Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de
Von unten nach oben -  Margrit Stamm

Von unten nach oben (eBook)

Arbeiterkinder und ihre Bildungsaufstiege an das Gymnasium
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
138 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8796-3 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
21,99 inkl. MwSt
(CHF 21,45)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Schon früh lernen Kinder aus einfachen Verhältnissen, dass Intelligenz weniger wichtig ist als die soziale Herkunft. Und zwar auch dann, wenn sie überdurchschnittlich intelligent, hartnäckig und akademisch interessiert sind. Deshalb schaffen es nur wenige von ihnen an das Gymnasium und dann an die Universität. Doch warum sind einige trotz solcher Hürden dennoch erfolgreich? Die Frage nach den Erfolgsfaktoren ist das Herzstück einer empirischen Studie von Margrit Stamm. In der vorliegenden Publikation erzählt sie die Geschichten von Arbeiterkindern, die über das Gymnasium zu Aufsteigerinnen und Aufsteigern wurden, und belegt sie mit empirischen Daten. Ihre neuen Erkenntnisse zu den Erfolgsfaktoren von Bildungsaufstiegen über das Gymnasium liefern wichtige Handlungsmöglichkeiten für Schulen und Bildungspolitik, damit Chancengerechtigkeit zumindest ein wenig weiterentwickelt werden kann.

Margrit Stamm, Professorin em. für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Fribourg, ist Leiterin des von ihr gegründeten Forschungsinstituts Swiss Education mit Sitz in Aarau, das in der nationalen und internationalen Bildungsforschung in verschiedenen Ländern tätig ist. Zudem ist sie Gastprofessorin an diversen Universitäten im In- und Ausland sowie in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten von nationalen und internationalen Organisationen. Margrit Stamm ist Trägerin des internationalen Doron Preises sowie des Bildungspreises der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Einleitung


Es muss nicht jeder und jede ans Gymnasium, manche wären in einer Berufslehre besser aufgehoben. Die Berufsbildung braucht dringend leistungsstarke Jugendliche. Diese Argumentation ist richtig, doch sie gilt vor allem für solche mit praxisorientierten Begabungen, die sich weniger für akademische Inhalte begeistern können oder Matura respektive Abitur nur mit Schwierigkeiten hinkriegen. Umgekehrtes trifft für eine nahezu vergessene Gruppe zu: intellektuell begabte und akademisch interessierte Kinder aus Arbeiter- und einfach gestellten Migrantenfamilien schaffen nach wie vor selten das Gymnasium. Minoritäten hätten zwar das Potenzial für den Übertritt, bekommen aber keine angemessene Gelegenheit dazu. Empirische Daten machen dies mehr als deutlich. Haben die Eltern studiert, tun dies zwischen 70 und 88 Prozent der Kinder auch, aus Arbeiterfamilien schafft es hingegen nur knapp jedes vierte Kind. Und für gerade mal vier Prozent trifft dies zu, wenn der Vater keinen Bildungsabschluss hat (Bachsleitner et al., 2022; Kracke et al., 2018).

Dies ist der Hauptgrund, weshalb sich der Zustrom zur Akademia vor allem vom Nachwuchs gut situierter Familien nährt. Gymnasium und Universität sind weitgehend das Privileg der Schichten geblieben, die schon akademisch gebildet sind. Deshalb geht unserer Gesellschaft jedes Jahr ein beachtliches Reservoir an intellektuellem Potenzial begabter Minoritäten verloren. Nicht der Grips spielt die Hauptrolle, wer es ans Gymnasium schafft und wer eine Berufslehre absolviert. Es ist vor allem die soziale Herkunft. Selbstverständlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, um zusätzliche allgemeinbildende Abschlüsse zu erwerben, wenn der Übertritt ans Gymnasium nicht gelingt. Die Durchlässigkeit unserer Bildungssysteme ermöglicht – wer sie denn überhaupt nutzt – auch spätere Bildungsaufstiege. In diesem Buch geht es jedoch allein um die Dynamiken sozialer Ungleichheiten beim Übertritt ans Gymnasium.

