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Das versteinerte Herz -  Abdulrazak Gurnah

Das versteinerte Herz (eBook)

Roman. Nobelpreis für Literatur 2021
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31542-9 (ISBN)
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Erstmals auf Deutsch: Gurnahs bewegender Coming-of-age-Roman über Verrat, Migration und die Suche nach dem Platz im Leben
Salim ist sieben und ein kleiner Träumer. Sein Leben ruht auf einigen scheinbar unerschütterlichen Säulen: der täglichen Routine von Schule und Koranunterricht, den geliebten Büchern und seinem angebeteten Onkel, der sich ihm - anders als sein Vater - nicht ständig entzieht. Aber es sind die 1970er-Jahre und folglich keine guten Zeiten für Träumer, denn der Geist des Wandels fegt über Sansibar. Plötzlich ist Salims Vater verschwunden und eine Revolution, Gewalt und Korruption erschüttern die Insel. Erst im Rückblick, als Teenager und Student, der sich seinen Weg durch die fremde und abweisende Stadt London bahnt, beginnt Salim zu begreifen, welche Schatten seine Familie in der Zeit des Umbruchs beherrschten. Salim sucht nach Antworten auf das, was damals geschah, und muss sich der Wahrheit über jene Menschen stellen, die ihm am nächsten standen.

So kraftvoll wie berührend schreibt Abdulrazak Gurnah über den Einfluss der Geschichte auf unser Leben und erschafft dabei Charaktere, die man so schnell nicht vergisst.

»Die Eleganz und Souveränität, mit der Gurnah schreibt, sein Verständnis dafür, wie leise, langsam und wiederholt ein Herz brechen kann, machen diesen Roman zu einer tiefen Quelle der Freude.« Guardian

Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter »Paradise« (1994; dt. »Das verlorene Paradies«; nominiert für den Booker Prize), »By the Sea« (2001; »Ferne Gestade«; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), »Desertion« (2006; dt. »Die Abtrünnigen«; nominiert für den Commonwealth Writers' Prize) und »Afterlives« (2020; dt. »Nachleben«; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. Er lebt in Canterbury. Seine Werke erscheinen auf Deutsch im Penguin Verlag.

2 NACH BABAS VERSCHWINDEN


Saida und Masud, so hießen sie, meine Mutter und mein Vater. Sie hatten sich bei einer Veranstaltung des Jugendbunds der Partei kennengelernt, als sie beide noch zur Schule gingen. An diese Information kam ich nur, weil ich meine trotzig schweigende Mutter mit Fragen bedrängt und sie am Ende sogar angefleht hatte. »Es ist nur eine simple Frage, Mama«, bettelte ich. Sie weigerte sich, es mir zu erzählen, wie sie sich generell weigerte, über meinen Vater und ihre gemeinsame Vergangenheit zu sprechen. Am Ende erklärte sie, es sei bei einer Veranstaltung des Jugendbunds passiert. »Damals haben sie uns ständig bedrängt. Wir mussten auf Baustellen aushelfen, jeden Morgen ein Loblied auf den Präsidenten singen und zu den Demonstrationen gehen. Es war reine Nötigung.« Mehr wollte sie über Baba und sich nicht sagen, und so ging das jahrelang. Wenn ich konkrete, sachbezogene Fragen stellte, bekam ich manchmal eine Antwort, aber zu den Einzelheiten ihrer Beziehung äußerte sie sich nie.

Ich weiß, dass er bei der Heirat einundzwanzig war und sie zwanzig, was damals durchaus nicht als zu jung galt. Zwei Jahre später und wenige Tage nach Bibis Tod kam ich auf die Welt, und irgendwann danach zog Onkel Amir bei uns ein. Ich stand auf derselben Bühne wie die Hauptdarsteller meiner frühen Kindheit, aber was die Ereignisse, die auch mich prägten, wirklich bedeuteten, erfuhr ich erst eine ganze Weile später. Onkel Amir war in unserem kleinen Königreich der Prinz, und ich himmelte ihn an. Er brachte mich zum Lachen, machte mir kleine Geschenke und ließ mich an seinem Transistorradio herumspielen. Wenn etwas auf meinem Teller lag, das ich nicht hinunterbekam, fettiges Fleisch, ein Stück Niere oder ein Joghurtklumpen, ließ er es schnell verschwinden, ohne dass meine Mutter es bemerkte. Ich liebte ihn abgöttisch, weil meine Eltern ihn abgöttisch liebten; warum sie das taten, fragte ich mich allerdings nie.

