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Bildungsteilhabe - Flucht - Digitalisierung -

Bildungsteilhabe - Flucht - Digitalisierung (eBook)

Eine multilokale Ethnografie im (digitalen) Alltag junger Geflüchteter
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
268 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8725-3 (ISBN)
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Mit Blick auf den vermehrten Einbezug digitaler Medien in Bildungsprozesse wird die Frage aufgeworfen, inwiefern jene einen Beitrag zu Bildungsteilhabe leisten können. In besonderem Maße betrifft dieses Verhältnis junge geflüchtete Menschen, denen sich durch digitale Medien auf einer niedrigschwelligen Ebene neue Lern- und Bildungschancen eröffnen sollen. Dass sich eine entsprechende Wirkung digitaler Medien entfaltet, ist jedoch keinesfalls umstandslos vorauszusetzen, sondern bedarf einer eingehenden Betrachtung in Hinblick auf Potenziale und Herausforderungen digitalisierter Bildungsarrangements in formalen, non-formalen und informellen Bildungsbereichen.

Nadia Kutscher ist Professorin für Erziehungshilfe und Soziale Arbeit an der Universität zu Köln.

Method(-olog-)ische Aspekte der Erforschung von Bildungsteilhabe unter der Beteiligung digitaler Medien


Michi S. Fujii & Nadia Kutscher

Dieser Beitrag stellt die methodologische und methodische Verortung der BIGEDIB-Studie dar.11 Im Folgenden werden die theoretischen Annahmen, an denen sich die Forschung im Rahmen dieser Studie orientierte (vgl. Cloos/Schulz 2011, S. 242), ausgehend von dem Ziel der Studie, bildungsteilhaberelevante Bedingungen digitalisierter Bildungsarrangements im Alltag junger Geflüchteter zu rekonstruieren, erläutert. Die Untersuchung erforderte angesichts des komplexen Gegenstands einen möglichst offenen erkenntnistheoretischen Zugang. Vor diesem Hintergrund wurde eine praxistheoretische Perspektive gewählt, die im Rahmen einer multilokalen Ethnografie verortet wurde. Gemäß dieser Perspektive steht in der Beobachtung und Teilnahme über unterschiedliche Lokalitäten hinweg das sich in Situationen Ereignende im Fokus. Dabei werden auch die jeweiligen Forschungsgegenstände, an die ein spezifisches Sozialitätsverständnis herangetragen wird, praxistheoretisch perspektiviert. Die vorliegende Studie orientierte sich in ihrem Zugang und Auswertungsvorgehen an der Grounded Theory Methodology nach Strauss und Corbin (1996) unter Erweiterung durch den Ansatz der Situationsanalyse nach Clarke, Friese und Washburn (2018).

1.Ein praxistheoretischer Zugang zur Erforschung bildungsteilhaberelevanter Bedingungen


Das Anliegen der BIGEDIB-Studie, bildungsteilhaberelevante Bedingungen digitalisierter Bildungsarrangements im Alltag junger Geflüchteter zu rekonstruieren, erforderte eine offene Perspektive auf soziale Zusammenhänge, um das komplexe Zusammenspiel von menschlichen Akteur*innen, digitalen Medien und weiteren Artefakten in unterschiedlichen (institutionellen) Arrangements zu berücksichtigen und damit eine Praxis zu untersuchen, die dadurch erst hervorgebracht wird und sich sowohl als bildungsteilhabeermöglichend als auch -einschränkend gestalten kann.12 Dabei werden neben der ‚bewussten‘ und intendierten Nutzung digitaler Medien auch die alltäglichen, oftmals impliziten Impulse, die die verschiedenen Beteiligten – Menschen und Artefakte – in der Praxis setzen und insofern auch die Bedeutungen digitaler Medien und deren ‚Wirkungsweisen‘ am sozialen Geschehen in den Fokus gerückt. Vor diesem Hintergrund geht es somit nicht um sozial- oder auch technikdeterministische Perspektiven wie z.B. eine Fokussierung auf subjektive Deutungen einzelner menschlicher Akteur*innen (zu digitalen Medien) oder eine eingrenzende Perspektive auf ‚Personen, die etwas mit Medien machen‘. Der Zugang, alle Beteiligten gleichermaßen in den Blick zu nehmen, ermöglicht die Erforschung der Hervorbringung und ‚Wirkung‘ von Bedingungen für Bildungsteilhabe unabhängig von spezifisch subjektiven Deutungen, mit einem ‚Blick auf das Ganze‘, auf Zusammenhänge und Verwobenheiten, Brüche und Widersprüche zwischen Kontext, Beteiligten an der jeweiligen Praxis und dem, was daraus entsteht.

