Bildnisse (eBook)
328 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560371-0 (ISBN)
Carl Jacob Burckhardt, geboren am 10. September 1891 in Basel, war ein Schweizer Diplomat, Essayist und Historiker und Großneffe des Kulturhistorikers Jacob Burckhardt. Als sein literarisches Hauptwerk gilt die von 1935 bis 1967 veröffentlichte dreibändige Biographie über Kardinal Richelieu. Burckhardt wurde 1937 vom Völkerbund zum Hohen Kommissar für die Freie Stadt Danzig ernannt und fungierte von 1944 bis 1948 als Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Er unterhielt zahlreiche Briefwechsel, u.a. mit Hugo von Hoffmansthal und Carl Zuckmayer und war Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1954. Am 3. März 1974 starb er in Vinzel, Kanton Waadt (Schweiz).
Carl Jacob Burckhardt, geboren am 10. September 1891 in Basel, war ein Schweizer Diplomat, Essayist und Historiker und Großneffe des Kulturhistorikers Jacob Burckhardt. Als sein literarisches Hauptwerk gilt die von 1935 bis 1967 veröffentlichte dreibändige Biographie über Kardinal Richelieu. Burckhardt wurde 1937 vom Völkerbund zum Hohen Kommissar für die Freie Stadt Danzig ernannt und fungierte von 1944 bis 1948 als Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Er unterhielt zahlreiche Briefwechsel, u.a. mit Hugo von Hoffmansthal und Carl Zuckmayer und war Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1954. Am 3. März 1974 starb er in Vinzel, Kanton Waadt (Schweiz).
Voltaires Geschichte Karls XII.
Charles Baudelaire hat einmal geäußert: »Ich liebe die Franzosen nicht, weil sie alle versuchen, Voltaire ähnlich zu sein.« Vielleicht hätte er sagen dürfen: »Ich liebe die vielen Franzosen nicht, die es vergeblich versuchen, Voltaire ähnlich zu sein.« Einst wollte Erasmus nichts von Erasmianern wissen, und was die spätern Voltairianer, nicht nur in Frankreich, anbetrifft, so hätte Voltaire ihnen ein »quos ego« zugerufen. Es gehört zu den reichlich abgegriffenen Formeln, wenn man Voltaire für alle revolutionären Unternehmungen und für die ganze nach seinem Tod erfolgte Säkularisation als den Hauptverantwortlichen anspricht. Er war ein Revolutionär als Kind und Inbegriff seiner Zeit, und er war auch das Gegenteil von einem solchen, als ein Einzelner, der gemäß seinem eigenen Gesetz nach allen Richtungen kämpfte. Wie skeptisch hat er sich gegen Weltverbesserungspläne geäußert, so wenn er schreibt:
»Die große Masse der Menschen war und wird immer unsinnig und töricht sein; – ich gehorche lieber einem Löwen als zweihundert Ratten; – die erbärmlichste Sorte sind die Schelme, die die Welt mit ihrem Tintenfaß regieren; – ich wünsche nicht, daß mein Perückenmacher zum Gesetzgeber aufrücke, lieber würde ich keine Perücke tragen; – der Despotismus ist die Entartung des Königtums; – ein König, dem nicht zuviel widersprochen wird, kann nicht besonders böse werden; – wenn ich vor die Wahl gestellt würde, so zöge ich die angestammte Herrschaft eines Einzigen der vielköpfigen Tyrannis vor; – auch ein Despot hat immer noch gute Augenblicke, eine Versammlung von Despoten aber hat diese Augenblicke nie.«
Wenn auch Voltaire zu dem Vorgang der Auflösung und Erledigung des alten Regimes Entscheidendes beigetragen hat, so erscheint aus dem heutigen Abstand gerade dasjenige, was er bewahrte, bedeutungsvoll, und seine bewahrende Eigenschaft muß genau an dem Punkte beherzigt werden, an welchem Wert und Unwert aller Revolutionen sich überhaupt entscheidet: Voltaire nämlich gelangt nie durch das blinde Fortwirken eines auflösenden Triebes zum Nihilismus, er behält immer die Fähigkeit bei, zu bestätigen. In Voltaire wirkt die große innere Gegenbewegung, wirken die Gezeiten, die stets als das lebendige Zeichen eines schöpferischen Geistes vorhanden sind, und nirgends wird diese Gegenbewegung fühlbarer als in dem historischen Werk des großen Franzosen. Wenn er sich ohne jede Rücksicht auf bestehendes System und noch herrschende Ansichten zum Anwalt eines Coligny, eines Calas oder eines Lally Tolendal macht, so dient er dabei nicht polemisch dieser oder jener Richtung, sondern er betätigt einfach einen ihm eingeborenen Sinn für Gerechtigkeit gegenüber dem Menschen, was auch dessen Lage, dessen Ursprung oder dessen Verstrickung durch das Handeln gewesen sei. Gerade durch das von spätern Voltairianern so viel mißbrauchte Element seiner beständigen Ironie hindurch bekommt sein Sinn für menschliche Größe, für die Grenzen menschlicher Verantwortung und für menschliche Einsamkeit so trockene, klare, unbedingte Umrisse, die dann dem romantischen Persönlichkeitskult völlig mangeln.
