Die Weisheit der Wölfe (eBook)
288 Seiten
Ludwig Buchverlag
978-3-641-20674-1 (ISBN)
Elli H. Radinger, Jahrgang 1951, gab vor dreißig Jahren ihren Beruf als Rechtsanwältin auf, um sich ganz dem Schreiben und ihrer Leidenschaft, den Wölfen, zu widmen. Heute ist sie Deutschlands renommierteste Wolfsexpertin und gibt ihr Wissen in Büchern, Seminaren und Vorträgen weiter. Seit einem Vierteljahrhundert verbringt sie einen Großteil des Jahres im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark in Wyoming, um wilde Wölfe zu beobachten. Elli H. Radinger lebt mit ihrer Hündin in Wetzlar, Hessen.
Was du dir einmal vertraut gemacht hast, für das bist du zeitlebens verantwortlich.
(ANTOINE DE SAINT-EXUPÉRY)
Wie ich einen Wolf küsste und süchtig wurde
Es gibt für alles ein erstes Mal. Für meine besondere Beziehung zu Wölfen gab es gleich drei »erste Male«: den ersten Wolfskuss, den ersten wilden Wolf und den ersten deutschen Wolf.
Den ersten Wolfskuss erhielt ich von Imbo, einem sechsjährigen Timberwolfrüden in einem amerikanischen Wolfsgehege. Ich hatte mein altes Leben als selbstständige Rechtsanwältin hinter mir gelassen. Strafdelikte, Mietstreitigkeiten und Scheidungen frustrierten mich zunehmend. Statt voller Elan der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, quälte ich mich zu jedem Gerichtstermin. Mir fehlten die Distanz und Härte, um eine gute Anwältin zu sein. So konnte und wollte ich nicht den Rest meines Lebens verbringen. Ich wollte mir endlich meinen Lebenstraum erfüllen und die Liebe zum Schreiben mit meiner Faszination für Wölfe verbinden.
Ohne Biologiestudium, aber mit einer großen Portion Leidenschaft und Optimismus bewarb ich mich um ein Verhaltensforschungspraktikum bei dem Wolfsforschungsgehege Wolf Park im US-Staat Indiana. Bei der Vorbesprechung hatte mir der Forschungsleiter Professor Dr. Erich Klinghammer erklärt, dass allein der Leitwolf des Hauptrudels darüber entscheidet, ob ein Praktikant eingestellt wird.
Doch wie bewirbt man sich bei einem Wolf? Zum Glück brauchte ich weder zu tanzen, zu singen noch andere Kunststücke vorzuführen, aber ich schwöre, ich hätte selbst bei Deutschland sucht den Superstar nicht aufgeregter sein können – wenngleich genau das die falsche Emotion bei der Begegnung mit einem Gehegewolf sei, so Klinghammer: »Du musst ganz cool bleiben! Er spürt deine Aufregung.«
Bleiben Sie einmal cool, wenn Sie einem 50 Kilo schweren, pelzigen Muskelpaket gegenüberstehen, das Sie aus gelben Augen starr fixiert. Ich musste in diesem Moment an meinen Schäferhund, Freund und Vertrauten in meiner Kindheit denken. Also gut. Im Grunde war Imbo ja auch nur ein großer Hund – ein sehr großer Hund. Eine Sicherheitseinweisung hatte mich auf das Treffen vorbereitet und die Betreiber des Geheges rechtlich abgesichert. Ich unterzeichnete eine Haftungsbefreiung mit dem beängstigenden Wortlaut: Ich verstehe, dass ein Verletzungsrisiko besteht und dass die Verletzungen auch schwerwiegend sein können.
