Gobi (eBook)
265 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490926-4 (ISBN)
Reinhold Messner, geboren 1944, ist der berühmteste Bergsteiger und Abenteurer unserer Zeit. Als Kletterer, Höhenbergsteiger, Grenzgänger und ?Philosoph in Aktion? hat er immer wieder neue Maßstäbe gesetzt. Messner bestieg als erster Mensch alle vierzehn Achttausender, darunter erstmals den Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff und allein (?Everest Solo?). 1989/90 gelang ihm zusammen mit Arved Fuchs die Durchquerung der Antarktis zu Fuß. Heute kämpft Reinhold Messner als Autor und Filmemacher für einen ökologisch nachhaltigen Umgang mit der Natur, bewirtschaftet Bergbauernhöfe und gestaltet sein Bergmuseum, das Messner Mountain Museum, mit seinen sechs Standorten.
Reinhold Messner, geboren 1944, ist der berühmteste Bergsteiger und Abenteurer unserer Zeit. Als Kletterer, Höhenbergsteiger, Grenzgänger und ›Philosoph in Aktion‹ hat er immer wieder neue Maßstäbe gesetzt. Messner bestieg als erster Mensch alle vierzehn Achttausender, darunter erstmals den Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff und allein (›Everest Solo‹). 1989/90 gelang ihm zusammen mit Arved Fuchs die Durchquerung der Antarktis zu Fuß. Heute kämpft Reinhold Messner als Autor und Filmemacher für einen ökologisch nachhaltigen Umgang mit der Natur, bewirtschaftet Bergbauernhöfe und gestaltet sein Bergmuseum, das Messner Mountain Museum, mit seinen sechs Standorten.
Ein letzter Trip
Nach fünf Jahren im Europäischen Parlament beginne ich müde und träge zu werden. Auch bin ich zu schwer. Ich war stehengeblieben statt weiterzugehen. Die Gewohnheiten der Seßhaften sind dabei auch meine Gewohnheiten geworden, und von der Neugier des horizontsüchtigen Wanderers ist nur der Traum übriggeblieben. Ich war zuletzt wohl zu wenig zu Fuß unterwegs gewesen.
Ich bin noch kein alter Mann, aber seit vier Jahren habe ich keine richtige Expedition mehr gewagt. Die Zeit ist für mich ohne Jahreszeiten, ohne Sonnenaufgänge vergangen, ohne Hitze und Kälte. Der Plenarsaal in Straßburg hat keine Fenster, und die Kuppel ist auch mittags, während der Abstimmungsvorgänge, hell erleuchtet. Mein Büro ist vollklimatisiert. Wie Sonnenuntergänge riechen habe ich vergessen.
Unsere Kinder wachsen heran, und wir leisten uns ein oder zwei Reisen im Jahr, aber mit dem, was ich früher gewagt habe, haben unsere Familienausflüge wenig zu tun. Gewiß, ich war in den vergangenen fünf Jahren sehr viel unterwegs, mehr denn je: im Zug, im Auto, im Flugzeug. Die meiste Zeit aber habe ich in künstlich beleuchteten Räumen verbracht. Der Hunger nach Weite, Sonnenlicht und dem Wind im Gesicht ist im Herbst 2003 somit größer als die Lust, als Parlamentarier alt zu werden.
Ich weiß nicht mehr, wann ich die Idee zum ersten Mal für mich formuliert habe, aber ich weiß noch, wann und wem ich zum ersten Mal von ihr erzählt habe. Das heißt, wann sie mich gepackt hat und seit wann sie zu meinem Leben gehört: Seit bald fünfundzwanzig Jahren will ich die Gobi durchqueren. Die Frage ist: kann ich das noch?
»Simon«, sage ich zu meinem Sohn, der ein begeisterter Reiter ist, während wir zu unserem Schloß fahren, wo wir, seit sich die Kinder erinnern können, den Sommer verbringen.
»Simon«, sage ich, »wir könnten eine Expedition zusammen machen.«
»Wohin?« fragt der Junge, der für Kamele schwärmt und zu gerne mal auf einem reiten würde.
»In die Wüste«, sage ich und tue so beiläufig, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.
»In welche Wüste?« fragt Simon, und seine Stimme verrät, daß er meinem Vorschlag nicht recht traut. Denn mit Tieren durch die Wüste zu ziehen, als wäre er selbst ein Tier, gehört seit Jahren zu seinen innigsten Wünschen.
