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Widerspenstige Leute (eBook)

Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
414 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560239-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Widerspenstige Leute -  Norbert Schindler
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Diese Untersuchung zur Geschichte der Volkskultur in der frühen Neuzeit versammelt acht Fallstudien, die von Spitznamen und vom Karneval handeln, von Bettlern und nächtlichen Ruhestörern, von Eheanbahnungsbräuchen und harschen Rügesitten gegen ledige Frauen, vom Imponiergehabe der Reichen und von den Improvisationskünsten der Armen. Gebündelt werden sie durch die wissenschaftlichen, aber nicht wissenschaftsgläubigen Methoden einer historischen Sozialanthropologie, die das gesellschaftliche Ganze im Detail aufzuspüren, verdrängte und vergessene historische Erfahrungen am Material entlang zu verdichten, aus der Sicht der Unterdrückten zu reinterpretieren und auf diese Art und Weise das Fremde und Befremdende in der eigenen Kultur sichtbar zu machen suchen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Norbert Schindler, geb. 1950 in Chieming/Chiemsee; Studium der Politischen Wissenschaft, Germanistik, Philosophie und Geschichte in München; 1985-87 Wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin/Arbeitsschwerpunkt »Kultur und Interaktion«; 1991 Promotion an der Universität Konstanz; 2001 Habilitation an der Universität Salzburg.

Norbert Schindler, geb. 1950 in Chieming/Chiemsee; Studium der Politischen Wissenschaft, Germanistik, Philosophie und Geschichte in München; 1985–87 Wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin/Arbeitsschwerpunkt »Kultur und Interaktion«; 1991 Promotion an der Universität Konstanz; 2001 Habilitation an der Universität Salzburg.

Einleitung: Widerspenstige Leute


Auch Titelbilder haben ihre Geschichte. An der Drastik der ›Ehekriegs‹-Szene, die dem Schwankgedicht »Die Neunerley hewt eines poesen weibs« von Hans Sachs 1539 als Illustration beigegeben wurde[1], erfreute sich das Lesepublikum mehr als 200 Jahre lang, ehe man es im Laufe des 18. Jahrhunderts dann allmählich etwas unter seiner Würde fand, die Ehekonflikte so handgreiflich ausgetragen zu sehen. Geprügelt wurde in der Ehe zwar weiterhin, aber der bürgerliche Geschmack, der auf der Distanz zwischen den Menschen auch dort noch beruht, wo sie gar nicht existiert, machte sich kein Bild mehr davon. Es ist nicht ganz unwichtig zu erwähnen, daß diese Verdrängung in nuce schon bei Hans Sachs selbst, in der Diskrepanz von Bild- und Textbotschaft sichtbar wird. Sein Spruchgedicht handelt von einem rabiaten Ehemann, der ›redlich‹ bemüht ist, seiner ungehorsamen Frau die acht tierischen Häute ihrer Widerspenstigkeit abzuprügeln, bis endlich die neunte, menschliche Haut zum Vorschein kommt – und sie klein beigibt.[2] Dieser Dressurakt wird freilich nur deshalb in aller Ausführlichkeit vorgestellt, um ihn, der in den Sittenzuchten des 16. Jahrhunderts noch so beliebten Pädagogik der ›verkehrten Welt‹ gemäß, mit seinem Gegenteil, der gewaltlosen, auf vernünftiger Belehrung beruhenden und deshalb um so wirksameren Erziehung konfrontieren und ad absurdum führen zu können: »Derhalben straff dein Weib allein / Mit vernünftigen guetten wortten …«[3] Aber der Sieg, den die drakonische Illustration über den mittelständisch-moderaten Text wirkungsgeschichtlich davontrug, muß zu denken geben. Beruht nicht die Attraktivität des Bildes auf den heimlichen Gelüsten, von denen diejenigen geplagt sind, welche durch die ehelichen Bande aneinander gefesselt sind? Und fasziniert uns, denen man beigebracht hat, daß man so nicht miteinander umgeht, an der vermeintlichen Naivität der Darstellung nicht gerade die drastisch ausgemalte Durchbrechung des Tabus?

