay • Ethik • ethik texte • Ethik-Unterricht • gelb • gelbe bücher • Gender • Gender Studies • Geschlechterrollen • Geschlechterspezifische Gewalt • Geschlechterzuordnung • gestreiftes buch • Gewalt • Gewalterfahrung • Häusliche Gewalt • historischer Kontext • Interpretation • Klassenlektüre • Kritisches Denken • Lektüre • Literatur Klassiker • Nachkriegszeit • Philosophie • philosophie oberstufe • philosophie texte • Philosophie-Unterricht • philosophische Bücher • Psychische Gewalt • Reclam Hefte • reclam reihe was bedeutet das alles • Reclams Universal Bibliothek • Reclam Was Bedeutet Das Alles • Rolle von Geschlecht • Schullektüre • Sexualisierte Gewalt • soziales Geschlecht • Streifen • Überlegungen • Vorkriegszeit • Was bedeutet das alles • was bedeutet das alles reclam • wbda • Weltliteratur • Wirtschaftliche Gewalt
ISBN-10 3-15-962193-6 / 3159621936
ISBN-13 978-3-15-962193-7 / 9783159621937
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