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Queer Theorie - Queer_Pädagogik -  Antke A. Engel

Queer Theorie - Queer_Pädagogik (eBook)

Eine Einführung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
182 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8454-2 (ISBN)
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Queer Theorie eröffnet einen Zugang zur Welt, der sich an Komplexität und Vieldeutigem erfreut. Begehren ist zugleich Analysebegriff und Wunsch nach Veränderung. Aus intersektionaler Kritik an Heteronormativität erwächst die Anerkennung vielfa?ltiger Geschlechter und Sexualita?ten. Zwar ist LSBTIA+ eine vereinfachte Formel kollektiver Ermächtigung, doch verbunden mit queerer Identita?ts- und Herrschaftskritik speist sie Queer Theorie/Studies, die auf planetarische Gerechtigkeit abzielen. Dies erfordert Queering und Ver_Lernen - auch auf Seiten der Lehrenden. Im Dialog mit drei Lernvideos entwirft dieses Buch eine Einfu?hrung in Queer Theorie und reflektiert zugleich pa?dagogische Praxis.

Antke Antek (Antkek) Engel (Dr. phil., kein Pronomen/ens/they) leitet das Institut für Queer Theory (iQt) in Berlin und ist auf Gastprofessuren sowie freiberuflich in Wissenschaft und Kulturproduktion tätig. Engel hat 2001 an der Universität Potsdam in Philosophie mit einer Arbeit zu queerer Repräsentationskritik und der Strategie der VerUneindeutigung promoviert. Das von Engel begründete Konzept der Queerversität dient als philosophische Orientierung in sozialer und kultureller Praxis, Pädagogik und Politik/-beratung.

2.2Denaturalisierung von Geschlecht, Sexualität und Begehren


Wieso ist – zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in bestimmten Teilen der Welt – die Auffassung entstanden, dass es zwei und nur zwei Geschlechter gibt, die sich üblicherweise (heißt dies: natürlicherweise?, gesunderweise?, praktischerweise?) in ‚gegengeschlechtlichen‘ Paaren zusammenfinden (vgl. Rubin, 2006, i. O. 1975; Hausen, 1976; Honegger, 1991; Klöppel, 2010)? Wie lässt sich erklären, dass sich diese Auffassung seit Ende des 20. Jahrhunderts verändert, sodass heute geschlechtliche und sexuelle Vielfalt z. B. Teil der UN-Politik sind (vgl. Bartel et al., 2008; Walgenbach, 2015; Baumgartinger, 2017; de Silva, 2018; Engel, 2021)? Ein entscheidendes Anliegen der Queer Theorie besteht darin, die Naturgegebenheit von Zwei-Geschlechter-Ordnung und Heterosexualität infrage zu stellen. Mit dem Ziel der Denaturalisierung kommen diskurstheoretische und konstruktivistische Argumente zum Einsatz. Erklärt wird die Hervorbringung (Konstruktion) von Geschlecht, Sexualität und Natur durch historisch sich wandelnde Diskurse, verfügbares Wissen sowie materielle und technologische Bedingungen. So hat sich z. B. mit Einführung des Ultraschalls in der Medizin nicht nur das Verständnis, sondern auch das Erleben von Schwangerschaft verändert (vgl. Duden, 2002). Eine weitere Veränderung hat eingesetzt, als die ersten Mediendiskurse über schwangere und gebärende Männer (d. h. über selbst-identifizierte und/oder personenstandsrechtlich als männlich registrierte Personen) und nonbinäre Personen publik wurden.11 Es entsteht eine neue soziale Praxis (vgl. Schlegel, 2019), die – vermittelt durch Medien – auch die kulturell verfügbaren Auffassungen von Geschlecht verschiebt. Angesichts dessen, dass eine lang etablierte Vorstellung die Familie zur Keimzelle des Staates erklärt, sind feministische und queere Kritik an Verwandtschafts- und Familienformen ein wichtiges Themenfeld, nicht nur um Lebensmöglichkeiten der Einzelnen zu verändern, sondern um die heteronormativen Vorannahmen des Politischen anzufechten (vgl. Eng, 2010; Mesquita, 2012; Ludwig, 2012; Nay, 2017).

Die biologische Reproduktion unterliegt also politischen Bedingungen (vgl. Voß, 2011). Paul Preciado weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass neben Sexismus auch Kolonialismus und Kapitalismus die Bevölkerungspolitiken und sozial gelebte Reproduktion prägen:

„Homosexualität, Heterosexualität, Intersexualität und Transsexualität gibt es nicht jenseits einer kolonialistischen und kapitalistischen Epistemologie, die bestimmte sexuelle Reproduktionspraktiken als Strategie des Bevölkerungsmanagements, der Reproduktion der Arbeit, aber auch der konsumierenden Bevölkerung privilegiert. Es ist das Kapital, das sich reproduziert, nicht das Leben“ (Preciado, 2020, S. 29).

Den Gedanken der Denaturalisierung zuspitzend schreibt Preciado:

„Aber die haploiden Zellen treffen nie zufällig aufeinander. Alle menschlichen Tiere pflanzen sich in politisch unterstützter Form fort. Fortpflanzung beruht stets auf der Kollektivierung des Genmaterials eines Körpers im Zuge einer mehr oder weniger regulierten sozialen Praxis“ (ebd., S. 61).