Solche Fragen nach dem, was im Prozeß der Zivilisation an elementaren Bedürfnissen verdrängt wurde und seither gleichsam unterirdisch fortschwelt, sind inner- und außerhalb der Volkskulturforschung gleichermaßen schwer zu beantworten. Leichter fällt schon die Antwort auf die Frage nach den Herrschaftsverhältnissen, die in dem Bild ihren symbolischen Niederschlag finden. Der erste Eindruck von der munteren Prügelei, deren Ausgang offen ist, täuscht – findet sich doch bei genauerem Hinsehen die eherne Geschlechterhierarchie auch und gerade im Konflikt der Parteien noch ebenso normativ wie polemisch zementiert. Nicht nur, daß die widerspenstige Ehefrau bereits zu Boden gegangen ist und an ihrem zwangsläufigen Unterliegen kein Zweifel gelassen wird: aufschlußreicher noch ist in diesem Diskurs der schlagenden Argumente die Ungleichheit der Waffen. Während sie sich des Spinnrockens bedient, also auch noch in ihrer Empörung in die Symbolik der traditionellen Hausfrauentugend gebannt bleibt, greift er in seiner Wut einfach zum nächstbesten harten Gegenstand, in diesem Fall ein Schemel. Der Begrenztheit ihres Widerstandes entspricht die Maßlosigkeit seiner Wut darüber, und das läßt am Ausgang der Kontroverse keinen Zweifel. Die Unumschränktheit der hausväterlichen Gewalt zeigt sich, wenn sie provoziert wird, und sie trägt den Sieg davon, weil sie auf das schlechte Gewissen zählen kann, das die Widerständigkeit der anderen Seite eo ipso beschränkt. Es ist nichts als das alte Lied von der Widerspenstigen Zähmung, das hier gesungen wird, und das ist natürlich eine Enttäuschung. Wo wir Einblick in die Auseinandersetzungen des wirklichen Lebens zu nehmen hofften, finden wir wieder einmal nur Klischees, vorgestanzte Rollenerwartungen, die lediglich die eine eintönige Lebensweisheit kennen, daß Auflehnung sinnlos ist und sich nicht auszahlt. Dies immer wieder zur Kenntnis nehmen zu müssen und sich damit dennoch nicht abfinden zu können und zu wollen, macht vielleicht nicht den unwichtigsten Impuls der neueren historischen Volkskulturforschung aus.

Ich habe die Interpretation des Bildes vorangestellt, um einmal mehr darauf hinzuweisen, wie schwierig es ist, die Meinungen und Auffassungen, Wert- und Wunschvorstellungen der populären Kultur aus dem uns Überlieferten herauszudestillieren.[4] Auf zwei grundlegende Schwierigkeiten sei zumindest hingewiesen: Zum einen ist die schriftliche wie auch die ikonographische Überlieferung so stark von Topoi geprägt, daß P. Münch der frühen Neuzeit mit einem gewissen Recht den »Charakter eines ›topischen‹ Zeitalters« zuspricht.[5] Zum anderen ist die Überlieferung selbst vom Gegensatz zwischen Eliten- und Volkskultur bestimmt, und aus diesem Grund bedürfen die ›Filterungen‹ und Verzerrungen, denen die popularkulturellen Gehalte im Akt ihres Aufzeichnens schon unterworfen sind, der systematischen Aufmerksamkeit. Die Probleme komplizieren sich noch weiter dadurch, daß die Träger und Vermittler der Überlieferung in der frühen Neuzeit in der Regel nicht nur der Gelehrtenkultur angehörten, sondern aufgrund ihrer sozialen Herkunft, Lebensweise usw. häufig dem Normen- und Wertesystem der populären Kultur in einer Art und Weise verpflichtet blieben, über die sie sich selbst kaum Rechenschaft ablegten.[6] Eindeutige Trennungslinien zwischen populärer und Elitenkultur sind daher kaum zu erwarten. Der Begriff ›Volkskultur‹ markiert im Hinblick auf die schriftliche Überlieferungssituation und -tradition alles andere als ein klar abgestecktes soziales Feld.

