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Der Fisch in uns (eBook)

Eine Reise durch die 3,5 Milliarden Jahre alte Geschichte unseres Körpers

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403707-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Fisch in uns -  Neil Shubin
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Wussten Sie, dass sich Ihre Zähne aus dem Panzer haiähnlicher Fische entwickelt haben? Und wussten Sie auch, dass Ihre Hände und Füße von einer Fischflosse abstammen? Der preisgekrönte Paläontologe Neil Shubin, der selbst spektakuläre Fossilien entdeckt hat, erzählt die spannende Geschichte unseres Körpers und seiner Evolution und zeigt, warum wir so aussehen, wie wir aussehen. »Anspruchsvoll und wissenschaftlich fundiert, mit alltäglichen Beispielen.« Galore

Neil Shubin, geboren 1960, ist Paläontologe und Leiter des Instituts für organische Biologie und Anatomie an der University of Chicago. Er publiziert in renommierten Fachzeitschriften wie »Nature« und »Science«. Als Expeditionsleiter birgt er Fossilien aus dem ewigen Eis. Mit der Untersuchung von Fossilienfunden mittels moderner DNA-Technologie war er an der Erschließung eines revolutionären Forschungsgebietes beteiligt. Seit 2011 ist er Mitglied der »National Academy of Science«. Shubin lebt in Chicago.

Neil Shubin, geboren 1960, ist Paläontologe und Leiter des Instituts für organische Biologie und Anatomie an der University of Chicago. Er publiziert in renommierten Fachzeitschriften wie »Nature« und »Science«. Als Expeditionsleiter birgt er Fossilien aus dem ewigen Eis. Mit der Untersuchung von Fossilienfunden mittels moderner DNA-Technologie war er an der Erschließung eines revolutionären Forschungsgebietes beteiligt. Seit 2011 ist er Mitglied der »National Academy of Science«. Shubin lebt in Chicago. Sebastian Vogel, geboren 1955 in Berlin, ist promovierter Biologe und langjähriger Übersetzer. Neben den Werken Neil Shubins hat er Bücher von Richard Dawkins, Jared Diamond, Stephen Jay Gould und Steven Pinker ins Deutsche übertragen.

2. Die Sache in den Griff bekommen


Wer einmal im anatomischen Seziersaal einer medizinischen Fakultät war, wird die Eindrücke nie mehr vergessen. Stellen wir uns vor, wir betreten einen Raum und bringen dann mehrere Monate damit zu, einen menschlichen Körper Schicht für Schicht, Organ für Organ auseinanderzunehmen, um dabei Zehntausende von Namen für die verschiedenen Körperbestandteile zu lernen.

Als ich zum ersten Mal eine Leiche sezieren sollte, stellte ich mich monatelang darauf ein: Ich versuchte mir auszumalen, was ich sehen, wie ich reagieren und was ich empfinden würde. Aber dann stellte sich heraus, dass meine Fantasien mich auf das tatsächliche Erlebnis in keiner Weise vorbereitet hatten. Der Augenblick, als wir das Laken zurückzogen und die Leiche zum ersten Mal sahen, war bei weitem nicht so belastend, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wir sollten den Brustkorb sezieren, also legten wir ihn frei, während Kopf, Arme und Beine in mit Konservierungsmittel getränktem Verbandmull eingepackt blieben. Das Gewebe sah nicht besonders menschlich aus. Die Leiche war mit mehreren Konservierungsmitteln behandelt worden und blutete nicht, als wir hineinschnitten. Haut und innere Organe hatten eine gummiähnliche Konsistenz. Mir kam der Gedanke, dass die Leiche eigentlich nicht wie ein Mensch, sondern eher wie eine Puppe aussah. Im Laufe einiger Wochen legten wir die Organe in Brust und Bauchraum frei. Langsam kam ich mir schon vor wie ein Profi: Ich hatte die meisten inneren Organe gesehen und mir wegen meiner Erfahrungen ein eitles Selbstbewusstsein zugelegt. Meine erste Sektion lag hinter mir, ich hatte meine Schnitte gesetzt und die Anatomie der wichtigsten Organe gelernt. Es war alles sehr mechanisch, abgehoben, wissenschaftlich.

