Seneca - Epistulae morales ad Lucilium - Liber XX Epistulae CXVIII-CXXIV (eBook)
108 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-4019-9 (ISBN)
Der Autor Michael Weischede hat Geschichte an der Ruhruniversität in Bochum studiert und arbeitet zurzeit als freier Schriftsteller in Dortmund.
Buch 20 – Brief 118
Seneca grüßt seinen Lucilius,
(1) Du wünschst, öfter Briefe von mir [zu erhalten]. Lass uns eine Übersicht zusammenstellen: du dürftest nicht [alles] zurückgezahlt haben. Es war ja vereinbart, dass deine [Briefe] die vorangehenden sein sollten: du solltest schreiben, ich antworten. Aber ich werde nicht ärgerlich sein: ich weiß, dass es sicher ist, dir Kredit zu gewähren. Daher werde ich im Voraus zahlen und nicht das tun, was Cicero, der so ausdrucksstarke Mann, Atticus zu tun hieß, dass er nämlich, „selbst wenn er keinen Gesprächsstoff hat, schreiben sollte, was ihm in den Sinn kommt."
(2) Nie kann es an dem fehlen, über das ich schreiben könnte, selbst wenn ich all jenes, das die Briefe Ciceros anfüllt, überginge: welcher Amtsbewerber sich in bedrängter Lage befand; wer mit fremden, wer mit eigenen Mitteln kämpfte; wer das Konsulat im Vertrauen auf Cäsar erstrebte, wer auf Pompeius, wer auf seine Geldkiste; wie hartherzig Caecilius war, der Geldverleiher, von dem [selbst] die Verwandten keinen Sesterz für weniger als ein Prozent herauskriegen konnten. Es ist besser, seine eigenen Laster zu erörtern als die der anderen, sich gründlich zu prüfen und zu erkennen, dass zahlreiche Geschäftsinteressen typisch für einen Bewerber sind, und sich überdies nicht selbst die Stimme zu geben.
(3) Hoc est, mi Lucili, egregium, hoc securum ac liberum, nihil petere et tota fortunae comitia transire. Quam putas esse iucundum tribubus vocatis, cum candidati in templis suis pendeant et alius nummos pronuntiet, alius per sequestrem agat, alius eorum manus osculis conterat quibus designatus contingendam manum negaturus est, omnes attoniti vocem praeconis expectent, stare otiosum et spectare illas nundinas nec ementem quicquam nec vendentem?
(4) Quanto hic maiore gaudio fruitur qui non praetoria aut consularia comitia securus intuetur, sed magna illa in quibus alii honores anniversarios petunt, alii perpetuas potestates, alii bellorum eventus prosperos triumphosque, alii divitias, alii matrimonia ac liberos, alii salutem suam suorumque! Quanti animi res est solum nihil petere, nulli supplicare, et dicere: 'Nihil mihi tecum, fortuna; non facio mei tibi copiam. Scio apud te Catones repelli, Vatinios fieri. Nihil rogo.' Hoc est privatam facere fortunam.
(5) Licet ergo haec in vicem scribere et hanc semper integram egerere materiam circumspicientibus tot milia hominum inquieta, qui ut aliquid pestiferi consequantur per mala nituntur in malum petuntque mox fugienda aut etiam fastidienda.
(3) Dies hier ist ehrenvoll, mein Lucilius, dies hier gefahrlos und befreiend: nichts anzustreben und all die vom Glück abhängigen Wahlversammlungen nicht wahrzunehmen. Stell dir vor, wie angenehm es ist – während sich die Kandidaten nach Einladung vom Wahlbezirk voller Ungewissheit in ihren abgegrenzten Feldern aufhalten, und der eine Geldstücke verspricht, der andere für eine Mittelsperson handelt, wieder ein anderer die Hand derer wund küsst, denen er nach seiner Ernennung abschlagen wird, ihm die Hand zu geben, [während] alle voller Spannung den Ausruf des Herolds erwarten – sorglos dazustehen und jenes Geschacher dort zu betrachten und dabei weder irgendetwas zu kaufen noch zu verkaufen?
(4) Wie viel mehr Freude empfindet einer, der nicht nur unbekümmert auf die Wahlen für das Amt des Prätors oder des Konsuls blickt, sondern auch auf jene umfangreichen [Wahlen], bei denen die einen jährliche Ehrenämter anstreben, die anderen lebenslange Stellungen, die einen den erfolgreichen Ausgang des Krieges und Triumphzüge, die anderen Reichtum, die einen Ehefrauen und Kinder, die anderen Gesundheit für sich und die Ihren! Welch großen Geistes Tat ist es, allein nichts zu erstreben, niemanden anzuflehen, und zu sagen: „Nichts habe ich mit dir zu schaffen, Schicksal; ich gewähre dir keine Macht über mich. Ich weiß, dass in deiner Gegenwart ein Cato abgewiesen, ein Vatinius erwählt wird. Um nichts bitte ich." Das heißt, sein Glück als Privatmann zu machen.
(5) Wir dürfen uns solches also gegenseitig schreiben und dieses immer frische Thema fortsetzen, da wir viele tausend ruhelose Menschen um uns herum erblicken, die sich, um etwas Verderbliches zu erlangen, durch Übles hindurch ins Übel stürzen und Dinge erstreben, denen man bald darauf entfliehen, oder die man doch wenigstens zurückweisen muss.