Es ist kein Zufall, daß der erste politische Kopf unter den deutschen Dichtern, daß ein so reiner, allem Hämischen so abholder Geist wie Friedrich Schiller ernsten Anteil an Voltaires geschichtlichem Werk genommen hat und von diesem Werk entscheidende Anregung empfing. Voltaire hat die französische Historiographie aus ihren theologischen Banden gelöst, er hat sie nach antikem Vorbild auferstehen lassen, als eine freie Äußerung des messenden, urteilenden und erkennenden Geistes; noch ist er ein Chronist, ein Augenzeuge, – alles schöpft er aus lebendigen Quellen, alles beurteilt er mit einem wachen Lebenssinn als einer, der mitten im Geschehen mitleidend und -handelnd steht; aber schon ist er viel mehr als ein Zeuge, er überblickt den Ablauf und urteilt als ein Richter. Stundenlang läßt er sich von dem uralten Caumartin, dem Vater eines Freundes auf dem Schlosse St. Ange, über die Zeiten Ludwigs XIV. erzählen. Voltaire erscheint als eine Erfüllung des Zeitalters der Konversation; sein Pate war der geistreiche Abbé de Châteauneuf, der späte Geliebte Ninon de Lenclos’, welcher ihn gewissermaßen ein zweites Mal geistig aus der Taufe gehoben hatte, als er ihn in diese einzigartige Welt des Jahrhunderts einführte, die Voltaire nie mehr verlassen sollte und deren Probe er fortan unablässig im blitzenden Waffengange des Gesprächs aufs lehrreichste bestand. In einem Jahrhundert, dessen Revolution dazu geführt hat, Europa in Nationen zu zersplittern, hat Voltaire einer letzten, völlig säkularisierten Ökumene der Höfe und der Gesellschaft angehört. Als ein Fregoli, aber nur scheinbar in tausend Facetten schillernd, hat auch er an der Selbstauflösung jener späten Gesellschaft mitgewirkt, die er angespannt suchte, um in ihr aufzugehen, die ihn maßlos verletzte, ihn begeistert aufnahm, trug und mit Ruhm bedeckte, von deren Ubiquität, von deren Reichtum er zehrte, deren leichte, kühne Chiffre er benutzte, – dieser Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, die, handelnd wie er selbst, die uralten verbindenden Werte des Alten Kontinents ein letztes Mal in die glanzvolle Helle mit der ihr eigenen Gebärde hob. Voltaire hat die Summe aus dem Wesen all seiner hervorragenden Zeitgenossen gezogen; er, ein vollkommener Franzose, – welcher dem großen gekrönten Revolutionär, Friedrich II. von Preußen, so nahe kam, daß die beiden durch ihre gegenseitige Kälte Feuer fingen, – hat auch England erlebt und, wie wenige andere Festländer, begriffen; schon als ganz junger Mensch ging er bei Swift, Lord Petersborough, Pope, der Herzogin von Marlborough, Walpole oder Bolingbroke aus und ein. Vor allem hat er einen ganz entscheidenden Wert des englischen Lebens, den Respekt vor der Würde des Einzelnen, erkannt, und zwar bis zur Ergriffenheit seines skeptischen Wesens; wie deutlich wird dies an dem Tage, da er allein mit dem Marschall von Sachsen an dem Sterbebette der Demoiselle Lecouvreur steht und weiß, daß ihr Leichnam außerhalb geweihter Erde werde verscharrt werden und sich dabei daran erinnert, wie er selbst in der Westminsterabtei am Grabe der Schauspielerin Oldfield Blumen niedergelegt hatte.