Mit dieser Warnung betrat ich gemeinsam mit zwei Tierpflegern das Wolfsgehege, bemühte mich um einen festen Stand und atmete tief durch. Dann reduzierte sich meine Welt auf den Wolf, der in elegantem Trab auf mich zuschwebte. Die silbernen Streifen seines Fells leuchteten in der Nachmittagssonne. Die schwarze Nase zog meine Witterung tief ein, die Ohren waren aufmerksam nach vorn gerichtet. Aus den Augenwinkeln sah ich die anderen Mitglieder von Imbos Rudel abwartend am Zaun stehen. Offensichtlich waren sie gespannt, ob ich den Test bestehen und der Chef mich akzeptieren würde. Ich genauso, denn nur dann würde ich das Praktikum antreten dürfen. Jetzt galt es, die nächsten Sekunden zu überstehen.
Der Film in meinem Kopf verlangsamte sich auf Zeitlupe. Die kräftigen Hinterläufe des Wolfes sanken leicht ein und machten sich zum Sprung bereit. Als er auf mich zuflog und ich ihm meine Kraft entgegendrückte, gab es kein Zurück mehr. Die handtellergroßen Pfoten landeten auf meinen Schultern, seine imposanten Fangzähne waren bloß Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Die Welt hielt an. Und dann leckte er mir mit rauer Zunge mehrmals über das Gesicht. Dieser »Kuss« war mein Einstieg in die »Droge« Wolf.
Nachdem Imbo mich akzeptiert hatte, begann mein Praktikum bei den Wölfen von Wolf Park. Ich lernte alles über die Haltung und das Verhalten von Gehegewölfen, zog Wolfswelpen mit der Flasche auf und genoss in den folgenden Monaten zahlreiche feuchte Liebesbezeugungen von Imbo und dem Rest des Rudels.
Als ich ein halbes Jahr später in die Wildnis von Minnesota zog, war ich hervorragend ausgebildet und glaubte, alles über Wölfe zu wissen. Dann begegnete ich meinem ersten wilden Wolf.
Die Blockhütte, in der ich lebte, lag abseits der Zivilisation an einem See inmitten eines Wolfs- und Bärengebiets. Am Neujahrsmorgen zog ich bei minus 30 Grad die Schneeschuhe an, um mich auf die Suche nach Wolfsspuren zu machen. Bisher hatte ich meine grauen Nachbarn noch nicht zu sehen bekommen, nur ihr Heulen ließ mich wissen, dass sie da waren. Doch in der Nacht zuvor hatte mich, als ich begleitet vom Chor der Wölfe lange draußen vor der Hütte gestanden und die Polarlichter bestaunt hatte, eine Bewegung auf dem See vom himmlischen Spektakel abgelenkt. Vier Wölfe kamen über die schimmernde Eisfläche gerannt und jagten etwas vor sich her, ehe sie am Horizont verschwanden. Was sie verfolgten, konnte ich nicht erkennen.
Am nächsten Morgen brach ich früh auf, um sie zu suchen. Vorsichtig folgte ich ihren Spuren in den Wald. Sie führten ins Dickicht, über Stock und Stein, durch Gebüsch, an Felsen und Gesteinsbrocken vorbei und entlang schneebedeckter Flächen. Nur mühsam kam ich voran. Gelegentlich traf ich auf eine kreisrunde Vertiefung, vermutlich der Ruheplatz eines Hirsches. Ausgiebige gelbe Markierungen im Schnee zeigten, dass die Wölfe die Stelle ebenfalls bemerkt hatten. Nach einer Stunde Fährtensuche fand ich frische Blutspuren und entdeckte kurze Zeit später einen toten jungen Weißwedelhirsch. Ich kniete nieder und berührte ihn. Er war noch warm. Der Bauch war aufgerissen, und ein Hinterbein fehlte. Der Magen lag abseits, Herz und Leber waren verschwunden. Bisswunden an der Kehle und an den Beinen deuteten darauf hin, dass das Tier nicht lange hatte leiden müssen.