»In die Ténéré«, sage ich, »du wolltest doch schon immer von Agadez nach Bilma.«
»Wie«, sagt der Junge, jetzt ganz Aufregung, »mit einer Salzkarawane nach Bilma?«
»Ja«, sage ich, »und du kannst mitkommen.«
»Ob Mama das erlaubt?« zweifelt Simon und macht mir damit klar, daß er mein Angebot ernst nimmt.
»Und wie kommst du darauf?« fragt er weiter.
»Bei einer dieser alternativen Messen, die wir Politiker manchmal besuchen – es ging dabei um nachhaltigen Tourismus weltweit –, habe ich einen Reiseveranstalter getroffen, der sich gut in der Sahara auskennt. Er wirkt handfest, und ich glaube ihm, wenn er sagt, er kann das organisieren«, sage ich.
»Und ich könnte mit? Obwohl ich erst dreizehn bin?«, fragt Simon.
»Erinnere dich an den Videofilm, den wir zusammen gesehen haben, von dem Tuareg-Jungen, der mit einer Salzkarawane durch die Ténéré gezogen ist. Bis nach Bilma. Der war auch erst dreizehn.«
»Ja, ich erinnere mich«, sagt Simon, »wenn mich die Mama nur läßt.«
»Der Veranstalter hatte zuerst auch Bedenken. Das sei nichts für einen Dreizehnjährigen, hat er gemeint, zu gefährlich und auch zu hart. Die Karawane bleibt nie stehen, die Kamele gehen schnell, und das zehn Stunden an einem Stück.«
»Ich weiß«, unterbricht mich Simon, »ich sehe da kein Problem, ich würde fast immer reiten. Das ist nicht so anstrengend, und mit der Hitze komme ich schon zurecht.«
»Ich würde mehr laufen als reiten«, sage ich.
»Das Problem ist Mama, sie hält nicht viel von solchen Ideen. Und ihr Vertrauen in deine Reitkunst kennst du. Und ich muß ja noch zur Schule.«
»Das mit Mamas Bedenken ist ganz natürlich. Du bist wirklich noch sehr jung für eine so schwierige Reise.«
»Siehst du, zuerst machst du mich neugierig, und dann ist wieder alles nichts. Wie immer, wenn wir über gemeinsame Expeditionspläne reden«, sagt der Junge enttäuscht.
»Nein, nein«, sage ich, »ich möchte den Trip unbedingt machen, und zwar mit dir. Ich habe Vertrauen, was dich angeht. Ich weiß, wie gut du reiten und mit Tieren umgehen kannst.«
»Müßten wir dabei alles selber machen?« fragt Simon, der mehr und mehr Begeisterung für die ausgefallene Idee zeigt.
»Nein, es kämen Kameltreiber mit«, sage ich, »Männer, die die Tiere beladen und führen, die auch für die Lagerplätze verantwortlich sind.«
»Schade«, sagt Simon, den ein Unterwegssein mit Kamelen ohne fremde Hilfe mehr interessiert als alles andere auf der Welt.
Was ich gut nachempfinden kann. Auch mir ist es immer um Eigenverantwortung bei meinen Touren gegangen. Schon nach dem Alleingang am Mount Everest träumte ich von einem großen Wüstentrip in Eigenregie. Ich wollte damals in die Gobi. Weil aber sowohl China als auch die Mongolei politisch sehr isoliert waren, schob ich die Reise auf. Dann kam der Marsch zum Südpol, und ich vergaß meinen Gobi-Plan. Erst seit ich mehr sitze als gehe, hat sich die alte Idee wieder bemerkbar gemacht, und ich werde sie nicht wieder los. Sie hat sich in meinen Tagträumen derartig festgesetzt, daß ich weiß, ich muß sie in die Tat umsetzen. Oder ich werde sie nie wieder los.
Unmittelbar nach meiner Zeit als Abgeordneter ist für mich dazu die letzte Gelegenheit. Das weiß ich. Und der Trip mit Simon wäre die beste Vorbereitung darauf. Also zuerst die Ténéré, dann allein durch die Gobi. Simon ist fasziniert. Sollen andere meine Pläne als »Unsinn« abtun und Kindern das Durchhaltevermögen für die Sahara absprechen, uns beiden ist klar, daß unsere Wüstentouren Wirklichkeit werden.
Dabei ist Simon dreizehn, und ich bin bald sechzig. Und wenn schon! Wir sind jetzt beide guter Dinge, es ist ein schöner Herbsttag, und wir haben ein gemeinsames Ziel. Außerdem würde ich bald wieder frei sein, frei für die Verwirklichung meiner letzten großen Tagträume.
