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Verqueres Denken (eBook)

Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage, Überarbeitete Ausgabe
240 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-525-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verqueres Denken - Andreas Speit
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Sie gehen für »die Freiheit« auf die Straße: Bei den Querdenken-Demonstrationen und Corona-Protesten laufen Impfgegner:innen neben QAnon-Anhänger:innen, Esoteriker:innen neben Rechtsextremen, die Peace-Fahne flattert neben der Reichsflagge. Dieses Miteinander kommt jedoch nicht zufällig zustande. Wer sich für den Schutz von Natur und Tieren einsetzt, vegane Ernährung und Alternativmedizin bevorzugt, seine Kinder auf Waldorfschulen schickt oder nach spiritueller Erfüllung sucht, muss nicht frei von rechtem Gedankengut und Verschwörungsfantasien sein. Andreas Speit zeigt, dass in alternativen Milieus Werte und Vorstellungen kursieren, die alles andere als progressiv oder emanzipatorisch sind.



Andreas Speit, geboren 1966, Diplom-Sozialökonom, freier Journalist und Publizist, Kolumnist der taz Nord, regelmäßige Beiträge für Freitag, Blick nach rechts und jungle world, mehrere Auszeichnungen, u. a. durch das Medium-Magazin und den Deutschen Journalisten-Verband. Autor und Herausgeber diverser Bücher zum Thema Rechtsextremismus.

Einleitung


Der Schuss fiel nicht im Affekt oder aus einem spontanen Impuls heraus. Knapp zwei Stunden lang hatte der 49-jährige Mario N. am 18. September 2021 in seinem Haus in Idar-Oberstein die eigene Wut gegen Alexander W. geschürt, seit Jahren schon pflegte er seinen Hass gegen die moderne Welt und zuletzt gegen die staatlichen Maßnahmen wegen der Covid-19-Pandemie. An jenem Samstagabend erschoss N. in einer Aral-Tankstelle den 20-jährigen W., der dort als Kassierer jobbte und sich weigerte, ihm Bier zu verkaufen, so lange er nicht der Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes nachkam. Die Radikalisierung der »Querdenken«- und Corona-Leugnungs-Bewegung hatte das erste Todesopfer gefordert.

Der Applaus in den Sozialen Medien dieser hoch emotionalisierten Bewegung wird womöglich zu weiteren Taten anspornen. Worte sind eben nicht bloß Worte. Der Verlauf der Tat in der rheinland-pfälzischen Stadt offenbart die tödliche Gefahr. Einzelne Personen und Netzwerke haben sich von einer Verschwörungserzählung zur nächsten immer weiter radikalisiert.

Um 19:40 Uhr war N. erstmals in die Tankstelle gekommen, berichtete Staatsanwalt Kai Fuhrmann auf einer Pressekonferenz. Ohne Mundschutz sei N. in den Verkaufsraum gelaufen und habe zwei Sechserträger Bier auf den Tresen gestellt. W. wies ihn auf die Maskenpflicht hin und verkaufte das Bier nicht. N. soll wütend geworden sein, die Bierpackungen weggestoßen haben und mit der linken Faust drohend zu seinem Wagen gegangen sein. Gegen 21:30 Uhr sei er von seinem etwa zehn Minuten entfernten Einfamilienhaus zurückgekommen, diesmal mit Maske. An der Kasse habe er sie jedoch abgenommen, um zu provozieren. Als W. ihn erneut ermahnte, zog N. einen Revolver und schoss. W. war sofort tot. In der nachfolgenden Vernehmung sagte N., er habe ein Zeichen setzen wollen. Er war gekommen, um zu töten.

