Stiefmutter sein (eBook)
304 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31256-5 (ISBN)
Wir sind überall: Sobald sich eine Frau in einen Menschen mit Kindern verliebt, wird sie Stiefmutter. 40 Prozent aller Ehen werden geschieden, ein beträchtlicher Teil aller Kinder lebt in Stieffamilien. Wir sind also viele. Und doch bringen wir es nicht fertig, uns als »Stiefmutter« zu definieren, ohne diesen beschämten Blick auf den Boden. Die böse Stiefmutter lebt fort, in der Gesellschaft und in der Selbstwahrnehmung der »Betroffenen«. Als Elsa Koester ganz ungeplant zur Stiefmutter wird, stellt sie fest: Hier muss ein Umdenken her. Die moderne Großfamilie besteht aus mehr als zwei Elternteilen - das ist nicht immer einfach, aber doch eine große Chance. Wieso gibt es keine Rituale, keine Traditionen, keine Glückwünsche bei der Patchwork-Familiengründung? Co-Mutterschaft bringt Freude und Entlastung für alle. Höchste Zeit, Familie neu zu denken und die Stiefmutter zu feiern!
Elsa Koester wurde 1984 als Tochter einer französischen Pied-noir mit tunesischer Kolonialgeschichte und eines norddeutschen Friesen mit US-amerikanischer Auswanderungsgeschichte in Berlin geboren, wo sie heute mit ihrem Partner und ihren zwei Stiefkindern lebt. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaft sowie Soziologie und ist bei der Wochenzeitung »Der Freitag« als politische Redakteurin für die Titelthemen zuständig. Ihr Romandebüt »Couscous mit Zimt« (2020, FVA) wurde begeistert aufgenommen.
Ich bin Elsa. Ich bin eine Stiefmutter.
Meine Kollegin ist vor Kurzem Mutter geworden. Das heißt: Sie wurde schwanger, sie bekam einen Babybauch, und dann ging sie in den Mutterschutz, dann bereitete sie alles für die Geburt vor, dann bekam sie einen kleinen Sohn. An ihrem letzten Arbeitstag vor ihrer Mutterwerdung verabschiedeten wir sie im Büro, bei der Wochenzeitung der Freitag. Wir hatten unter Kolleginnen ein gemeinsames Geschenk organisiert – einen Verpflegungsdienst mit tollem Essen zur Stärkung nach der Geburt. Es gab auch Blumen und Karten, und alle sagten Dinge wie: »Oh, das wird jetzt eine ganz besondere Zeit, du wirst soooo müde sein, hahaha, aber es ist die wichtigste Zeit im Leben, genieß sie.«
Meine Kollegin und Freundin lächelte glücklich und ein bisschen schüchtern, wie sie meistens lächelt, sie las die Karten und ließ sich kleine Geschichten erzählen, von Babys und Familie, die Stimmung war so schön, und ich sah auf die Blumen und die Karten und all das Lächeln und dachte: Wann habe ich eigentlich so ein Lächeln bekommen? Wann werde ich es bekommen? Ich habe doch auch gerade eine Familie gekriegt! Wie ist das eigentlich passiert? Dass mein Leben sich dermaßen auf den Kopf gestellt hat, mit einer Jugendlichen und einem kleinen Jungen in meinem Zuhause, dass plötzlich alles Chaos ist, morgens und abends und an den Wochenenden, dass die Küche plötzlich erfüllt ist von Gejammer und Protestgeheul, von Gezeter und Diskussion, von Lachen und Kitzeln und Stampfen und Quatschmachen, von Nutella und schief gerolltem Sushi, und dass ich so müde bin, ständig bin ich müde, aber glücklich, und auch genervt, und ihr alle hier wisst gar nicht, warum, und nie habe ich dieses Lächeln bekommen. Es gab nie diesen Moment hier für mich, es gab keine Karten und keine Blumen und keine Geschenke, und vor allem gab es keine Geschichten und Tipps, wie man es mit so einer Jugendlichen und einem kleinen Jungen aushält, ohne durchzudrehen, und es gab keine Power-Verpflegungsdienst-Gutscheine.
Meine Kollegin lächelte weiter, und die anderen Kolleginnen strahlten und erzählten weiter, und da platzte es aus mir heraus: »Ey! Wo sind eigentlich meine Blumen? Ich hab auch eine Familie bekommen! Ich bin … Stiefmutter geworden!«
Mit einem Mal war es ganz still im Raum. Dutzende Augen blickten mich groß an, denn sie hörten es zum ersten Mal: »Stiefmutter geworden«.
Alle wissen, wer eine Mutter ist. Aber wer ist eine Stiefmutter?
