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Globalisten (eBook)

Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
523 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76303-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Globalisten -  Quinn Slobodian
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In seinem fesselnden Buch, das international für Furore gesorgt hat, wirft Quinn Slobodian einen neuen Blick auf die Geschichte von Freihandel und neoliberaler Globalisierung. Im Mittelpunkt steht dabei eine Gruppe von Ökonomen um Friedrich von Hayek und Wilhelm Röpke, die aus einer Außenseiterposition heraus die Deutungshoheit eroberten. Getrieben von der Angst, nationale Massendemokratien könnten durch Zölle oder Kapitalverkehrskontrollen das reibungslose Funktionieren der Weltwirtschaft stören, bestand ihre Vision darin, den Markt auf der globalen Ebene zu verrechtlichen und so zu schützen.



<p>Quinn Slobodian, geboren 1978 im kanadischen Edmonton, ist Associate Professor am Department of History des Wellesley College. Seine Spezialgebiete sind deutsche Geschichte, soziale Bewegungen und das Verhältnis zwischenden Industrieländern und dem globalen Süden.</p>

7Einleitung: Denken in Weltordnungen


Eine Nation kann ihre barbarischen Invasoren selbst hervorbringen.

Wilhelm Röpke, 1942

Am Ende des 20. Jahrhunderts war die Überzeugung verbreitet, die Ideologie des freien Marktes habe die Welt endgültig erobert. Die Staaten konnten die Kräfte der Weltwirtschaft kaum beeinflussen. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos, einer ikonischen Veranstaltung jener Zeit, erklärte US-Präsident Bill Clinton im Jahr 1995, dass die »rund um die Uhr geöffneten Märkte mit atemberaubender und manchmal erbarmungsloser Geschwindigkeit reagieren können«.1 Im Jahr 2002 sprach Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung die »Stürme der Globalisierung« an, als er eine große Reform des Sozialsystems im wiedervereinigten Deutschland ankündigte. Das Land müsse seine soziale Marktwirtschaft modernisieren, erklärte er, »oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden«.2 Die Politik konnte nur noch reagieren, die Aktion war der globalen Wirtschaft vorbehalten. Alan Greenspan, der Vorsitzende der amerikanischen Federal Reserve, sagte es im Jahr 2007 ganz unverblümt: Es spiele »kaum eine Rolle, wer der nächste Präsident wird. Die Welt wird durch die Marktkräfte regiert«.3 In den Augen der Kritiker wirkte die8se Welt wie ein neues Kolonialreich, in dem »die Globalisierung den Kolonialismus ersetzt«.4 In den Augen der Befürworter war es eine Welt, in der sich Güter und Kapital, wenn auch nicht die Menschen, gemäß der Logik von Angebot und Nachfrage ungehindert bewegen konnten, wodurch Wohlstand – oder zumindest Chancen – für alle entstanden.5 Diese Philosophie einer Herrschaft der Marktkräfte wurde von Kritikern als »Neoliberalismus« bezeichnet. Die Neoliberalen, erklärte man uns, glaubten an den globalen Laissez-faire-Kapitalismus mit sich selbst regulierenden Märkten, schlanken Staatsbürokratien und einer Reduktion der menschlichen Motivation auf das eindimensionale rationale Eigeninteresse des Homo oeconomicus. Die neoliberalen Globalisten, hieß es, verschmölzen den Kapitalismus des freien Marktes mit der Demokratie und träumten von einem einzigen, grenzenlosen Weltmarkt.

In meiner Version der Geschichte versuche ich, dieses Bild zu korrigieren. Ich werde zeigen, dass jene Gruppe von Intellektuellen, die sich selbst als Neoliberale bezeichneten, keineswegs an sich selbst regulierende Märkte als eigenständige Gebilde glaubte. Sie setzte den Kapitalismus nicht mit Demokratie gleich. Sie glaubte nicht, dass die Menschen nur von der wirtschaftlichen Vernunft motiviert werden. Sie wollte weder den Staat noch die Grenzen beseitigen. Und sie betrachtete die Welt keineswegs nur mit den Augen des Individuums. Tatsächlich ist die grundlegende neoliberale Erkenntnis mit der von John Maynard Keynes und Karl Polanyi vergleichbar: Der Markt reguliert sich nicht selbst und kann sich nicht selbst regulieren. Im Kern des neoliberalen Denkens im 20. Jahrhundert finden wir das, was die Neoliberalen als metaökonomische oder extraökonomische Bedingungen für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus im globalen Maßstab bezeichneten. Ich werde zeigen, dass im Mittelpunkt des neoliberalen Projekts die Gestaltung von Institutionen stand – und dass das Ziel nicht darin bestand, die Märkte zu befreien, sondern sie zu ummanteln, um 9den Kapitalismus gegen die von der Demokratie ausgehende Bedrohung zu isolieren und einen Ordnungsrahmen zu schaffen, der es ermöglichen würde, das oft irrationale menschliche Verhalten unter Kontrolle zu bringen. Die Neoliberalen wollten die Welt nach dem Ende der Kolonialreiche neu ordnen und in einen Raum mit konkurrierenden Staaten verwandeln, deren Grenzen eine unverzichtbare Funktion erfüllten.