Schon 2020 hatte das Bundeskriminalamt vor Anschlägen aus dem Milieu der »Querdenken«- und Corona-Leugnungs-Bewegung auf Personen und Institutionen gewarnt. Tatsächlich wurden bislang schon Attacken auf das Robert-Koch-Institut in Berlin, das Rathaus im niedersächsischen Delmenhorst und das Impfzentrum im sächsischen Treuen verübt. In Gastronomie, öffentlichen Verkehrsmitteln oder Lebensmittelgeschäften müssen sich Mitarbeiter:innen gegen teils äußerst aggressive Maskenverweiger:innen erwehren. Und nicht nur einzelne Sachverständige und Politiker:innen bedürfen des Polizeischutzes, wenn sie Maßnahmen zur Abwehr von Covid 19 empfehlen oder verantworten. Im niedersächsischen Wallenhorst steht ein Hausarzt unter Polizeischutz, da er zum Schutz seine Mitarbeiter:innen die Behandlung von Menschen ablehnt, die sich ohne medizinischen Grund nicht impfen lassen.

Die Debatten darüber, ob Geimpfte im Alltag mehr Freiheiten genießen sollten als Ungeimpfte, heizt die Stimmung in der Bewegung weiter an. Wurde der Mund-Nasen-Schutz polemisch als »Maulkorb« bezeichnet, wird nun das Impfen als Angriff auf die körperliche Unversehrtheit dargestellt. Nach dieser Logik lassen sich Angriffe als Verteidigung legitimieren, schließlich geht es um Selbstschutz. Mit diesem Tenor dröhnt es durch die Sozialen Medien der Bewegung. Die Netzwerke der »Querdenkenden« haben in der Tankstelle von Idar-Oberstein mit geschossen.

Bis zum Oktober 2019 verwendete W., der sich selbst der Polizei stellte, von den Sozialen Medien vor allem Twitter. Wie sein Feed dort zeigt, bewegte sich W. in rechtspopulistischen bis rechtsextremen Online-Kreisen. Seine Kommentare fügen sich zu einem Weltbild zwischen antidemokratisch und antimodern zusammen. Bei der Debatte um die Hintergründe von W.s Tat wird bisweilen auf den Selbstmord seines Vater mit einer Schusswaffe hingewiesen. Dieser Faktor ist sicher zu berücksichtigen, er sollte aber nicht dazu führen, dass eine im Kern politische Tat durch die Pathologisierung des Täters entpolitisiert wird. Mit dem Hinweis auf persönliche Probleme der Akteure wurden Reichsideologiebewegte in Politik, Sicherheitskreisen und Medien lange verharmlost – heute stellen sie eine große Fraktion innerhalb der Bewegung.

Am Samstag, den 17. April 2021, waren die selbsternannten Freiheitskämpfer:innen in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg trotz Verbot wieder auf der Straße. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte zwei Tage zuvor zwei geplante Demonstrationen gegen die staatlichen Pandemie-Maßnahmen untersagt. Das Bundesverfassungsgericht wies noch am Samstag die eingereichten Eilanträge zur Aufhebung der Verbote ab. In der Innenstadt zogen dennoch an die 1000 Querdenker:innen und Corona-Leugner:innen durch Straßen und Fußgängerzonen. Sie skandierten Parolen wie »Freiheit«, trugen Regenschirme mit dem Aufdruck »FREISEINmitHerz«, schlugen auf Trommeln und schwenkten Regenbogenfahnen. Mitten unter ihnen: Michael Ballweg, der Initiator von »Querdenken 711«. Sie alle führten vor, was sie von staatlichen Maßnahmen und juristischen Auflagen hielten: nichts. Mehr als 700 Demonstrant:innen nahm die Polizei kurzzeitig fest – auch Ballweg. Platzverweise wurden erteilt und mehr als 1000 Verstöße gegen die Verpflichtung zum Tragen einer Maske geahndet.

Das »Freiheitsvirus« der Corona-Leugner:innen war erneut in der Stadt ausgebrochen, wo die Querdenken-Bewegung begonnen hatte. Die Verbote dämmten den »Ausbruch« aber ein. Zwei Wochen zuvor, am Karsamstag, hatten an einer genehmigten Demonstration von Querdenken mehr als 10 000 Menschen teilgenommen. Die Missachtung von Masken und Mindestabstand gehörte an diesem 3. April schon längst zum festen Ritual der kollektiven Staatsverachtung. Eine Verachtung aus der Mitte der Gesellschaft mit alternativem Habitus.