Aber meine angenehmen Illusionen erhielten einen kräftigen Dämpfer, als ich mich mit der Hand beschäftigte. Ich wickelte den Verbandmull von den Fingern, sah zum ersten Mal die Gelenke, Fingerspitzen und Fingernägel – und entdeckte in mir plötzlich Gefühle, die während der vergangenen Wochen verborgen geblieben waren. Das hier war keine Puppe, kein Modell; das war einmal ein lebendiger Mensch gewesen, der mit dieser Hand Dinge getragen und andere Menschen gestreichelt hatte. Plötzlich wurde die mechanische Tätigkeit des Sezierens zu etwas zutiefst Emotionalem und Persönlichem. Bis zu diesem Augenblick war ich für meine Verbindung zu der Leiche blind gewesen. Ich hatte bereits den Magen, die Gallenblase und andere Organe herauspräpariert; aber welcher geistig gesunde Mensch empfindet beim Anblick einer Gallenblase schon Verbundenheit?

Warum erscheint uns gerade eine Hand wie der Inbegriff des Menschlichen? Auf irgendeiner Ebene muss die Antwort lauten: Die Hand steht in einer erkennbaren Verbindung zu uns selbst; sie ist ein Zeichen dafür, wer wir sind und was wir erreichen können. In diesem Gebilde aus Knochen, Nerven und Blutgefäßen liegt unsere Fähigkeit, zu greifen, zu bauen und unsere Gedanken zu verwirklichen.

Eines fällt sofort auf, wenn man das Innenleben einer Hand betrachtet: Es ist ungeheuer kompakt. Der Daumenballen, auch »Thenar« genannt, enthält vier verschiedene Muskeln. Wackeln Sie einmal mit dem Daumen und beugen Sie die Hand: Dabei arbeiten zehn Muskeln und mindestens sechs Knochen in Einklang zusammen. Im Handgelenk befinden sich mindestens acht kleine Knochen, die gegeneinander beweglich sind. Wenn wir das Handgelenk beugen, wird eine Reihe von Muskeln tätig, die im Unterarm ansetzen, und die Sehnen, in die sie übergehen, ziehen sich durch das Handgelenk bis in die Hand. Schon die einfachste Bewegung erfordert ein kompliziertes Wechselspiel zwischen vielen Einzelteilen, die alle auf engstem Raum verpackt sind.

Der Zusammenhang zwischen Komplexität und Menschsein, der sich in unseren Händen verkörpert, fasziniert die Wissenschaftler schon seit langem. Der bekannte schottische Chirurg Sir Charles Bell verfasste 1822 ein klassisches Werk über die Anatomie der Hände. Schon der Titel sagt alles: The Hand, Its Mechanism and Vital Endowments as Evincing Design (»Die Hand, ihr Mechanismus und ihre unentbehrliche Ausstattung als Zeigeinstrument«). Bell hielt den Aufbau der Hand für »vollkommen«, weil sie so komplex gebaut ist und sich ideal für unsere Lebensweise eignet. Diese perfekte Konstruktion, so glaubte er, müsse göttlichen Ursprungs sein.

Zu den führenden wissenschaftlichen Köpfen bei der Suche nach göttlicher Ordnung im Körperbau gehörte der große Anatom Sir Richard Owen. Er hatte Glück, dass er seinen Beruf Mitte des 19. Jahrhunderts ausübte, als man in abgelegenen Regionen der Erde noch ganz neue Tierarten entdecken konnte. Als die Bewohner des Abendlandes immer größere Teile der Welt erkundeten, fanden alle möglichen exotischen Lebewesen den Weg in die Labors und Museen. Owen beschrieb den ersten Gorilla, den eine Expedition aus Zentralafrika mitgebracht hatte. Er prägte den Namen »Dinosaurier« für eine neue Gruppe fossiler Tiere, die man in Gestein in England entdeckt hatte. Durch seine Untersuchung dieser bizarren Tiere gewann er ganz besondere Erkenntnisse: Vor seinen Augen kristallisierten sich in der scheinbar chaotischen Vielfalt des Lebendigen wichtige Gesetzmäßigkeiten heraus.

Owen stellte fest, dass unsere Arme und Beine, unsere Hände und Füße sich in ein größeres Schema einordnen lassen. Er erkannte, was die Anatomen auch früher schon gewusst hatten: Das Knochengerüst unserer Arme ist nach einer Gesetzmäßigkeit aufgebaut. Ein Knochen im Oberarm, zwei Knochen im Unterarm, eine Reihe kleiner Knochen im Handgelenk und dann fünf Stäbe, die die Finger bilden. Das gleiche Schema gilt auch für die Beinknochen: Ein Knochen, zwei Knochen, viele Knöchelchen, fünf Zehen. Als Owen diese Verteilung mit vielfältigen Skeletten aus der ganzen Welt verglich, machte er eine interessante Entdeckung.

Der Bauplan aller Gliedmaßen: ein Knochen, dann zwei Knochen, dann kleine Knöchelchen und schließlich Finger oder Zehen.

