Das Paradox des langen Lebens (eBook)
416 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86604-2 (ISBN)
Steven R. Gundry zählt zu den gefragtesten Kardiologen der USA. Er ist Direktor des Internationalen Instituts für Herz- und Lungenerkrankungen und Mitbegründer der Internationalen Gesellschaft für minimale operative Herzeingriffe. Seit über 15 Jahren setzt er erfolgreich lektinreduzierte Ernährung der Behandlung seiner Patienten ein. Steven R. Gundry lebt mit seiner Frau in Palm Springs.
Einführung
Während ich das Manuskript zu diesem Buch schrieb, verstarb Edith Morrey nur zwei Wochen vor ihrem 106. Geburtstag. Die Leserinnen und Leser meiner früheren Bücher kennen sie unter dem geänderten Namen Michelle. Sie ist friedlich eingeschlafen. Ich hatte Edith kurz nach dem Umzug meiner Praxis von der Loma-Linda-Universität in Loma Linda in Kalifornien nach Palm Springs, ebenfalls in Südkalifornien, kennengelernt. Dort tauchte sie eines Tages in meiner Sprechstunde auf. Vor mir stand eine große, schlanke Frau in bemerkenswert aufrechter Haltung, die eine ebenso bemerkenswerte Schönheit ausstrahlte. Sie war perfekt frisiert und tadellos gekleidet. Ich schätzte sie auf 65. Doch nach einem kurzen Blick auf ihre Patientenkartei fingen meine Hände beinahe an zu zittern vor Aufregung. Von 65 oder 75 konnte gar keine Rede sein, nicht einmal von 85. Edith war bereits über 90! Diese Frau in hohen Stöckelschuhen wirkte, der Altersangabe auf ihrer Patientenkartei zum Trotz, ausgesprochen jung und lebhaft.
Dabei kam ich bereits aus einer Umgebung, wo ich an den Umgang mit putzmunteren Hundertjährigen durchaus gewöhnt war. Loma Linda gehört zu den weltweit bekanntesten Gebieten, die als Blue Zones bezeichnet werden. In diesen Gebieten leben überdurchschnittlich viele sehr alte Menschen. Dennoch war ich nicht darauf gefasst, dass mir solch eine perfekte Verkörperung all dessen begegnete, was mir als Idealbild vorschwebte, seit ich mich in meiner ärztlichen Tätigkeit ganz auf regenerative Medizin verlegt hatte: ein Mensch, der körperlich tatsächlich noch ganz jung ist, obwohl er nach Jahren schon ein hohes Alter erreicht hat.
Bei unserem ersten Gespräch erzählte mir Michelle, sie habe kurz zuvor an einer Informationsveranstaltung teilgenommen, bei der ich einen kleinen Vortrag gehalten hatte. Was ich dabei äußerte, habe sie sehr an Gayelord Hauser erinnert, den sie als Zwanzigjährige ebenfalls einmal bei einer Veranstaltung erlebt hatte. Seit damals hatte sie seine Ernährungs- und Lebensführungsratschläge strikt befolgt, hatte sämtliche seiner Bücher gelesen und zwei Ehemänner überlebt (einer war Arzt und hatte sie immer wieder gewarnt, wie verrückt ihre Ernährungsweise sei). Vor mir stand nun eine Neunzigjährige, die fit wie ein Turnschuh war.
Ich konnte es beinahe nicht fassen, was für ein Glück ich hatte, so eine Frau kennenzulernen. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf und stellte ihr viele Fragen, denn ich wollte möglichst genau erfahren, was sie von Hauser alles gelernt und wie sie es geschafft hatte, auch im hohen Alter noch so gesund und vital zu sein. Obwohl ich seitdem – und bis zu ihrem Tod – sozusagen ihr Hausarzt war, habe ich von ihr bestimmt mehr gelernt und erfahren als sie von mir. Sie war für mich der lebendige Beweis, dass das Paradox des langen Lebens, mit dem ich mich schon seit Längerem beschäftigte, tatsächlich Realität werden kann und dass jeder die Möglichkeit dazu hat, bis ins hohe Alter innerlich jung und körperlich fit zu bleiben.
Nach allem, was ich von ihr (und durch ihre Vermittlung von Hauser) erfahren und gelernt hatte, vertiefte ich mich in einschlägige Forschungsarbeiten und stieß dabei auf ein weiteres Paradox im Zusammenhang mit dem Altern: dass nämlich sehr alte, nichthumane Gene das Potenzial haben, für uns wie ein Jungbrunnen zu wirken. Wie kann das sein?
In meinem Buch Böses Gemüse haben wir uns an einer Stelle an die Frühzeit des Lebens auf der Erde vor ungefähr 450 Millionen Jahren erinnert, als Pflanzen über den Zeitraum von etwa 90 Millionen Jahren die einzigen Lebensformen auf unserem Planeten waren. Sie blühten und gediehen ungehindert, bis die Insekten auftraten und sie zu fressen begannen. Das wollten sich die Pflanzen aber nicht gefallen lassen; sie wollten sich keinesfalls kampflos ergeben. Pflanzen sind unter anderem deswegen so bemerkenswerte Lebewesen, weil sie in der Lage sind, Sonnenlicht durch Photosynthese in chemisch gebundene Energie zu verwandeln – was Tiere und Menschen überhaupt nicht können. Da sie sich von Abermillionen kleiner Raubtiere nicht einfach auffressen lassen, sondern weiter blühen und gedeihen wollten, vor dem Insektenansturm aber auch nicht weglaufen konnten, entwickelten sie zu ihrem Schutz komplexe Abwehr- und Verteidigungsmechanismen. Dazu gehören unter anderem chemische Substanzen, die den Fressfeind vergiften, lähmen oder einfangen; es gibt auch solche pflanzliche Abwehrsubstanzen, von denen dem Käfer, der Blattlaus oder dem Wurm richtig übel oder sehr schwindlig wird. Meine Hauptthese in Böses Gemüse lautete, dass viele der Zivilisationskrankheiten und Gesundheitsprobleme, mit denen wir uns heute herumplagen, dadurch entstehen, dass wir unbedacht derartige teilweise giftige Abwehrstoffe konsumieren. (Falls Sie mein voriges Buch nicht gelesen haben, macht das nichts; es ist keine Voraussetzung zum Verständnis dieses Buches.)
