Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht. [Was bedeutet das alles?] (eBook)
95 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961680-3 (ISBN)
Sascha Michel, geb. 1970, lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als Lektor für Literatur im S. Fischer Verlag. Seit 2015 unterrichtet er als Dozent bei dem Fortbildungsprogramm Buch- und Medienpraxis an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Neben zahlreichen Zeitungsartikeln, Nachworten und wissenschaftlichen Aufsätzen hat er mehrere Bücher veröffentlicht, darunter die 2006 erschienene Studie 'Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland - Jean Paul - Brentano)' sowie die Anthologien 'Texte zur Theorie der Literaturkritik' (2008) und 'Glück. Ein philosophischer Streifzug' (2010).
Sascha Michel, geb. 1970, lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als Lektor für Literatur im S. Fischer Verlag. Seit 2015 unterrichtet er als Dozent bei dem Fortbildungsprogramm Buch- und Medienpraxis an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Neben zahlreichen Zeitungsartikeln, Nachworten und wissenschaftlichen Aufsätzen hat er mehrere Bücher veröffentlicht, darunter die 2006 erschienene Studie "Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano)" sowie die Anthologien "Texte zur Theorie der Literaturkritik" (2008) und "Glück. Ein philosophischer Streifzug" (2010).
Vorbemerkung
1. Die Unruhe der Welt
2. Nachbarschaften
3. Apropos Adorno
4. Im Meer der Gegenwart
5. Zur Ethik des Lesens
Literaturhinweise, Zitatnachweise und Quellen
Zum Autor
2. Nachbarschaften
Lesen heißt auf eine Reise gehen.
Alberto Manguel
Wer liest, will weg. Will heraus aus den Büros mit den vertrockneten Zimmerpflanzen. In Maurice Sendaks (1928–2012) Kinderbuch Higgelti Piggelti Pop! oder Es muss im Leben mehr als alles geben ist es eine solche Zimmerpflanze, die nicht verstehen kann, warum der Hund Jennie seine Sachen packt und in die weite Welt ziehen will:
»Du hast alles«, sagte die Topfpflanze, die zum selben Fenster hinaussah.
Jennie knabberte an einem Blatt.
»Du hast zwei Fenster«, sagte die Pflanze. »Ich habe nur eines.«
Jennie seufzte und biss ein weiteres Blatt ab. Die Pflanze fuhr fort:
»Zwei Kissen, zwei Schüsseln, einen roten Wollpullover, Augentropfen, Ohrentropfen, zwei verschiedene Fläschchen mit Pillen und ein Thermometer. Vor allem aber liebt er dich.«
»Das ist wahr«, sagte Jennie und kaute noch mehr Blätter.
»Du hast alles«, wiederholte die Pflanze.
Jennie nickte nur, die Schnauze voller Blätter.
»Warum gehst du dann fort?«
»Weil ich unzufrieden bin«, sagte Jennie und biss den Stengel mit der Blüte ab. »Ich wünsche mir etwas, was ich nicht habe. Es muss im Leben noch mehr als alles geben!«
Die Pflanze sagte nichts mehr.
Es war ihr kein Blatt geblieben, mit dem sie etwas hätte sagen können.
Literatur, könnte man sagen, erweitert die alltägliche Liste mit den Kissen und Wollpullovern, weil so eine Liste niemals ›alles‹ enthalten kann, und sie lässt uns mit dem von zu Hause aufbrechenden Hund Jennie Erfahrungen machen, die man vom Kissen aus hinter dem verschlossenen Fenster nicht machen kann. Zwar besteht das Beunruhigende all der Geschichten, die vom Aufbrechen und Reisen erzählen, auch darin, dass eben nur unser imaginärer Stellvertreter im Text aufbricht, während wir beim Lesen weiterhin hinter dem Fenster auf unserem gemütlichen Kissen sitzen. Dafür aber kann man, wenn man durch die Fenster der Bücher schaut, unendlich viel mehr sehen als der Hund in Sendaks Erzählung durch seine beiden Fenster zu Hause.
Die Liste unseres Erfahrungsraums wird durch das Lesen immer länger und länger: Zu den Kissen, Wollpullovern und Thermometern gesellen sich riesige Pferde aus Holz, Drachen und fliegende Teppiche; Fährmänner tauchen auf, die uns mitnehmen in das Reich der Toten; der Tod selbst tritt auf in unterschiedlichster Gestalt, aber auch schöne, lebendige Frauen, wegen derer man Kriege führt, und Kriegerinnen, die ihre Geliebten zerreißen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und wer nicht nach Troja oder Bagdad, nach Mittelerde oder Westeros reisen will, der kann auch 20 000 Meilen unter den Meeren, mit einer Rakete zum Mond oder mit einer speziellen Maschine durch die Zeiten reisen.