Mein Vater war damals nicht derselbe Mann, den ich später kennenlernen sollte. Ich war noch zu jung, um Erinnerungen zu sammeln, die dauerhaft waren und sich zu einer schlüssigen Erzählung zusammenfügen ließen. Ich erinnere mich nur an seine sanfte Art, sein schallendes Lachen und viele andere, kleine, aber sehr genaue Details. Wie ich auf seinem Schoß sitze, eine Umarmung, eine Geschichte, sein aufmerksamer Blick beim Zuhören. Ich weiß nicht mehr, wer mich, als ich fünf Jahre alt war, zum ersten Mal in die Koranschule brachte – vermutlich er, hatte er doch darauf bestanden, mich möglichst früh anzumelden –, aber ich weiß noch genau, dass in der ersten Stunde das Alphabet unterrichtet wurde. Meine Mutter hatte es mir längst beigebracht: Alif, ba, ta, tha. Ich habe die Szene vor Augen, als säße ich wieder dort. In die Grundschule wurde ich ganz sicher von meinem Vater begleitet. Ich war schon fast sieben, und die erste Aufgabe bestand darin, das Alphabet zu lesen, allerdings rückwärts, angefangen beim Z, nur für den Fall, dass wir Kolonisierten herumgetrickst und uns lediglich die Abfolge eingeprägt hatten. Aber weil meine Mutter mir das römische Alphabet ebenfalls beigebracht hatte, war mein erster Tag in der Grundschule ein glücklicher.

In dem Jahr, als ich auf die Grundschule kam und dort vom ersten Tag an glücklich war, trat meine Mutter ihre Stelle in einem Verwaltungsbüro an, und Amir fand Arbeit in einem Touristenhotel. Einer seiner Freunde hatte in Shangani das Coral Reef Inn eröffnet und meinen Onkel als Manager für Freizeitaktivitäten angestellt. Damals erlebten wir eine nie da gewesene touristische Invasion. Es dauerte eine Weile, bis alles sich eingespielt hatte, aber in dem Jahr ging es los. Die Regierung hatte die Devisenbestimmungen gelockert, und plötzlich reisten Leute aus reichen Ländern an und wollten unsere heruntergekommene kleine Insel sehen. Es war das Jahr, in dem ich sieben wurde und mein Vater uns verließ.

Zunächst bemerkte ich es gar nicht. Mein siebenjähriger Verstand war voll und ganz mit meinem turbulenten Alltag beschäftigt, und so begriff ich erst nach einer ganzen Weile, dass eine große Veränderung stattgefunden hatte. Ich schlief im Zimmer meiner Eltern und konnte natürlich sehen, dass mein Vater nicht mehr da war, aber als ich nach ihm fragte, erklärte meine Mutter, er sei bloß für ein paar Tage verreist. Es war die erste von vielen großen Lügen, die meine Mutter mir im Laufe der Jahre auftischen würde, aber ich war erst sieben und hatte keinen Grund, ihr zu misstrauen. Wahrscheinlich hielt ich es für das übliche Kommen und Gehen der Erwachsenen, deren Angelegenheiten ich ohnehin nicht durchschaute. Damals wusste ich noch nicht, wie glatt und hinterlistig Geheimnisse sind, oder dass sie manchmal nur dazu dienen, Angst und Hilflosigkeit zu verschleiern. Onkel Amir war ebenfalls für ein paar Tage verreist gewesen und kurz vor dem Verschwinden meines Vaters wieder nach Hause gekommen.

Die Lage war unübersichtlich. Ich verstand nicht, was die Abwesenheit meines Vaters bedeutete, aber irgendwann wurde mir natürlich klar, dass er nicht mehr bei uns wohnte. Die Erkenntnis erschreckte mich auf einer körperlichen Ebene. Mein Herz schlug schneller, als hätte ich weit von meinem Zuhause in einer fremden Menschenmenge seine Hand verloren oder als wäre ich über die Kaimauer ins schwarzgrüne Wasser gefallen, und nun konnte mein Vater meine Schreie nicht mehr hören. Ich stellte mir vor, wie unglücklich er war, mich verloren zu haben. Meine Ängste in dem Alter waren sehr konkret, und immer suchten mich dieselben Bilder der Verlassenheit heim: Ich ging in einer Menschenmenge verloren oder versank lautlos im schwarzgrünen Hafenbecken.