Als besonders gewinnbringend erweist sich hier die neo-praxeologische Perspektive auf das Geschehen von Praxis (vgl. Bollig 2013; Reckwitz 2003; Schatzki 2016). Dabei steht im Mittelpunkt die Annahme, dass alle an sozialen Phänomenen Beteiligten (Menschen, Artefakte, Institutionen und ihre Rahmenbedingungen etc.) diese Phänomene in ihrem Zusammenwirken gemeinsam bzw. verteilt hervorbringen. Vor diesem Hintergrund wird der Stellenwert von Artefakten (und damit digitalen Medien) explizit berücksichtigt. So wird von ‚in‘ den digitalen Medien eingelagerten Logiken bzw. „Gebrauchssuggestionen“ (Hirschauer 2016, S. 52, Herv. i. Orig.) oder auch Affordanzen (vgl. Gibson 1979; Zillien 2008) ausgegangen, mit denen ‚Aufforderungen‘ bzw. ‚Angebote‘, die sich aus der materiellen Beschaffenheit von Objekten ergeben, gemeint sind, die die jeweiligen zu beobachtenden Aktivitäten (mit) konstituieren, erleichtern, nahelegen, stören oder gar einschränken bzw. verhindern, ohne sie jedoch festlegend zu bestimmen. Die analytische Stärke des „Beobachtungskonstrukt[s]“ (Alkemeyer/Buschmann 2016, S. 117) bzw. „Beobachterschema[s]“ (Hirschauer 2016, S. 60) dieser Praxistheorien liegt dabei in der konzeptuellen Offenheit ihres Vokabulars, mit dem das oben genannte Erkenntnisinteresse bearbeitet werden kann, ohne dass ausgeprägte theoretische Vorannahmen an die beforschten Gegenstände bzw. Akteur*innen herangetragen werden (vgl. Schäfer 2016, S. 14). So können mit diesem Zugang Phänomene wie Aneignung, Vermittlung, Lernen, oder Reflexion in Form von Praktiken sichtbar gemacht und auf ihre impliziten, regelhaften Anteile hin befragt sowie u.a. auch Diskrepanzen zwischen mit den Begriffen verbundenen Programmatiken und dem jeweils in der Praxis Vollzogenen herausgearbeitet werden (vgl. Bittner/Budde 2018, S. 33). Es verschiebt sich insofern der Fokus unter einer Dezentrierung der Subjekte von ihren sinnhaften Zuschreibungen oder Orientierungen und richtet sich auf das in den Situationen von menschlichen Akteur*innen, Artefakten und Arrangements performativ Hervorgebrachte und die damit verbundenen Phänomene, in diesem Fall: Möglichkeiten der Bildungsteilhabe unter Beteiligung digitaler Medien im Alltag von jungen Geflüchteten. Ein Anspruch für das weitere method(-olog-)ische Vorgehen lautet daher: „Akteure sind zu dezentrieren, Artefakte und Techniken ernster und sprachlich verfügbares Wissen weniger ernst zu nehmen, Einverleibungen und Körperperformanzen zu beobachten“ (Lengersdorf 2015, S. 177).

Mit Blick auf das praxistheoretische ‚Grundvokabular‘ der BIGEDIB-Studie wird ‚das Soziale‘ anhand von Begriffen wie „Praxis“ und „Praktiken“ beschrieben. Praktiken werden dabei als fundamental soziales und zirkulierendes Repertoire an „Kulturtechniken“ (Reckwitz 2010, S. 190) verstanden, welches die Gesamtheit der Gesellschaft abbildet. Sie sind intelligibel, also von außen für andere verstehbar, da sie ein typisiertes und routiniertes Bündel an körperlich ‚aufgeführten‘ Aktivitäten darstellen (vgl. Reckwitz 2003, S. 289), in denen sich Sinn bildet und artikuliert wird (vgl. Bollig/Kelle 2014, S. 271). Praktiken werden in ihrem Sozialitätsverständnis insofern von „Handlungen“ unterschieden bzw. davon abgegrenzt, da Praktiken das menschliche Tun auf routinisiertes, implizites, meist nicht weiter reflektiertes und kollektiv geteiltes Wissen zurückführen. Demgegenüber werden Handlungen oftmals als Ausführungen von Entscheidungen und individuellen Plänen souveräner Akteur*innen konzipiert (vgl. Hirschauer 2017, S. 91) und sind besonders mit Intentionen der Subjekte verknüpft. Praktiken vollziehen sich in der Praxis, welche den kontingenten Ablauf bzw. Strom des körperlichen Aufführungs- bzw. Vollzugsgeschehens sämtlich möglicher Lebenstätigkeiten darstellt (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2017, S. 271 f.). Als verkörperte Routinen stellt dabei nicht jedes menschliche Tun eine Praktik dar. Analytisch und zugleich idealtypisch wird vielmehr das Spektrum der sozial-gesellschaftlichen Vollzüge differenziert betrachtet. So werden isolierte, einzelne Körperbewegungen nicht als Praktiken, sondern als „Aktivitäten“ bezeichnet (vgl. Lengersdorf 2015, S. 189). Diese Einzelereignisse konstituieren jedoch „als folgenreiche Bewegungen von Körpern, Sprache und/oder Artefakten“ (Budde 2020, S. 63) wiederum Praktiken und sind beobachtbare Oberflächenphänomene, die zu Praktiken in einer spezifischen Art und Weise organisiert bzw. miteinander verknüpft werden und damit über das individuelle Tun einzelner hinausgehen (vgl. Schatzki 2012, S. 13), sodass sie über die jeweiligen Situationen hinweg (und auch vor diesen) bestehen und auch gleichermaßen in anderen Situationen Sinn ergeben (vgl. Lengersdorf 2015, S. 190; Ricken 2019, S. 36). Praxis wiederum stellt in diesem Zusammenhang ein nicht vorhersehbares Wechselspiel menschlichen Tuns dar, in dem sich Praktiken als regelmäßige und übersituative Hervorbringungen ereignen (vgl. Asmussen 2020, S. 48). Der Vollzug dieser beiden Modalitäten des Sozialen ist grundsätzlich materiell geprägt, da eine Angewiesenheit...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8725-2 / 3779987252
ISBN-13 978-3-7799-8725-3 / 9783779987253
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