Wie die Texte lustvoll fabulieren und voller Hingabe die komplexesten Welten entwerfen, so ist es auch für die Leser*innen eine große Lust, sich in diesen Welten zu bewegen und gemeinsam mit Odysseus, Harry Potter oder Arya Stark gefährliche Abenteuer zu bestehen. Auch das gehört zu jener Freiheitserfahrung, von der bereits die Rede war, und die Übergänge zwischen der Lust an genauer Beobachtung und hochkomplexem worldbuilding auf der einen Seite und der Lust am Beobachten der Beobachtung auf der anderen Seite, der Jean Paul’sche Blickwechsel also »von der Sache […] gegen ihr Zeichen hin«, sind oft fließender, als man denkt. Schon früh jedenfalls haben sich gerade die Abenteuer- und Reisegeschichten nicht mords-, sondern metamäßig über ihre eigenen Stürme und Gewitter, ihre Retardierungen und Rettungen lustig gemacht.
Zunächst einmal muss die Welt aber überhaupt errichtet werden. Und wie bei jedem gut gemachten Hollywoodfilm muss der Schnitt dabei, das eigene Tun, die Arbeit hinter den Kulissen, möglichst unsichtbar bleiben. Das Verfahren, mit dem das bewerkstelligt wird, nennt man in der Literatur seit dem 19. Jahrhundert »Realismus«. Gemeint ist damit nichts anderes als ein flüssiges, eingängiges Erzählen, bei dem sich, so Roland Barthes, »die Verbindung zweier wichtiger Wörter […] von selbst versteht«. Statt um Komplizierung der Form oder allzu schwieriges Klettern auf der paradigmatischen Achse der Ähnlichkeit geht es dabei um ein reflexhaftes, automatisches Springen im Kopf vom gelesenen Text zur erzählten Welt. »Die vermeintliche Wirklichkeitsnähe der Prosa ist ein Effekt ihrer […] eingängigeren Machart.« Wir nehmen beim Lesen nicht mehr wahr, dass es zwischen den Zeichen und ihren Bedeutungen einen arbiträren Spielraum gibt, dass wir trotz der Kürze der Verstehensreflexe immer noch einen Zeit-Raum zurücklegen. Mit Dirk Baecker gesprochen: Realistische Texte verheimlichen ihre eigene Kontingenz, ihre Zeichen scheinen identisch mit ihren Referenzen zu sein. Dieser Schein entsteht dadurch, so der Sprach- und Literaturwissenschaftler Roman Jakobson (1896–1982), dass die Zeichen metonymisch verknüpft sind:
Den Prinzipien der Kontiguitätsrelation folgend, geht der realistische Autor nach den Regeln der Metonymie von der Handlung zum Hintergrund und von der Person zur räumlichen und zeitlichen Darstellung über. Er setzt gerne Teile fürs Ganze.
Das klingt kompliziert, meint aber etwas sehr Einfaches: Im Unterschied zur Metapher nämlich springt die Metonymie nicht paradigmatisch in ein anderes Register, also wie bei »Achill ist ein Löwe« in das Register der Raubkatzen, sondern sie gleitet syntagmatisch zu benachbarten Wörtern, mit denen sie durch räumliche oder zeitliche Nähe verbunden ist. Bei der Frage: »Trinken wir noch ein Glas?« (was ja eigentlich nicht geht) steht das Gefäß in räumlicher Nähe zum Inhalt, deshalb muss ich nicht korrekt fragen: »Trinken wir noch Wein?« Entscheidend ist aber, dass sich das metonymische Gleiten nicht nur hinter einzelnen Formulierungen wie »ein Glas trinken« verbirgt, sondern in realistischer Prosa die gesamte Bewegung der Sätze bestimmt. Nachbarschaft bedeutet dann schlicht die Erwartung bestimmter Zeichen durch die Anwesenheit anderer Zeichen. Der Frage »Trinken wir noch ein Glas?« könnten in einem realistisch erzählten Text zum Beispiel folgende, durch Kontiguität verbundene Sätze vorangegangen sein:
Der Kellner hatte bereits die Teller abgeräumt. Das Salbeihühnchen mit Zuckerschoten und Kartoffelgratin war wieder so lecker gewesen. Die Kartoffeln hauchdünn geschnitten, die Zuckerschoten bissfest, wie er es liebte. Aber warum hatte sie nichts gesagt? Gefiel es ihr hier nicht? Es kam ihm wie ein Wunder vor, dass sie mit ihm in sein Lieblingsrestaurant gekommen war. Aber wie ging es jetzt weiter? Da schaute sie ihn plötzlich an und fragte: »Trinken wir noch ein Glas?«
Flüssiges, automatisiertes Lesen verdankt sich den Regeln der Metonymie. Bei der einzelnen Metonymie »ein Glas trinken« ist es die Kontiguität zwischen Gefäß und Inhalt; bei Adjektiven und Adverbien wie »hauchdünn geschnitten« und »bissfest« ist es die Kontiguität zwischen dem Gemüse und seiner Verarbeitung und Konsistenz; bei der gesamten Restaurant- und Datingszene ist es die Kontiguität zwischen meinen Vorstellungen beim Lesen und bestimmten kulturellen Codes, die ich abrufe: Man kennt unzählige Restaurantszenen aus amerikanischen Liebesfilmen, ähnliche erlebte Reden von verunsicherten männlichen Subjekten aus diversen Romanen und natürlich die üblichen Abläufe und Requisiten beim Essen im Restaurant aus der eigenen Alltagserfahrung, so dass man beim Lesen selbst qua Kontiguität zum Nachbarn des Erzählten wird.
