Der vermeidbare Krieg (eBook)
256 Seiten
Edition Weltkiosk (Verlag)
978-3-942377-28-7 (ISBN)
Kevin Rudd war von 2007 bis 2010 Australiens Premierminister, dann Außenminister, bevor er 2013 noch einmal als Regierungschef amtierte. Im März 2023 wurde er zum australischen Botschafter in den Vereinigten Staaten berufen. 1957 in Nambour (Queensland) geboren, belegte er Kurse in «Chinastudien» an der Australian National University, die er mit Auszeichnung abschloss. Dort lernte er auch Mandarin, das er fließend spricht. 2021 bis 2023 war Rudd Präsident und CEO der Asia Society, deren Forschungsinstitut er seit 2015 leitete.
EINLEITUNG: ÜBER DIE GEFAHREN EINES KRIEGES
Ich wünschte, ich hätte dieses Buch nicht schreiben müssen. Ich bin gerade alt genug, um mich an die alljährlichen Paraden am ANZAC-Tag zu erinnern — ANZAC steht für «Australian and New Zealand Army Corps» —, die in der Kleinstadt abgehalten wurden, in der ich aufwuchs. Ich ging mit meinem Vater hin, der am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte, und mir ist noch im Gedächtnis, wie ich neben Männern in ihren 70ern marschierte, deren Schritt schon nicht mehr ganz so sicher war und die im Ersten Weltkrieg mitgekämpft hatten. Einer von ihnen, erzählte mir mein Vater, litt immer noch an einem Kriegstrauma.
Es gab keine zwangsläufige Entwicklung, die in den Ersten Weltkrieg (1914–18) führte. Der Krieg brach aus als Folge der schlechten Entscheidungen, die die politischen und militärischen Führungen im Juli und August 1914 trafen. Sie führten zum großen Blutvergießen und kosteten 40 Millionen Menschenleben, darunter die von 117 000 amerikanischen, 60 000 australischen und zwei Millionen deutschen Soldaten. Die Entscheidungen, wie man mit den Verlierernationen umging, legten dann die Lunte für die nächste globale Auseinandersetzung, die so grauenvoll ausfiel, dass an deren Ende 85 Millionen Tote standen — 3 Prozent der damaligen Weltbevölkerung.
Wenn ich an die großen todbringenden Kriege des vergangenen Jahrhunderts denke, fühle ich mich aufgerufen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um ein weiteres Blutbad riesigen Ausmaßes zu verhindern. Um dies zu erreichen, müssen wir allerdings nicht nur den Frieden erhalten, sondern auch die nationalen und individuellen Freiheiten bewahren, für die unsere Vorfahren seit der Aufklärung gekämpft haben. Wir müssen stets das Debakel von Großbritanniens Premierminister Neville Chamberlains Erklärung in Erinnerung behalten, als er, nachdem er das Sudetenland auf der Münchner Konferenz 1938 Adolf Hitler ausgeliefert hatte, davon sprach, er sei mit einem «ehrenhaften Frieden» nach London zurückgekehrt; die Britinnen und Briten sollten «nach Hause gehen und ruhig in ihren Betten schlafen». Die unangenehme Wahrheit lautet, dass es niemals Frieden um jeden Preis geben kann.
Dies führt uns zu der sich stetig verschärfenden Krise der Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten. Die 2020er Jahre sind das entscheidende Jahrzehnt für die Dynamiken des sich wandelnden Kräfteverhältnisses zwischen ihnen. Sowohl die chinesischen als auch die amerikanischen Strategen wissen das. In Peking wie in Washington, und auch in anderen Hauptstädten, werden die 2020er Jahre eine Dekade sein, in der man «gefährlich lebt». Die Einsätze waren niemals höher, der Wettbewerb niemals schärfer, was auch immer das politische und diplomatische Personal öffentlich erklärt. Sollten die Giganten einen Weg finden, zu koexistieren, ohne ihre Kerninteressen verletzt zu sehen — was ich gemanagten oder geordneten strategischen Wettbewerb nenne —, könnte die Welt aufatmen. Sollten sie scheitern, droht die Gefahr eines Krieges, der die Zukunft beider Länder und die der Welt in einer Art und Weise neu schreiben würde, die wir uns kaum vorstellen können.
EIN STUDENT CHINAS UND AMERIKAS
Ich beschäftige mich mit China, seit ich 18 Jahre alt bin — seit Beginn meines Studiums an der Australian National University, an der ich Kurse in Mandarin sowie in klassischer und moderner chinesischer Geschichte belegte. Als Diplomat habe ich zu verschiedenen Zeiten in Peking, Schanghai, Hongkong und Taipeh gelebt und gearbeitet und viele Freundschaften quer durch das große China geschlossen. Die vergangenen 40 Jahre bin ich immer wieder nach China und Taiwan gereist, darunter als australischer Premierminister, und bin mit Xi Jinping und anderen hochrangigen Partei- und Regierungsvertretern zusammengetroffen. Ich bewundere Chinas Jahrtausende alte Kultur samt ihrer bemerkenswerten philosophischen, literarischen und künstlerischen Traditionen, ebenso die wirtschaftlichen Erfolge in der Zeit nach Mao Zedong, die ein Viertel der Menschheit von der Armut befreite.