Als ich in den folgenden Tagen nach meinem Baba fragte, behauptete meine Mutter wieder und wieder, er sei bloß für ein paar Tage verreist. Als die paar Tage vorüber waren, sagte sie, mein Vater wolle uns nicht mehr sehen. Ihr Tonfall stellte klar, dass sie nicht weiter darüber reden wollte. Ihre Stimme klang nicht laut, sondern schneidend und zugleich resigniert, und ihre Augen leuchteten, als könnte sie jeden Moment einen Wutanfall bekommen oder in Tränen ausbrechen. Ich zögerte natürlich, weiter nachzuhaken, doch ich tat es trotzdem, wieder und wieder. Der Wutanfall blieb aus. Überhaupt wurde sie nur selten wütend, und wenn, fand ich es furchtbar, denn dann sagte sie hässliche Dinge. Als ich sie fragte, ob ich Baba besuchen dürfe, lehnte sie ab. »Er will uns nicht mehr sehen. Irgendwann später vielleicht.« Wenn ich sie fragte, warum Baba uns nicht mehr sehen wolle, schnappte sie nach Luft wie nach einem Schlag, oder sie ballte die Hände zu Fäusten, kehrte mir den Rücken zu und weigerte sich, mich anzusehen. Ich weiß nicht mehr, wie lange das so ging, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Ungefähr zur selben Zeit verfiel meine Mutter in eine tiefe Traurigkeit.

Später erfuhr ich, dass mein Vater ein Zimmer im hinteren Teil eines Ladens in Mwembeladu gemietet hatte. Der Inhaber hieß Khamis und war ein entfernter Verwandter väterlicherseits. Meine Mutter brachte Baba täglich einen Korb mit Essen vorbei, jahrelang. Jeden Tag kam sie vom Ministerium für parlamentarische Angelegenheiten nach Hause, kochte das Mittagessen und lief dann durch die sengende Nachmittagssonne nach Mwembeladu, um Baba seine Portion zu bringen. Anfangs versuchte Onkel Amir noch, es ihr auszureden, aber sie ließ sich nicht beirren und antwortete nicht einmal. Hin und wieder warf sie ihrem Bruder gequälte, verächtliche Blicke zu, und einmal sagte sie ihm wütend, er solle sie in Ruhe lassen, woraufhin es – nicht zum letzten Mal – zu einem heftigen Streit kam. Irgendwann wurde es dann meine Aufgabe, den Korb jeden Nachmittag in das Zimmer im hinteren Teil des Ladens zu bringen, aber das war Jahre später, als mein Vater sich schon nicht mehr für mich interessierte. Anscheinend hatte er, als er die Liebe meiner Mutter verlor, auch seinen Lebenswillen verloren.

Mein Vater arbeitete auch nicht mehr bei der Wasserbehörde in Gulioni. Er war entlassen worden und kein Beamter der öffentlichen Verwaltung mehr. Er lebte von seinem Anteil am Marktstand, wo er jeden Tag mehrere Stunden aushalf. Morgens ging er auf den Markt und kurz nach Mittag wieder nach Hause. Seine Haare und sein Bart wurden immer länger, und bald zeigte sich darin das erste Grau, das sein Gesicht hinter der verfilzten Matte umso dunkler leuchten ließ. Er war erst um die dreißig, aber wegen der deutlichen Altersspuren in seinem jungen Gesicht wurde er von den Leuten angestarrt. Einige fragten sich vielleicht, welcher Kummer ihn so quälte, andere wussten Bescheid. Er sprach nur ungern und durchquerte die Menge mit gesenktem Kopf und leerem Blick, wie um nichts wahrnehmen zu müssen. Weil ich schon als Siebenjähriger eine Vorstellung von Scham hatte, schämte ich mich für seine erbärmliche Erscheinung und seine Lethargie. Ich konnte die fremden Blicke kaum ertragen und wünschte mir, mein Vater würde spurlos und für immer verschwinden. Selbst später redete er kaum mit mir, wenn ich ihm den Essenskorb brachte, er fragte mich auch nie, was ich so trieb oder wie es mir ging. Manchmal wirkte er krank. Onkel Amir sagte, er tue sich das alles selbst an, es gebe für sein Verhalten absolut keinen Grund.

Kurz nach Babas Umzug wechselte Onkel Amir die Stelle und ging vom Coral Reef Inn ins Außenministerium. Genau das hatte er sich immer gewünscht. Vor seiner Zeit im Hotel hatte er jahrelang in einem Reisebüro gearbeitet, und dieser Job hatte sein Fernweh geweckt und ihn, wie er sagte, auf die große weite Welt vorbereitet. Er wollte reisen, andere Länder sehen, Erfahrungen sammeln und zum Fortschritt seines Volkes beitragen. Das war sein Traum. Onkel Amir...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Übersetzer Eva Bonné
Sprache deutsch
Original-Titel Gravel Heart
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Afrika • Bestsellerautor • Coming-of-age • Das verlorene Paradies • Dunkle Schatten der Vergangenheit • eBooks • Familiensaga • Gesellschaftliche Zwänge • Identität • Islam • Kolonialismus • Literaturnobelpreis • London • Migration • Neuerscheinung • Nobelpreis für Literatur • Rassismus • Sansibar • Vergangenheitsbewältigung
ISBN-10 3-641-31542-5 / 3641315425
ISBN-13 978-3-641-31542-9 / 9783641315429
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