Vorausgesetzt aber, dass das so ist, dass es bei realistisch erzählten Texten um Automatismen und Nachbarschaftsbeziehungen geht, darum, dass ich mich innerhalb ganz bestimmter Frames und vorgegebener Skripte bewege: Komme ich dann wirklich weg beim Lesen, wie eingangs behauptet?
Die literarische Moderne, die an radikal neuen, nicht vorcodierten Zeichen und Syntagmen interessiert war, hat am Realismus genau diese bequeme Vorliebe für das metonymisch Naheliegende kritisiert. André Breton (1896–1966) etwa schreibt 1924 in seinem Ersten Manifest des Surrealismus:
Dagegen scheint mir die realistische Haltung […] als jedem intellektuellen und moralischen Aufschwung absolut feindlich. Sie ist mir ein Greuel, denn sie ist aus Mittelmäßigkeit gemacht, aus Haß und platter Selbstgefälligkeit. […]
Und die Beschreibungen erst! Nichts kann nichtssagender sein als sie; übereinandergeschichtete Katalogbilder sind das, der Verfasser macht es sich immer leichter, er ergreift die Gelegenheit, mir seine Ansichtskarten zuzuschieben, versucht mein Einverständnis zu gewinnen mit seinen Gemeinplätzen […].
Dem Realismus wohnt also durch die ihm zugrundeliegenden Nachbarschaftsbeziehungen eine Tendenz zu Stereotypen inne. »Das Stereotype«, schreibt Roland Barthes in Die Lust am Text,
ist das Wort, das wiederholt wird ohne jede Magie, ohne jede Begeisterung, als wenn es natürlich wäre, als wenn, wie durch ein Wunder, dieses wiederkehrende Wort jedesmal aus anderen Gründen angemessen wäre, als wenn das Imitieren nicht mehr als Imitation empfunden werden könnte: ein zwangloses Wort, das auf Konsistenz Anspruch erhebt und seine eigene Insistenz nicht kennt.
Hinter diesem scheinbar Natürlichen, Naheliegenden und Selbstverständlichen verbirgt sich für kritische Leser wie Breton oder Barthes nichts anderes als Zwang und Gewalt. Das metonymische Gleiten ist, wenn man genauer hinschaut, ein mechanisches Abklappern von Gemeinplätzen, bei dem nichts...
Erscheint lt. Verlag | 11.3.2020 |
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Reihe/Serie | Reclams Universal-Bibliothek |
Reclams Universal-Bibliothek | Reclams Universal-Bibliothek – [Was bedeutet das alles?] |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Germanistik |
Schlagworte | Analyse • Bücher Philosophie • Buchhandel • Buchmarkt • Denkanstöße • Erklärungen • Erläuterungen • Essay • Ethik • ethik texte • Ethik-Unterricht • gelb • gelbe bücher • gestreiftes buch • historischer Kontext • Interpretation • Klassenlektüre • Kritisches Denken • Kulturtechnik • Lektüre • Leseförderung • Lesekompetenz • Literatur Klassiker • Philosophie • philosophie oberstufe • philosophie texte • Philosophie-Unterricht • philosophische Bücher • Reclam Hefte • reclam reihe was bedeutet das alles • Reclams Universal Bibliothek • Reclam Was Bedeutet Das Alles • Schullektüre • Sprachförderung • Streifen • Überlegungen • Was bedeutet das alles • was bedeutet das alles reclam • wbda • Weltliteratur • Wert des Lesens • Wert von Büchern |
ISBN-10 | 3-15-961680-0 / 3159616800 |
ISBN-13 | 978-3-15-961680-3 / 9783159616803 |
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