Zugleich bin ich stets sehr kritisch gewesen, was Maos verheerende Politik während des «Großen Sprungs nach vorn» (1958–61) angeht, die zum Hungertod von rund 30 Millionen Menschen führte. Gleiches gilt für die «Kulturrevolution», in der Mao politische Gegner in stalinistischen Schauprozessen ausschaltete, den Tod von Millionen herbeiführte und für die Zerstörung eines unschätzbaren kulturellen Erbes sorgte. Und ich war auch immer kritisch, was Menschenrechtsverletzungen angeht, die bis zum heutigen Tag anhalten. Meine Abschlussarbeit zum Ende des Grundstudiums mit dem Titel «Menschenrechte in China: Der Fall Wei Jingsheng» zwang mich, die traurige Geschichte des Konzepts von Menschenrechten sowohl im klassischen als auch im kommunistischen China genauer zu betrachten. Ich habe einfach zu viel gelesen — und gesehen — in all den Jahren, um alles höflich unter den Teppich zu kehren. Mir sind heute noch die in die Tausende gehenden jungen Gesichter vom Platz des Himmlischen Friedens Ende Mai 1989 präsent, als ich mich fast eine Woche lang unter ihnen aufhielt und mit ihnen redete, bis dann am 4. Juni die Panzer die Proteste niederwalzten. Darum konnte ich Menschenrechtsfragen nicht ausklammern, als ich 20 Jahre später zu meinem Antrittsbesuch als australischer Premierminister nach Peking zurückkehrte. Am ersten Tag meines Besuchs hielt ich eine öffentliche Vorlesung in Chinesisch an der Pekinger Universität, in der ich argumentierte, dass das klassische Verständnis von Freundschaft in der chinesischen Tradition (das Konzept von zhengyou) bedeute, dass man als Freunde offen miteinander sprechen könne, ohne die Freundschaft zu gefährden. In diesem Rahmen sprach ich im Laufe meiner Rede das Thema Menschenrechtsverletzungen in Tibet an. Das chinesische Außenministerium flippte aus. Das galt auch für die eher rückgratlosen Teile der australischen Politik, Geschäftswelt und Medien, die taten, was sie immer tun. Nämlich zu fragen: «Wie können Sie unsere chinesischen Gastgeber brüskieren», indem Sie das Unaussprechliche aussprechen? Die Antwort war relativ einfach: Weil es sich um die Wahrheit handelte, und diese zu ignorieren hätte bedeutet, einen Teil der komplexen Realität zu leugnen, die das Verhältnis eines jeden Landes mit der Volksrepublik China ausmacht.
Ich habe auch einige Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt. Ich fühle mich den Amerikanerinnen und Amerikanern tief verbunden, interessiere mich sehr für amerikanische Geschichte und bewundere die außergewöhnliche Innovationskultur Amerikas. Ich bin mir der großen Unterschiede, die zwischen den beiden Ländern bestehen, durchaus bewusst, aber es gibt auch große kulturelle Werte, die beide teilen — die Liebe zur Familie, die Bedeutung, die sowohl Chinesen als auch Amerikaner der Bildung ihrer Kinder beimessen, und ihre lebendige Unternehmerkultur, die von Ehrgeiz und harter Arbeit geprägt ist. Keine Betrachtung des chinesisch-amerikanischen Verhältnisses ist frei von intellektuellen und kulturellen Vorurteilen. Bei all meiner Bildung in Sachen chinesischer Geschichte und Kultur bin ich ohne jede Frage oder Entschuldigung ein Geschöpf des Westens. Ich bin somit dessen philosophischen, religiösen und kulturellen Traditionen verbunden. Das Land, dem ich als Premierminister und Außenminister gedient habe, ist seit über 100 Jahren ein Verbündeter der Vereinigten Staaten und unterstützt offen die liberale internationale Ordnung, die Washington aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs errichtet hat. Zugleich habe ich nie die Auffassung geteilt, dass ein Bündnispartner zu sein bedeute, dass man automatisch mit jedem Element der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik einverstanden sein muss. Das hat sich beispielsweise darin gezeigt, dass meine Partei, die Australian Labor Party, sich sowohl gegen den Vietnamkrieg als auch den Einmarsch in Irak gestellt hat. Auch betrachte ich die innenpolitischen Vorgänge in den Vereinigten Staaten keineswegs durch eine rosarote Brille, ob es um das endemische Problem unkontrollierter Wahlkampffinanzierung, um das korrupte System von Wahlkreisschneiderei oder um voter suppression, also der Erschwerung oder Verhinderung der Teilnahme an Wahlen, geht. Die unhaltbare Ungleichheit, die die amerikanische Gesellschaft prägt, sehe ich ebenfalls kritisch; sie befeuert neue Formen des populistischen Extremismus.
Mein Urteil über das chinesisch-amerikanische Verhältnis ist dazu gefärbt von meiner persönlichen Abscheu vor einem überheblichen Nationalismus, der bedauerlicherweise viele Aspekte der chinesischen wie der amerikanischen öffentlichen Debatte bestimmt. Auf Nationalismus zu setzen mag für die einen emotional befriedigend und für die anderen politisch opportun sein, um sich politische Unterstützung zu verschaffen; dass er unfähig ist, gute Ergebnisse zu...
Erscheint lt. Verlag | 29.10.2023 |
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Übersetzer | John-William Boer |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-942377-28-4 / 3942377284 |
ISBN-13 | 978-3-942377-28-7 / 9783942377287 |
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