Owens geniale Leistung bestand darin, dass er sich nicht auf die Unterschiede zwischen den Skeletten konzentrierte. Was er entdeckte und später in einer ganzen Reihe von Vorträgen und Büchern beschrieb, war die auffällige Ähnlichkeit bei ganz unterschiedlichen Lebewesen, beispielsweise bei Fröschen und Menschen. Alle Lebewesen mit Gliedmaßen sind gleich konstruiert: ob es sich bei diesen Gliedmaßen um Flügel, Flossen oder Arme und Beine handelt, spielt keine Rolle. Immer ist ein Knochen – im Arm der Oberarmknochen, im Bein der Oberschenkelknochen – über ein Gelenk mit zwei Knochen verbunden, und an deren anderem Ende folgen mehrere kleine Knöchelchen, an denen Finger oder Zehen ansetzen. Nach diesem Schema sind alle Gliedmaßen aufgebaut. Ein Fledermausflügel? Da sind die Finger besonders lang. Ein Pferd? Da sind die Mittelfinger und die mittleren Zehen verlängert, alle anderen sind geschrumpft und die äußeren völlig verschwunden. Oder wie wäre es mit einem Froschbein? Da müssen die Beinknochen nur länger werden und teilweise verschmelzen. Die Unterschiede zwischen den Tieren betreffen die Form und Länge der Knochen sowie die Zahl der Knöchelchen, Finger und Zehen. Obwohl die Gliedmaßen ganz unterschiedliche Aufgaben haben und unterschiedlich aussehen, gilt für alle der gleiche Bauplan.

Für Owen war die Entdeckung, dass die Gliedmaßen gleich gebaut sind, nur der Anfang: Das Gleiche stellte er auch fest, als er Schädel und Wirbelsäule untersuchte, ja sogar als er sich schließlich mit dem gesamten Körperbau beschäftigte. Das Skelett aller Tiere folgt einem grundlegenden Konstruktionsprinzip. Frösche, Fledermäuse, Menschen und Eidechsen sind Variationen des gleichen Themas. Und dieses Thema, so glaubte Owen, sei der Plan des Schöpfers.

Kurz nachdem Owen diese Beobachtungen in seinem klassischen Werk On the Nature of Limbs (»Über die Natur der Gliedmaßen«) veröffentlicht hatte, lieferte Charles Darwin dafür eine elegante Erklärung. Dass die Skelette von Fledermausflügeln und Menschenarmen nach den gleichen Prinzipien gebaut sind, liegt daran, dass Fledermäuse und Menschen einen gemeinsamen Vorfahren haben. Das Gleiche gilt für die Arme der Menschen und die Flügel der Vögel, oder für unsere Beine und Froschbeine – für alle Tiere, die Gliedmaßen haben. Zwischen Owens und Darwins Theorie besteht ein entscheidender Unterschied: Mit Hilfe von Darwins Theorie können wir sehr genaue Voraussagen machen. Wir rechnen damit, dass Owens Bauplan eine Geschichte hat, die man auch bei Tieren ohne Gliedmaßen erkennen kann. Wo sollen wir also nach Spuren dieser Geschichte der Gliedmaßen suchen? Die Antwort: bei den Fischen und dem Skelett ihrer Flossen.

Den Fisch sehen

Zu Zeiten von Owen und Darwin schien zwischen Flossen und Gliedmaßen eine unüberbrückbare Kluft zu bestehen. Auf den ersten Blick haben Fischflossen keinerlei Ähnlichkeit mit Armen und Beinen. Von außen betrachtet, bestehen sie meist vor allem aus Haut. Damit haben unsere Gliedmaßen und auch die aller anderen heutigen Tiere keine Gemeinsamkeit. Und auch wenn man die Haut entfernt und die darunterliegenden Knochen betrachtet, wird der Vergleich nicht einfacher. Die meisten Fische haben nichts, was an Owens Schema »Ein Knochen – zwei Knochen – Knöchelchen – Finger« erinnern würde. Ihr ganzes Skelett sieht völlig anders aus. In der Regel befinden sich im Inneren des Flossenansatzes mindestens vier Knochen.

Aber gegen Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhren die Anatomen erstmals von rätselhaften Fischen, die auf der südlichen Erdhalbkugel lebten. Einen...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2015
Übersetzer Sebastian Vogel
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Naturwissenschaften Biologie
Technik
Schlagworte Embryo • Evolution • Fisch • Gen • Gestein • Hai • Innenohr • Knochen • Körperbau • Lebewesen • Molekül • Organismus • Paläontologie • Säugetier • Skelett • Vielzeller • Zahn
ISBN-10 3-10-403707-8 / 3104037078
ISBN-13 978-3-10-403707-3 / 9783104037073
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