Videoausschnitt: Welten 03:50–05:32

Im Dialog der drei Protagonens wird Heteronormativität erklärt, indem der Zusammenhang mit Reproduktion und Klassenverhältnissen thematisiert wird. Zacken_Welle macht zudem deutlich, wie kapitalistische Globalisierung dazu beiträgt, heteronormative Familienverhältnisse aufrecht zu erhalten, aber auch zu verändern. Kugel wirft zwischendurch die Frage auf, ob es einen Unterschied zwischen Hetero- und Regenbogenfamilien gibt. Ens beantwortet die Frage selbst mit „Nein“, indem ens sich aus der Paarkonstellation mit Kegel löst und Zacken_Welle ins Gespräch einlädt.

Reflexionsfrage:

Welcher Zusammenhang besteht zwischen (Hetero-)Sexismus, Kolonialismus und dem Thema der Reproduktion?

Den Gedanken der Regulierung von Geschlecht entwickelt Butler unter der Überschrift Gender-Regulierungen in Die Macht der Geschlechternormen (2011, i. O. Undoing Gender, 2004a). In einer gekürzten deutschsprachigen Version des entsprechenden Kapitels heißt es: „Die Regulierung operiert durch Normen. Daher werden diese zu Schlüsselmomenten, in denen die Idealität der Norm wiederhergestellt und ihre Geschichtlichkeit und Verletzlichkeit zeitweise außer Kraft gesetzt wird“ (Butler, 2004b, S. 55). Das Außer-Kraft-Setzen der Geschichtlichkeit kann z. B. dadurch erfolgen, dass etwas, z. B. ein Kinderwunsch, als naturgegeben behauptet wird. Deshalb sei es, so Butler, wichtig zu analysieren, dass in diesem Falle Normen am Wirken sind, ja das Gender selbst eine Norm sei, die regulierend wirke (vgl. ebd., S. 46) und nicht lediglich durch Normen reguliert werde (vgl. ebd., S. 43 f.). Der Kinderwunsch wird also durch Gender-Normen geformt; aber sich historisch verändernde Normen können dann auch den Kinderwunsch eines schwulen Paares begründen und normalisieren.

Entscheidend ist gemäß Butlers Sicht, dass sich in der Norm Wissen und Werte mit sozialen Praxen und Institutionen verbinden (vgl. ebd.; vgl. a. Degele, 2005; Bergold-Caldwell, 2020). Damit kann auch Veränderung von all diesen Bereichen ausgehen. In Körper von Gewicht (1995) erklärt Butler die fortwährende Wiederherstellung, aber auch die Veränderung der Geschlechter- und Sexualitätsnormen mittels dem Konzept der Performativität „als die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt“ (ebd., S. 22). Demnach vollzieht sich die soziale Einsetzung der Normen durch deren Wiederholung (eine Idee, die sich auch im Doing Gender findet, s. Kap. 3). Da jedoch keine Wiederholung exakt ist, können sich durch – ungewolltes oder gezieltes – Misslingen Perspektiven der Veränderung eröffnen (s. Kap. 4).

Um die Wirkungsweisen der Norm zu verstehen, ist eine Machtanalyse nötig, für die sich Butler wie viele andere Queer-Theoretikens auf Michel Foucault bezieht. Foucault gilt als besonders interessant, weil ens die These vom produktiven Zusammenspiel von Diskurs und Macht entlang der Sexualitätsverständnisse der westlichen Moderne und der sogenannten Repressionshypothese der sexuellen Befreiungsbewegungen der 1960/1970er Jahre aufgestellt hat (vgl. Foucault, 2012). Demnach entfalten historische Macht/Wissen-Regimes (Dispositive) produktive Macht, indem sie vermittelt durch gesellschaftliche Diskurse die Entwicklung von Körpern, Identitäten und Begehren an den jeweils aktuell relevanten Normen ausrichten; ein Prozess, den Foucault als Subjektivierung bezeichnet. Butler erklärt in Körper von Gewicht (1997a) ausführlich den Zusammenhang von diskursiver Macht und sozialer Konstruktion (vgl. ebd., Einleitung).12

Hier knüpft Nina Degele (2005) an, wenn ens vier Dimensionen der Normierung von Geschlecht herausarbeitet (neben Naturalisierung auch Unbewusstheit, Institutionalisierung in Strukturen, Reduktion von Komplexität) und darüber hinaus demonstriert, wie Heteronormativitätskritik (konkret bezogen auf Schönheitshandeln und Geschlechter in Anzügen) in qualitative empirische Sozialforschung übersetzt werden kann. Ebenfalls empirisch fundiert und methodologisch reflektiert nutzt Denise Bergold-Caldwell (2020) Foucault, um zu zeigen, wie durch (informelle und kollektiv getragene) Bildungsprozesse aus rassistischen und sexistischen Subjektivierungserfahrungen ein Subjektstatus Schwarzer Weiblichkeit erwachsen kann. Hierbei ist besonders interessant, wie Bergold-Caldwell die ambivalente Rolle des Begehrens in diesen Prozessen hervorhebt: Begehren, das in sozialen Ordnungen hervorgebracht wird, diese aber auch verändern kann (vgl. Bergold-Caldwell, 2020, S. 161 ff.; s. Kap. 3.8).

...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8454-7 / 3779984547
ISBN-13 978-3-7799-8454-2 / 9783779984542
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