Ich konnte es sehen, das Bild, das meine Kolleginnen da im Kopf hatten. Ich kannte es genau. Nehmen Sie mal Ihr Smartphone, einen beliebigen Messenger-Dienst und suchen Sie bei den GIFs nach »Stepmother«. Da kommt das Bild, das wir alle im Kopf haben bei diesem Wort: eine alternde Giftspritze mit grauen Haaren, zu einem Dutt hochgebunden, spitzes Kinn, gehässige, zu Schlitzen gezogene Augen, mit einer Hautfarbe, die irgendwo zwischen Gelb, Grün und Lila liegt. Voilà: die Stiefmutter aus Disney’s Cinderella. Walt Disney ist spitze darin, Klischees direkt aus unseren Köpfen auf die Leinwand zu projizieren.
Ich konnte ihn sehen, den Film, der vor den inneren Augen meiner Kolleginnen ablief: Stiefmutter. Nur passte dieser Film nicht zu dem, was sie vor sich sahen: eine 37-jährige Kollegin, die eigentlich ganz nett wirkte, bislang zumindest. Ohne Dutt. Ohne diese gehässigen Augen. Was also sagte ich da? Wer war ich?
Dann rappelten sie sich zusammen.
»Ja«, sagten mir die Kolleginnen, »aber du bist sicher eine ganz andere Stiefmutter! Du bist feministisch und empathisch, du bist eine Bonusmutter. Den Kindern macht es bestimmt Spaß mit dir, du bist gut für sie, da sind wir uns sicher.«
Es wurde ein langer Abend. Ich versuchte meinen Kolleginnen und Freundinnen da irgendwie zu erklären, dass ich sie leider enttäuschen musste. Dass ich durchaus eifersüchtig war. Und manchmal zickig und mies gelaunt und nicht immer gut und richtig zu den Kindern. Und ich versuchte zu erklären, wie das kam: wie überfordert ich mich fühlte in so einer fremden Familie plötzlich, die teils ganz anderen Regeln folgte, als ich sie mir wünschen würde. Wie ausgeschlossen ich mich oft fühlte im Zusammenleben mit Kindern, die schon eine Mutter hatten und die sich keineswegs ausgesucht hatten, mich als Stiefmutter dazuzubekommen. In einer Familie, in der ich nichts zu sagen hatte, und dadurch auch in einem Zuhause, in dem ich fast nichts zu sagen hatte.
Aber ich erzählte auch, wie schön es war, mit einer Jugendlichen Sushi zu rollen und über Feminismus zu diskutieren, mit einem Jungen Drachen steigen zu lassen und mit allen beiden Game Boy zu spielen. Sich zusammen die Minions anzusehen und endlich wieder Mensch ärgere dich nicht zu spielen und sich richtig ärgern zu dürfen. Ich erzählte, wie ich mich schämte, eine Stiefmutter zu sein; aber dass ich mir nicht mehr vorstellen konnte, keine mehr zu sein. Ich erzählte die Stiefmutter-Märchen aus Perspektive der Stiefmutter, und meine Kolleginnen hörten sie so zum ersten Mal.
Damals war ich gerade mal eineinhalb Jahre mit meinem Partner Bela * zusammen. Als wir uns verliebten, hatte Bela sich kurz zuvor von seiner Partnerin getrennt, mit der er einen gemeinsamen Sohn hat. Der Kleine wurde damals gerade sechs Jahre alt; Belas Tochter Arianna war schon 14 und von einer anderen Mutter, sodass ich also nicht nur mit einem Mann zusammenkam, sondern mit einer Familie, in der es schon einen Jungen und eine Jugendliche, zwei Mütter und eine Stiefmutter gab. Für Doppel-Patchwork-Unerfahrene: Es gab in der Familie bereits eine Stiefmutter vor mir, weil ja Belas zweite Partnerin schon die Stiefmutter von Arianna war – Belas Tochter aus erster Partnerschaft.
Und jetzt achten Sie mal auf Ihr Gesicht. Habe ich da ein Stirnrunzeln gesehen? Und eine hochgezogene Augenbraue! Doch, ich habe es genau gesehen, wie ich es schon in so vielen Gesichtern gesehen habe. Gerunzelte Stirn und hochgezogene Augenbraue, das bekomme ich, wenn ich von meiner neuen Familie erzähle, Bela, Arianna, dem Kleinen und den zwei Müttern.
Warum bekomme ich keine aufgerissenen Augen und ein: »Oh, toll! So viele neue Menschen in deinem Leben, ich freue mich so für dich!!!«?