In meinen frühen Jahren haben mich Wüsten nicht sonderlich interessiert. Vielleicht, weil ich immerzu Widerstände suchte: Felswände, Gletscherspalten, Gipfel und Grate. Als wären Touren in der Horizontalen ohne Herausforderung! Was hätte da schon passieren sollen?
Heute erscheinen mir Wüsten als ideale Erfahrungsräume. Wie Fenster in die entfernteste Zukunft. Mit Blick auf die Wüsten in mir. Vielleicht hat es mit dem Altern zu tun, aber am Rande meiner inneren Wüste wächst schon die Vorahnung einer Welt, die nicht mehr von Menschen bewohnt ist. Dazu kommt die Angst vor innerer Verödung. Die Wüste als Vorgeschmack der Auflösung. Als Durchgangsphase in die Heimat des Nichts. Natürlich geht es mir heute auch darum, all den Verpflichtungen zu entkommen, die zu einem Parlamentarierdasein gehören: immer vor Ort und präsent zu sein, immer erreichbar, auf alle Fragen eine Antwort parat zu haben und immerzu als politische Person kenntlich zu sein. In der Wüste sind wir da und völlig überflüssig zugleich. Die vielen anderen, die gerade noch eine Last in unserem Leben waren, sind weit weg und ihrerseits von uns befreit.
In einem solchen Zustand sind wir letztlich von uns selbst befreit. Denn, wo niemand mich sucht, braucht, ansieht, keine Spiegel vorhanden sind, in denen ich mich selbst wiedererkennen könnte, fehle zuletzt sogar ich mir selbst nicht mehr. Simon sind diese Art Bilder fremd, ihm geht es beim Gedanken an die Wüste um das Unterwegssein mit Tieren, das Bändigen von Kamelen und den schier endlosen Ritt über Sanddünen.
»Was muß ich zur Vorbereitung tun«, fragt Simon ein paar Wochen später, nachdem ich den Sahara-Trip gebucht habe. Seine Mutter hatte zuletzt nichts dagegen einzuwenden gehabt. Obwohl sie es ungern sieht, daß wir in den Weihnachtsferien getrennt verreisen, sie mit den Mädchen nach Indonesien, Simon und ich nach Afrika.
»Du mußt viel laufen«, rate ich ihm, »und morgens kalt duschen. Damit du abgehärtet bist.«
»Wie alt warst du, als du zum ersten Mal auf Expedition gegangen bist?« fragt der Junge weiter.
»Das ist sehr lange her. Ich war fünfundzwanzig, und wir fuhren in die Anden nach Südamerika. Damals bin ich zum ersten Mal mit einem Flugzeug geflogen.«
»Schade«, sagt Simon, »daß ich nicht früher schon mitkonnte.«
»Du warst bis jetzt noch zu klein, und auf große Berge oder ins Eis würde ich dich auch heute noch nicht mitnehmen. Es ist immerzu kalt dort und viel zu gefährlich.«
»Aber in die Gobi würde ich gerne mitkommen. Du willst doch im Sommer in die Gobi.«
»Ja«, sage ich, »im Mai.«
»Mit Kamelen?«
»Ja, auch mit Kamelen, wenn ich welche ausleihen kann.«
»Kamele sind schnell, ausdauernd, richtige Wunder in der Wüste«, weiß Simon.
»Aber schwierig zu handhaben«, sage ich.
Simon ist voller Erwartung. Er lernt brav und trainiert fleißig. Seine Zuversicht wächst. Vier Wochen vor Weihnachten fragt er mich, wann ich mit dem Training beginne, wie ich mich auf unsere Wüstenexpedition vorbereite.
»Für mich ist die Ténéré eine Art Vorbereitung«, sage ich.
»Worauf?« fragt der Junge.
»Auf die Gobi«, sage ich. »Es gibt so viele Tricks beim Unterwegssein. Du wirst sie lernen. Ich habe immer noch eine gute Grundkondition, und wenn ich die Ténéré schaffe, ist das mein Training für die Gobi.«
»Und wenn du es nicht schaffst?« fragt Simon.
»Ich werde es schaffen, so wie du auch. Ich bin zwar ein...
Erscheint lt. Verlag | 6.1.2019 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Technik | |
Schlagworte | Abenteuer • Alter • Gobi • Mongolei • Reinhold Messner • Ulan Bator • Wandern • Wüste • Wüstendurchquerung • Wüstenwanderung • Zentralasien |
ISBN-10 | 3-10-490926-1 / 3104909261 |
ISBN-13 | 978-3-10-490926-4 / 9783104909264 |
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