Wenn wir in Böses Gemüse einen gedanklichen Zeitsprung von 450 Millionen Jahren gemacht haben, so war das nur ein kleiner Sprung im Vergleich zu dem, der jetzt folgt: Wir gehen drei Milliarden Jahre zurück, in eine Zeit, in der an Pflanzen noch bei Weitem nicht zu denken war.
Vor drei Milliarden Jahren war die Erde »wüst und leer«, wie es in der Bibel so schön heißt; die einzigen Lebewesen waren Bakterien und andere Einzeller, die ohne Sauerstoff wachsen und sich zellteilen können. Ja, man glaubt es kaum: Für viele dieser einzelligen Organismen wäre der Kontakt mit Sauerstoff sogar tödlich. Sie gedeihen aber ganz prächtig in einer von Schwefelsauerstoffgas gesättigten Atmosphäre, die für uns das reinste Gift wäre. Aber dann passierte etwas in ihrer Umwelt, in der damaligen Erdatmosphäre: Der Sauerstoffanteil stieg. Da diese Bakterien an eine anaerobe (sauerstofffreie) Umwelt angepasst waren und Sauerstoff als Umweltgift für sie sogar tödlich war, wurde es für sie allmählich gefährlich.
Wie alle anderen Lebewesen wollen auch diese sogenannten Prokaryoten (zellkernlose Lebewesen) sich unbedingt vermehren und ihre DNA weitergeben. Daher verfielen sie auf eine sehr clevere Methode, wie sie sich gegen diese für sie nun lebensfeindliche Umwelt schützen konnten. Ihr Plan bestand darin, in einzellige Lebewesen mit einem Zellkern, die Eukaryoten, hineinzuschlüpfen. Dafür boten sie diesen einen Deal an, der das Leben auf der Erde grundlegend verändern sollte: Im Austausch für etwas Nahrung und eine vor Sauerstoff geschützte Umwelt innerhalb der Zelle versprachen sie ihren Hausherren oder Wirtsorganismen, den etwas weiter entwickelten Eukaryoten-Einzellern, sie mit zusätzlicher Energie zu versorgen, damit diese ihre komplexeren Funktionen wahrnehmen und besser überleben können. Erst dank dieser Symbiose konnten sich die Eukaryoten weiterentwickeln und zu dem immensen Artenreichtum entfalten, den wir heute kennen: Algen, Pilze, Pflanzen, sämtliche Tiere und natürlich Menschen wie Sie und ich.
Kehren wir von diesem Ausflug in die uranfängliche Vergangenheit nun zurück ins 21. Jahrhundert unserer Zeitrechnung.
Was würden Sie davon halten, wenn ich Ihnen sagte, dass sich diese uralten Prokaryoten-Bakterien bis auf den heutigen Tag in jeder einzelnen Zelle Ihres Körpers erhalten haben? Sie kennen sicher das Sprichwort, wonach das Leben die verrücktesten Geschichten schreibt. Diese von den Eukaryoten aufgenommenen Prokaryoten haben in den Zellen in Form der sogenannten Mitochondrien überlebt. Deren Aufgabe besteht darin, aus dem eingeatmeten Sauerstoff und den mit der Nahrung aufgenommenen Kalorien den Treibstoff für das Leben und Überleben jeder einzelnen Zelle in Ihrem Körper zu liefern. Indessen ließen sich nicht alle Prokaryoten-Arten vor Jahrmilliarden auf einen Deal mit den damaligen Einzellern ein. Wo sind sie also geblieben? Seitdem die Prokaryoten als Mitochondrien in den Eukaryoten mehr Energie produzierten und diese in die Lage versetzten, sich zu immer komplexeren Lebewesen zu entwickeln, nahm auch der Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre stetig zu. Die verbliebenen Prokaryoten fanden eine Zuflucht und verkrochen sich in den Dickdarm von Tieren, wo sie ebenfalls eine anaerobe Umgebung vorfanden, die jener sehr ähnlich war, in der sie Milliarden von Jahren zuvor so prächtig gediehen waren.
Ist es nun zu weit hergeholt, sich vorzustellen, dass diese Bakterien sich unter Umständen die ganze Tierwelt einschließlich des Menschen extra dafür erschaffen haben, um in diesen Organismen an dieser bestimmten Stelle im Körper unter Ausschluss von Sauerstoff sicher auf der Erde überleben zu können? Und da wir gerade von etwas...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2019 |
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Übersetzer | Wolfgang Seidel |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Technik |
ISBN-10 | 3-407-86604-6 / 3407866046 |
ISBN-13 | 978-3-407-86604-2 / 9783407866042 |
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