Das Außerordentliche an Voltaire als Historiker ist der Umstand, daß er mit dichterischer Sensibilität in der Welt gelebt hat – in einer Welt von einem Formenreichtum ohnegleichen –, völlig, entschlossen und unermüdlich, Tag und Nacht, und daß ihm dabei eine Zähigkeit gegeben war, die den Dichtern meist zu fehlen pflegt, um diese Welt zu ertragen und ihr Wesen beständig zu fassen.
In Weimar hat man ihn, ein halbes Jahrhundert vor Nietzsche, ein »Genie der Oberfläche« genannt, weil er eben alles unerbittlich aus allen Tiefen an die Oberfläche heraufholt und erst dort behandelt. Im Weimarer Kreise wurde auch das richtige Wort geprägt, Voltaire habe »nichts versalzen und nichts verzuckert«.
»Nichts versalzen und nichts verzuckert«, so hält es Voltaire auch in seinem Werk über Karl XII., seinem ersten historischen Werk: Menschen treten auf in diesem Buche – Menschen agieren; leicht, rasch, witzig, klug und ungeheuer richtig führt er sie aneinander vorüber und gegeneinander, und indem sie ihre Bahnen ziehen, weben sie den Teppich einer großen Episode, die die Welt erneuern wird. Jeder ist dargestellt nach der Art der großen französischen Memorialisten des 17. Jahrhunderts, nach der Art der »Porträts«, wie sie zur Zeit Ludwigs XIV. üblich waren – sparsam, aber mit sichersten Mitteln charakterisiert –, kaum eine Theorie über geschichtliche Mächte und Notwendigkeiten, das ganze ein Zusammenspiel von Figuren mit ihren Vorzügen, Fehlern, leidenschaftlichen Kräften oder Schwächen um den Mittelpunkt, den König herum, an dessen Wesen und Wirken die Frage des Königtums, das Problem des Eroberers moralistisch abgewandelt wird. Voltaire frägt: »Wohin führt ein hemmungsloser Eroberer sein Volk?« Er frägt nicht: »Wie fördert ein hemmungsloser Eroberer, indem er sein Volk opfert, zu gleicher Zeit als ein Vollstrecker und als ein Instrument, den notwendigen geschichtlichen Vorgang?« Aber aus der Art, wie Voltaire die Tatsachen aus sich selbst heraus wirken läßt, erkennen wir heute, wie sehr er sich hinter der Blendung seines als Feuerrad drehenden Verstandes verhüllte, und welche Einsichten er seinen Zeitgenossen verschwieg. Ja, heute wissen wir, daß der russische Sieg bei Poltawa über die von einem russischen Winter zermürbte schwedische Armee auf weitere Sicht das Aufgehen einer europäischen Schicksalsstunde bedeutete als selbst die Kanonade von Valmy. Die Wirklichkeit unserer Tage tritt beim Frieden von Oliva zum ersten Male in den Bereich der historischen Erkenntnis. Gemessen an der Dimension der Ereignisse, die der Ausgang des Nordischen Krieges für die Zukunft andeutet, bleibt vieles Episode. Episode bleibt die spanische Suprematie über Europa durch die Kaiserkrönung Karls V., – die französische Vorherrschaft durch den Westfälischen Frieden und wohl selbst die englische, die mit Waterloo einsetzt. Keine dieser drei großen Episoden hat so vieles in Frage gestellt wie die letzte erkennbare, die mit dem Ereignis von Poltawa sich ankündigt. Keine der vorhergehenden, in der Tat, hat Europa in seinen wesentlichsten Werten verändert, diese letzte aber, die sich über viel weitere Räume auswirkt, stellt Europa selbst und die beiden Kräfte, auf...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2015 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Schulbuch / Wörterbuch ► Lexikon / Chroniken |
Technik | |
Schlagworte | China • Deutschland • England • Essay • Felix Somary • Frankreich • Franz Grillparzer • Friedenspreis • Friedrich Schiller • Goethepreis • Karl V. • Max Rychner • Paris • Paul Claudel • Rede • Romantik • Selbstbiographie • Wien |
ISBN-10 | 3-10-560371-9 / 3105603719 |
ISBN-13 | 978-3-10-560371-0 / 9783105603710 |
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Größe: 732 KB
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