Tatsache ist, dass Kinder aus gut situierten und bildungsambitionierten Familien viel private Unterstützung bei der Leistungsoptimierung bekommen und zwar ab dem Schuleintritt. Damit einher gehen Beschwerdeverfahren ihrer Eltern gegenüber der Schule, sobald der Übertritt ans Gymnasium gefährdet ist. Dahinter steckt ein Gerechtigkeitsproblem. Das meritokratische Versprechen, wonach die individuelle Leistung den Status und den Erfolg einer Person bestimmt, ist bis heute ein Ideal geblieben. Die Distanz zur Realität ist beträchtlich.

Doch, was sind das für Kinder aus einfach gestellten Familien, die allen Widrigkeiten zum Trotz die Barrieren überwinden, das Gymnasium besuchen und einen akademischen Weg einschlagen? Das Beispiel einer Ausnahmeerscheinung ist Peter (FS1 11), ein 13-jähriger Gymnasiast, von dem alle sagen, er sei ein helles Bürschchen. Die Mutter arbeitet als Küchenhilfe in einem Altenheim, der Vater als ungelernter Mitarbeiter bei der Post. Peter gehört zu den sogenannten Arbeiterkindern. Das Geld der fünfköpfigen Familie reicht knapp zum Leben, keiner der Verwandten hat Abitur. Bücher als Bildungskapital, Theater- oder Bibliotheksbesuche? Fehlanzeige. Aufstieg nach oben? Fast unmöglich, denn Vater und Mutter sind strikt gegen das Gymnasium. Und auch die Grundschullehrerin rät Peter eher ab, weil ihm »die Eltern ja eh nicht helfen können«. Doch Peter schafft den Übertritt. Die stärkste Unterstützung bekommt er vom Leiter der Jungscharabteilung, die er seit vier Jahren besucht. Dieser Leiter wird zu seinem Coach und sozusagen zu einem Identifikationsmodell. Er stammt ebenfalls aus einer Arbeiterfamilie und besuchte das Gymnasium. Nach dem Abitur absolvierte er ein sozialwissenschaftliches Studium an der Universität. Zwar ist Peter am Gymnasium ein Sonderfall, denn die meisten Mitschülerinnen und Mitschüler stammen aus bildungsnahen Familien. Aber auch in dieser Hinsicht kann er von seinem Coach profitieren und lernen, in den beiden Welten von Familie und Gymnasium zu leben. Und er lernt auch, mit den unterschiedlichen Werten umzugehen und klarzukommen.

Schieflagen des Bildungssystems


Jedes Kind sollte unabhängig von seiner sozialen Herkunft die gleichen schulischen Startchancen haben. Gemeint sind damit die gleichen Lernvoraussetzungen bei der Einschulung wie bei den nachfolgenden Übergängen im Bildungssystem. Doch diese Bedingungen sind in allen deutschsprachigen Staaten nicht erfüllt (Baumert, 2011; Blossfeld et al., 2017; Dlabac et al., 2021). »Die Ungleichheit fällt nicht vom Himmel«, schreibt Wolfgang Böttcher (2020, S. 42). Die Schule sei quasi programmatisch, auf die Ausklammerung der sozialen Herkunft der Kinder verpflichtet:

»Wenn alle gleich zu behandeln sind, verlieren die Effekte, die aus dem Einfluss der Herkunftsfamilien zu erklären sind, an Bedeutung. Selbst wenn Lehrerinnen und Lehrer während des Studiums von herkunftsbedingter Sozialisation gehört haben, dürften gute oder besondere Leistungen ihnen als ›Begabung‹ oder ›Talent‹ der Kinder erscheinen. Können und Wissen erscheinen als natürliche Eigenschaften, nicht als Ergebnisse von anregenden Lebensumständen, wie Defizite als Mängel an natürlicher Ausstattung und nicht als Mangel der sozialen Umstände erscheinen.«