Nicht bloß in Stuttgart sind seit 2020 Menschen mit bürgerlichen Werten und alternativen Lebenshaltungen auf der Straße -manche von ihnen finanziell abgesichert, andere ökonomisch prekär lebend. Im Protest verschärft sich die anhaltende Entkultivierung von Teilen des Bürgertums weiter. Rücksicht auf seine Mitmenschen, Einschränkungen ertragen, Regeln ernst nehmen -perdu. Der vermeintliche Protest für die Freiheitsrechte aller ist letztlich ein Protest für das eigene Recht, sich zu verhalten, wie man gerade will. Die Demonstrant:innen denken nicht quer, sie denken egoman. Eine Form der »rohen Bürgerlichkeit« (Wilhelm Heitmeyer), die mit der Ignoranz gegenüber den Toten und ihren Angehörigen und Freund:innen einhergeht.

An 11. Oktober 2021 musste das Robert Koch-Institut (RKI) vermelden, dass an oder im Zusammenhang mit dem Covid-19-Virus alleine in der Bundesrepublik 94209 Menschen verstorben sind. Weltweit waren bis zu diesem Tag nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) mehr als 4,8 Millionen Menschen gestorben. Zahlen, hinter denen sich individuelle Schicksale verbergen; Zahlen, die das Leid der Angehörigen nicht erfassen können; Zahlen, die auch das anhaltende Leiden von Überlebenden mit Long-Covid-Erkrankungen nicht abbilden. Dennoch sind es Fakten, und sie werden im postfaktischen Zeitalter schnell als Fake News relativiert.

Im Februar 2021 belegte eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW in Mannheim und der Humboldt-Universität Berlin, dass nach den Querdenken-Kundgebungen am 7. und am 18. November 2020 in Leipzig die Infektionszahlen in den Landkreisen stiegen, in denen Busunternehmer:innen Fahrten zu den Großdemonstrationen angeboten hatten. Dort wuchs die Sieben-Tage-Inzidenz – die Zahl der Neuinfektionen je 100 000 Einwohner binnen einer Woche – auffällig stärker an als in Kreisen, in denen die Busunternehmen keine Reisen angeboten hatten. Die Studie legt nahe, dass zwischen 16000 und 21000 neue Corona-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn die Kundgebungen abgesagt worden wären. Martin Lange, der Studienverfasser vom ZEW, kam zu dem Fazit: »Eine mobile Minderheit, die sich nicht an geltende Hygieneregeln hält, kann so ein erhebliches Risiko für andere Personen darstellen.« Damit benannte er den Konflikt zwischen Freiheits- und Demonstrationsrecht einerseits und dem Recht auf Unversehrtheit und Infektionsschutz andererseits. Das individuelle Verhalten hat große Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Am 17. April 2021 ging die Polizei in Stuttgart gegen die Verstöße der Querdenker:innen- und Corona-Leugner:innen-Bewegung vor. Am 3. April hatte sie die Bewegung gewähren lassen. In vielen Städten schritt die Polizei bei Demonstrationen nicht ein, wenn weder Abstand gehalten noch Masken getragen wurden. Eine Zurückhaltung, die nicht erwidert wurde. Nicht bloß bei den Demonstrationen in Leipzig oder Kassel schlug die latente Aggressivität der neuen Bewegung bereits in offene Gewalt gegen Gegendemonstrant:innen, Journalist:innen und Polizist:innen um.

Im Alltag führt die Nichtdurchsetzung der Auflagen und Regeln zu einer leisen Erosion der Bereitschaft bei Nicht-Corona-Leugner:innen, sich selbst an Maßnahmen und Verordnungen zu halten. Wer am Abend im Fernsehen sieht, wie Tausende...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anastasia-Bewegung • Attila Hildmann • Esoterik • Hygienedemonstration • Impfgegner • Lebensreform • Qanon • Querdenker • Sea Shepherd • Veganismus • Waldorf
ISBN-10 3-86284-525-7 / 3862845257
ISBN-13 978-3-86284-525-5 / 9783862845255
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