(6) Cui enim adsecuto satis fuit quod optanti nimium videbatur? Non est, ut existimant homines, avida felicitas sed pusilla; itaque neminem satiat. Tu ista credis excelsa quia longe ab illis iaces; ei vero qui ad illa peruenit humilia sunt. Mentior nisi adhuc quaerit escendere: istud quod tu summum putas gradus est.
(7) Omnes autem male habet ignorantia veri. Tamquam ad bona feruntur decepti rumoribus, deinde mala esse aut inania aut minora quam speraverint adepti ac multa passi vident; maiorque pars miratur ex interuallo fallentia, et vulgo bona pro magnis sunt.
(8) Hoc ne nobis quoque eveniat, quaeramus quid sit bonum. Varia eius interpretatio fuit, alius illud aliter expressit. Quidam ita finiunt: 'Bonum est quod inuitat animos, quod ad se vocat.' Huic statim opponitur: quid si invitat quidem sed in perniciem? Scis quam multa mala blanda sint. Verum et veri simile inter se differunt. Ita quod bonum est vero iungitur; non est enim bonum nisi verum est. At quod invitat ad se et adlicefacit veri simile est: subrepit, sollicitat, adtrahit.
(6) Wem nämlich war das Erreichte ausreichend? Das, als man es [noch] wünschte, jedes Maß zu überschreiten schien? Das Glück ist nicht unmäßig, wie es die Menschen erwarten, sondern unerheblich; daher befriedigt es niemanden. Du hältst diese Dinge für emporragend, weil du weit von ihnen daniederliegst; für den jedoch, der zu ihnen hingelangt ist, sind sie unbedeutend. Ich wäre ein Lügner, [wenn ich behaupten würde], dass er nicht immer noch darauf sinnt emporzusteigen: das, was du für das Höchste hältst, ist [nur] eine Stufe.
(7) Die Unkenntnis des Wahren bringt jedoch allen Schlechtes. Vom Gerede der Leute getäuscht, werden sie gleichsam zu solchen Gütern hingeleitet, hierauf begreifen sie, dass das, was sie erreicht und für das sie vieles erduldet haben, entweder nichtige Übel sind oder weniger [wert] ist, als sie sich erhofft hatten; die Mehrheit schaut bewundernd an, was aus der Entfernung täuscht, und der Masse gelten diese Güter als bedeutend.
(8) Damit dies nicht auch uns widerfährt, sollten wir zu ergründen suchen, was ein Gut ist. Es gab hierzu verschiedene Deutungen, der eine hat es so, der andere so ausgedrückt. Manche bestimmen es auf diese Weise: „Ein Gut ist das, was die Seelen zu Gast bittet, was sie zu sich ruft." Diesem wird sofort entgegnet: was, wenn es zwar einlädt – aber ins Verderben? Du weißt, dass viele Laster verlockend sind. Wahres und dem Wahren Ähnliches unterscheiden sich voneinander. So wird, was ein Gut ist, mit dem Wahren verbunden; denn es ist kein Gut, wenn es nicht wahr ist. Aber das, was zu sich einlädt und verlockt, ist dem Wahren [nur] ähnlich: es schleicht sich heran, es verführt, es zieht an sich.
(9) Quidam ita finierunt: 'Bonum est quod adpetitionem sui movet, vel quod impetum animi tendentis ad se movet.' Et huic idem opponitur; multa enim impetum animi movent quae petantur petentium malo. Melius illi qui ita finierunt: 'Bonum est quod ad se impetum animi secundum naturam movet et ita demum petendum est cum coepit esse expetendum.' Iam et honestum est; hoc enim est perfecte petendum.
(10) Locus ipse me admonet ut quid intersit inter bonum honestumque dicam. Aliquid inter se mixtum habent et inseparabile: nec potest bonum esse nisi cui aliquid honesti inest, et honestum utique bonum est. Quid ergo inter duo interest? Honestum est perfectum bonum, quo beata vita completur, cuius contactu alia quoque bona fiunt.
(11) Quod dico tale est: sunt quaedam neque bona neque mala, tamquam militia, legatio, iurisdictio. Haec cum honeste administrata sunt, bona esse incipiunt et ex dubio in bonum transeunt. Bonum societate honesti fit, honestum per se bonum est; bonum ex honesto fluit, honestum ex se est. Quod bonum est malum esse potuit; quod honestum est nisi bonum esse non potuit.
(9) Einige grenzen es auf diese Weise ab: „Ein Gut ist das, was ein Verlangen zu sich erweckt oder ein heftiges Verlangen der Seele erregt, die sich ihm entgegenstreckt." Auch diesem wird ebendasselbe entgegnet; vieles nämlich erregt ein heftiges Verlangen des Geistes, was zum Unheil des Begehrenden begehrt wird. Besser [machen es] jene, die es so bestimmen: „Ein Gut ist, was ein der Natur gemäßes heftiges Verlangen zu sich erweckt und dann erst anzustreben ist, wenn es angefangen hat, erstrebenswert zu sein." Dann ist es gewiss auch sittlich gut; dieses muss nämlich zur Vollkommenheit angestrebt werden.
(10) Die Sache selbst fordert mich auf zu benennen, worin der Unterschied zwischen gut und sittlich gut besteht. Sie weisen untereinander etwas Gemeinsames und Untrennbares auf: gut kann nur sein, dem etwas sittlich Gutes innewohnt, und sittlich Gutes ist in jedem Fall ein Gut. Welcher Unterschied besteht also zwischen den beiden? Das...
Erscheint lt. Verlag | 23.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7597-4019-7 / 3759740197 |
ISBN-13 | 978-3-7597-4019-9 / 9783759740199 |
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