Tatsache ist, dass sich Kinder schon vor dem Eintritt in den Bildungsraum nach sozialer Herkunft unterscheiden. Solche aus bildungsaffinen Elternhäusern werden besonders gezielt und umfassend gefördert, weshalb sie einen Habitus entwickeln können, der den schulischen und gesellschaftlichen Standards entspricht. Der Habitus beschreibt das, was notwendig ist und – wenn auch unausgesprochen und manchmal unbeabsichtigt – gefordert wird, um bildungserfolgreich zu werden. Darum starten solche Heranwachsende ihre Bildungslaufbahn mit deutlich besseren Lernvoraussetzungen als Arbeiterkinder (zusammenfassend Stamm, 2016a; 2019). Wer Vorteile mit ins Bildungssystem bringt, hat auch im nächsten Bildungsabschnitt Vorteile. Darum vergrößern sich soziale Unterschiede von Bildungschancen ab Beginn des Schuleintritts von Stufe zu Stufe (Becker & Schoch, 2018).

Wenige Parameter genügen, damit Arbeiterkinder beim Übertritt ans Gymnasium schlechtere Karten haben. Neben der vorausgesetzten Elternunterstützung bei den Hausaufgaben sind es vor allem die familiären Förderressourcen sowie die externe Lernunterstützung. Dazu kommen das selbstbewusste Auftreten höher gebildeter Eltern und ihre Beschwerdeaffinität. Eine Freiburger Studie von Franz Baeriswyl und seinem Team weist zudem nach, dass Akademikereltern ihre Kinder eher überschätzen, währendem für Arbeitereltern das Gegenteil zutrifft (Maaz et al., 2011). Sie attestieren ihren Kindern bei vergleichbaren Fähigkeiten geringere Begabungen und empfinden die schlechtere Beurteilung der Lehrpersonen nicht als ungerecht. Solche Störfaktoren schwächen die Qualität jedes Übertrittsverfahrens. In Kantonen respektive Bundesländern mit einem großen Mitspracherecht der Eltern ist die soziale Selektivität beim Übertritt größer als dort, wo die Schule den Entscheid allein fällt oder er auf einer Aufnahmeprüfung basiert.

Der Übertritt ans Gymnasium gilt als die Selektionsschwelle auf dem Weg von unten nach oben. Es ist deshalb mehr als einseitig, das Augenmerk erst ab dem Abitur oder dem Studium auf Bildungsaufstiege zu richten. Die Hürden setzten beim Schuleintritt ein und werden beim Übertritt ans Gymnasium noch höher.

Arbeiterkinder auf den Radar!


Geht es um Bildungsbenachteiligung, werden einheimische Arbeiterkinder vernachlässigt. Im Gegensatz zu jungen Migrantinnen und Migranten, die heute das Zentrum des Themas Bildungsaufstieg bilden, sind Arbeiterkinder in den letzten Jahren – mit einigen Ausnahmen wie das Projekt »arbeiterkind.de«– vom Radar verschwunden. Um nicht falsch verstanden zu werden: Der Fokus auf begabte, benachteiligte junge Menschen aus Migrationsfamilien ist mehr als berechtigt, weil er uns viele neue Erkenntnisse ermöglicht und wichtige Praxisprojekte angeregt hat (Stamm, 2010; 2021; Stamm et al., 2014). Trotzdem ist die Einseitigkeit bemerkenswert,...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8796-1 / 3779987961
ISBN-13 978-3-7799-8796-3 / 9783779987963
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Was Eltern und Pädagogen wissen müssen

von Christiane Arens-Wiebel

eBook Download (2023)
Kohlhammer Verlag
CHF 29,95
Was Eltern und Pädagogen wissen müssen

von Christiane Arens-Wiebel

eBook Download (2023)
Kohlhammer Verlag
CHF 29,95