Die Wölfe waren weit und breit nicht zu sehen, doch plötzlich spürte ich, dass ich beobachtet wurde. Ich kniete noch im Schnee. Keine gute Position, wenn ein hungriger Wolf hinter dir steht. In Zeitlupe erhob ich mich und drehte mich um. Da stand er, nur wenige Meter entfernt. Ein Grauwolf. Seine Nackenhaare aufgestellt, als wäre er durch ein elektrisches Feld gelaufen und die Ohren gespitzt, legte er leicht den Kopf zur Seite und musterte mich. Seine Nasenflügel vibrierten, als er versuchte, meinen Geruch aufzunehmen, aber der Wind kam aus der anderen Richtung. Ich konnte es ihm ansehen: Dieses Jungtier hatte keine Ahnung, wer oder was ich war. Ich hielt den Atem an. Natürlich greifen wilde Wölfe keine Menschen an, doch wusste das auch dieser Wolf? Er hatte Hunger, und zwischen ihm und seinem hart erkämpften Futter stand nur ich.
»Hallo, Wolf!« War ich das, die so krächzte?
Das Tier zuckte zusammen und sprang einen Schritt zurück. Zur gleichen Zeit zog sich der halb erhobene Schwanz dicht unter den Bauch. Aus Neugier wurde Angst. Er drehte auf den Hinterläufen eine halbe Pirouette und schoss in den Wald. Ich starrte noch lange fasziniert auf die Bäume, hinter denen er verschwunden war.
In den folgenden Monaten lernte ich bei den Biologen des International Wolf Center, einem Wolfsforschungszentrum in Ely, im Norden von Minnesota, und bei den Wölfen vor meiner Haustür mehr über das Leben und Verhalten wild lebender Wölfe sowie über Forschung, Telemetrie und Monitoring.
Als 1995 die ersten kanadischen Timberwölfe im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark angesiedelt wurden, begann mein nächster »wölfischer« Lebensabschnitt: Ich arbeitete als Freiwillige im Yellowstone-Wolfsprojekt mit und unterstützte die Biologen bei der Feldforschung. Dazu hielt ich mich überwiegend im Lamar Valley auf, einem weiten Tal im Norden des Nationalparks auf 2 500 Metern Höhe, beobachtete die dort lebenden Wolfsfamilien und meldete meine Beobachtungen den Biologen.
Das war vor über 20 Jahren. Seither habe ich weit mehr als zehntausend Wolfssichtungen erlebt. Manchmal trennten uns lediglich wenige Meter voneinander. Niemals habe ich mich dabei bedroht gefühlt oder Angst verspürt. Für mich war es ein großes Privileg, die Tiere fast täglich zu sehen. Um dies zu erleben, flog ich mehrmals im Jahr 10 000 Kilometer über den Atlantik, denn in Deutschland gab es offiziell noch keine Wölfe. Als die scheuen Tiere 2000 auch hier bestätigt wurden, machte ich mir keine Hoffnung, sie jemals zu Gesicht zu bekommen.
Und es dauerte noch mal zehn Jahre, bis ich zum ersten Mal in Deutschland einen Wolf in freier Wildbahn sah.
Ich kam von einer Lesung und fuhr am frühen Morgen mit dem ICE von Leipzig nach Frankfurt zurück. Der Zugbegleiter stellte mir einen Cappuccino auf den Tisch, und ich wollte soeben zur Zeitung greifen, als ich aus dem Fenster sah und etwas Braunes in einem Feld entdeckte. Wenn man lange Zeit mit Tieren in der Natur verbringt, entwickelt man eine Fähigkeit, die an die visuelle Prägung erinnert, die Wölfe von einem Beutetier oder einer Landschaft im Kopf haben. Unbewusst nehme ich eine Szene auf, die ich sehe, und spüre, dass etwas nicht stimmt, noch bevor ich es konkret definieren kann. Dieses Gefühl setzte jetzt...
Erscheint lt. Verlag | 30.10.2017 |
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Zusatzinfo | 24 S. Farbbildteil |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | Charakter Tiere • Das geheime Leben der Bäume • eBooks • Empathie Tiere • H wie Habicht • Kommunikation Tiere • Lebensweisheiten • Penguin Bloom • Peter Wohlleben • Tierintelligenz • Verhaltensforschung Tiere |
ISBN-10 | 3-641-20674-X / 364120674X |
ISBN-13 | 978-3-641-20674-1 / 9783641206741 |
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