Wie können wir den Neoliberalismus verstehen – und sollten wir diese Bezeichnung überhaupt verwenden? Viele vertreten seit Langem die Ansicht, dass der Begriff mehr oder weniger sinnlos ist. Kürzlich erklärte ein Autor, für praktische Zwecke gebe es so etwas wie eine neoliberale Theorie überhaupt nicht.6 Hingegen bezeichnete der Internationale Währungsfonds (IWF) den Neoliberalismus im Jahr 2016 nicht nur als kohärente Doktrin, sondern stellte auch die Frage, ob die Erfolge der Politik von Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung womöglich übertrieben positiv dargestellt worden seien.7 In der Zeitschrift Fortune hieß es: »Mittlerweile gibt sogar der IWF zu, dass der Neoliberalismus gescheitert ist.«8 Doch die Darstellung der Zeitschrift, dabei handle es sich um eine neue Entwicklung, war nicht ganz korrekt. Die mit dem Neoliberalismus verbundene Politik wurde – zumindest theoretisch – bereits seit zwei Jahrzehnten infrage gestellt. Zu den frühen Zweiflern zählte Joseph Stiglitz.9 Der Wirtschaftsnobelpreisträger, der von 1997 bis 2000 als Chefvolkswirt der Weltbank amtierte, verwandelte sich nach der asiatischen Finanzkrise von 1997 in einen lautstarken Kritiker der neoliberalen Globalisierung. Ende der neunziger Jahre erklärten weitere Skeptiker, der nicht regulierte freie Weltmarkt sei »das letzte Utopia«, und die internationalen Finanzinstitutionen stimmten diesem Urteil teilweise zu.10 Sie gaben ihren doktrinären Widerstand gegen Kapitalverkehrskontrollen auf, die das Thema des Fortune-Artikels von 2016 waren. Die Welthandelsorganisation (WTO) versuchte ebenfalls, sich dem Zeitgeist anzupassen: Nachdem ihr Gipfel im Jahr 1999 durch Protestkund10gebungen verhindert worden war, machte sie sich daran, die menschliche Seite der Globalisierung zu betonen.

Aber auch wenn die als neoliberal bezeichnete Politik seit Langem kritisiert wurde, war der IWF-Bericht bedeutsam, weil er das Etikett »Neoliberalismus« sanktionierte. Damit hielt der Begriff Einzug in die Diskussion der breiten Öffentlichkeit und tauchte in der Financial Times, dem Guardian und anderen Zeitungen auf.11 Ebenfalls im Jahr 2016 bekannte sich das 1977 gegründete Adam Smith Institute, an dessen Analysen sich seinerzeit Margaret Thatcher orientiert hatte, öffentlich zum Neoliberalismus und distanzierte sich von seiner früheren Einstufung als »libertäre« Einrichtung.12 Das Institut nahm für sich eine »globalistische Ausrichtung« in Anspruch. Im Jahr 2017 verteidigte der Leiter des deutschen Walter Eucken Instituts öffentlich die Ehre des »klassischen Neoliberalismus«, der »einen starken Staat« fordere, der »über den Partikularinteressen steht«.13 Anscheinend konnte »die Bewegung, die ihren Namen nicht zu sagen wagte«, nun sowohl von Kritikern als auch von Anhängern beim Namen genannt werden.14 Die Klärung ist zu begrüßen. Die Benennung des Neoliberalismus hilft uns, ihn als ein geschlossenes Gedankengebäude und als eine Theorie der Governance unter mehreren zu betrachten, das heißt als eine Form oder Variante der Regulierung anstatt als radikale Verneinung der Regulierung.

Im vergangenen Jahrzehnt sind große Anstrengungen unternommen worden, um den Neoliberalismus und seine Empfehlungen zur globalen Governance zu historisieren und das »politische Schimpfwort« beziehungsweise den »antiliberalen Slogan« in einen Gegenstand der rigorosen Archivforschung zu verwandeln.15 Meine Darstellung stellt eine Verbindung zwischen zwei Forschungsrichtungen her, zwischen denen sonderbarerweise ein Graben klafft. Da sind auf der einen Seite die Untersuchungen zur Ideengeschichte der neoliberalen Bewegung;16 auf der anderen Seite widmen sich Sozialwissenschaftler, nicht jedoch Historiker, dem Studium der 11neoliberalen globalistischen Theorie. Sie haben gezeigt, dass der Begriff des »Neoliberalismus« erstmals im Jahr 1938 im Walter Lippmann Colloquium in Paris auftauchte, wo er den Wunsch der versammelten Ökonomen, Soziologen, Journalisten und Wirtschaftsführer nach einer »Erneuerung« des Liberalismus ausdrückte.17 Wie ein Autor erklärt, besteht eine der solidesten Methoden zum Studium der neoliberalen Bewegung darin, »eine organisierte Gruppe von Personen« zu betrachten, die »den Gedankenaustausch in einem gemeinsamen intellektuellen Rahmen pflegt«.18 Die Historiker haben sich insbesondere auf die 1947 von Friedrich August von Hayek und anderen...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2019
Übersetzer Stephan Gebauer
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Wirtschaft
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ISBN-10 3-518-76303-2 / 3518763032
ISBN-13 978-3-518-76303-2 / 9783518763032
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