 

Angesichts dieser Schwierigkeiten mutet der Aufschwung, den die Volkskultur-Forschung in den vergangenen zehn Jahren in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht nur in den westeuropäischen Ländern, sondern auch in Osteuropa und im außereuropäischen Bereich genommen hat[7], erstaunlich an. Der Niedergang der klassischen politischen Ideologien und Weltanschauungen mag zur Verbreitung dieses Interesses seinen Teil beigetragen haben. Jedenfalls läßt sich konstatieren, daß die erheblichen methodischen und sachlichen Probleme, die sich bei der Erschließung dieses Forschungsfelds ergeben, die abschreckenden Wirkungen, die daraus hätten resultieren können, offensichtlich nicht gezeitigt haben. Ich möchte hier auf die Probleme, mit denen die historische Volkskulturforschung theoretisch und forschungspraktisch konfrontiert ist, nicht nochmals ausführlich eingehen[8], zumal sie W. Kaschuba aus eher volkskundlicher Sicht erst vor kurzem treffend zusammengefaßt hat.[9] Zudem hat P. Burke kürzlich noch einmal die Schwierigkeiten zu benennen versucht, die den Historiker sowohl beim Umgang mit dem Terminus ›Volk‹ als auch mit einem erweiterten ›Kultur‹-Begriff erwarten.[10] Ich kann mich also hier darauf beschränken, vier Problemkomplexe herauszugreifen, die meines Erachtens in den Debatten um das Konzept der Volkskultur in den letzten Jahren eine besonders wichtige Rolle gespielt haben.

 

Die Skepsis vieler Kritiker des Volkskultur-Konzepts konzentrierte sich, soweit ich sehe, vornehmlich auf die Frage, ob sich mit einem schlichten dualistischen Modell von ›Eliten‹ und ›Volk‹ die gesellschaftliche Entwicklung in der frühen Neuzeit überhaupt angemessen beschreiben läßt. Damit verbindet sich häufig der Einwand, daß der Begriff ›Volkskultur‹ eine falsche Homogenität des Sozialen suggeriere und die Widersprüche und Konflikte zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und Klassen harmonisierend verdecke. Ich habe jedoch den Eindruck, daß die Kritiker mit diesen Vorbehalten heutzutage weitgehend offene Türen einrennen. Wenn es in der neueren Volkskultur-Forschung einen theoretischen Fortschritt gibt, dann doch den, daß man sich im Unterschied zu früheren, von bürgerlich-romantischen oder volkstumsideologischen Vorstellungen geprägten Ansätzen der Fußangeln der Tradition sehr bewußt ist und die Begrifflichkeit, soweit dies irgend möglich ist, von den statischahistorischen Volks-Ideologemen der Vergangenheit freizuhalten bzw. zu befreien bemüht ist.[11] Es gilt, die bürgerliche Mythologie vom ›Volksganzen‹ aufzubrechen, die Idyllisierung der Tradition aufzuheben und die ebenso falsche wie politisch wirkungsmächtige Substanzialisierung des Volks-Begriffs in einer Art und Weise der Kritik zu unterziehen, daß der Beitrag der verschiedenen Gruppenkulturen zur Formulierung des gesamtgesellschaftlichen Konsens oder auch Dissens sichtbar gemacht werden kann. Dies erscheint mir als wesentliche Voraussetzung für eine Dynamisierung des Volkskultur-Konzepts, »die Vorstellung von der Volkskultur als einer dynamischen, nicht eingefroren in der Zeit, sondern in fortwährendem Wandel begriffen«[12]. Auf das differenzierte Instrumentarium der sozialhistorischen Gesellschaftsanalyse kann dabei ebensowenig verzichtet werden wie auf die meist sehr viel leichter zu stellende als zu beantwortende Frage nach dem Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten. Die kulturanalytische Erweiterung der Gesellschaftstheorie andererseits ist vor allem auf die gewachsene Einsicht in die »Grenzen einer Sozialgeschichte« zurückzuführen, »die die Beziehungen zwischen Kultur oder Religion und Gesellschaft lediglich als ›Überbau‹ definiert, wo doch die eigenständige gesellschaftliche Wirksamkeit symbolischer Praktiken heute außer Zweifel...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Blochziehen • Brauch • Fasnacht • Gottfried Werner • Groteske • Hans Sachs • Hegemoniespiel • Karneval • Körper • Lachkultur • Nürnberg • Rebellion • Ritual • Rügesitte • Sachbuch • Sitte • Spitzname • Volksbrauch • Volkskultur • Volkstum
ISBN-10 3-10-560239-9 / 3105602399
ISBN-13 978-3-10-560239-3 / 9783105602393
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