Das diskutierten wir lange, an jenem Abend im Konferenzraum: Warum freut sich diese Gesellschaft nicht, wenn eine Familie auf diese Weise zusammenfindet, und nicht durch einen Uterus hindurch? Wenn eine Erwachsene dazukommt, um die Sorgearbeit für die Kinder mit zu übernehmen? Wenn so viele Kinder und Frauen in das Leben einer Frau kommen? Wie kann es sein, dass hier wieder eine Mutter beschämt wird und das nicht gesehen wird, obwohl doch längst so viel über Mutterbilder diskutiert wird?
Wir leben im 21. Jahrhundert, mehrere Wellen des Feminismus und der Emanzipation von verkrusteten Kleinfamilienvorstellungen sind bereits durch unsere Gesellschaft geschwappt. Frauen kämpfen seit den späten 60er-Jahren gegen die Vorstellung, es sei normal, Mutter zu werden: Mein Bauch gehört mir, das bedeutet, ich kann entscheiden, keine Mutter zu werden, ohne mich dafür schämen zu müssen. Frauen kämpfen dafür, nicht Mutter werden zu müssen – und sich dafür nicht zu schämen: Sarah Diehl veröffentlichte 2014 das Buch Die Uhr, die nicht tickt und machte deutlich, dass ein Leben ohne Kinder ein ebenso akzeptables Leben ist wie eines mit Kindern. Lesbische Mütter kämpfen dafür, dass ihre Mutterschaft ganz normal anerkannt wird: Die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP arbeitet seit 2021 an der Gleichstellung queerer Mütter, also daran, dass das Kind, das eine verheiratete Frau zur Welt bringt, automatisch auch das Kind ihrer Ehefrau ist. 1 Bislang war sie für das Baby juristisch gesehen eine Fremde, sie musste erst einen Adoptionsprozess durchlaufen, um das Kind ihrer Partnerin rechtlich als ihr Kind anerkennen zu lassen. Eine lesbische Mutter, die nicht die biologische Mutter ist, war so etwas wie eine: Stiefmutter.
Nicht zuletzt hat die israelische Soziologin Orna Donath 2015 mit ihrer Studie #regretting motherhood das Tabu gebrochen, dass eine Mutter »normalerweise« glücklich in ihrer Mutterrolle aufgeht, und klargemacht: Mütter dürfen ihre Entscheidung, ein Kind zu bekommen, auch hinterfragen, ja sogar bereuen, sie können trotzdem liebende Mütter sein.
Wie die Überforderung von Müttern mit der Gesellschaft zusammenhängt, hat jüngst die feministische Autorin Mareice Kaiser in ihrem Buch Das Unwohlsein der modernen Mutter aufgeschrieben: Eine Gesellschaft, die Mütter dermaßen mit der Doppelbelastung einer neoliberalen Arbeitswelt und individualisierten Sorgearbeit alleine lässt, darf sich nicht wundern, wenn diese überforderten Mütter ihre Rolle als nicht ganz so angenehm empfinden.
Wie kann es also sein, fragten wir uns da im Büro bei Sekt und Pizza, dass all diese Debatten über das Muttersein in den letzten Jahrzehnten verstärkt geführt werden, aber die Stiefmutter noch immer still und unsichtbar bleibt? Ich sah, wie meine Kolleginnen ihre eigenen Familien zum ersten Mal durch die Augen ihrer Stiefmütter sahen. Und in ihren Augen sah ich etwas, das ich noch oft sehen sollte, wenn ich das Thema auf die Rolle der Stiefmutter brachte: Empörung und Unverständnis darüber, dass die Erzählung der bösen Stiefmutter sich seit Hunderten von Jahren ungebrochen hält und im Feminismus des 21. Jahrhunderts kaum jemand auf die Idee gekommen ist, sie aufzubrechen.
Wir saßen noch bis spät in den Abend da, viel Pizza, viel Sekt, und am Ende stand die Idee für dieses Buch im Raum: »Das musst du...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Beklaute Frauen • Bonuseltern • bonuskinder • bonusmama • bonusmutter • Co-Mutterschaft • Co-parenting • Das Unwohlsein der modernen Mutter • du hast mir gar nichts zu sagen! • eBooks • Ersatzmutter • Eva Illouz • Frauen • Geschenk Muttertag • Geschenk Ostern • Gesundheit • Kinder • Leonie Schöler • Mareice Kaiser • moderne Familie • mutter. sein. • Mutter sein • Muttertag • muttertag buch • Neuerscheinung • Ostern • Patchworkfamilie • Ratgeber • rebecca fleet • Stieffamilie • Stiefkind • Stiefmutter • Stiefsohn • Stieftochter • susanne mierau • Susanne Petermann • Wahre Geschichten • Weltfrauentag |
ISBN-10 | 3-641-31256-6 / 3641312566 |
ISBN-13 | 978-3-641-31256-5 / 9783641312565 |
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