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Alltag im Ausnahmezustand (eBook)

Mein Blick auf Israel
eBook Download: EPUB
2018
304 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-16321-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alltag im Ausnahmezustand - Richard C. Schneider
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Innerlich zerrissen und von außen bedroht: Wie sieht Israels Zukunft aus? - Einer der besten Kenner des Landes berichtet
»Alltag im Ausnahmezustand« ist das Porträt eines Landes, das hin- und her gerissen ist zwischen Normalität und Ausnahmezustand, zwischen Konsum und Krieg, zwischen der Sehnsucht nach Frieden und dem Bedürfnis nach Sicherheit.

Richard C. Schneider bereist als Journalist seit über 30 Jahren den Nahen Osten und war von 2006 bis 2015 als Leiter und Chefkorrespondent des ARD-Studios Tel Aviv verantwortlich für Israel und die palästinensischen Gebiete. In seiner Analyse konzentriert er sich vor allem auf die komplexe und komplizierte Entwicklung der israelischen Gesellschaft in den vergangenen Jahren. Zwischen Hightech-Hub und religiösem Fundamentalismus droht die israelische Gesellschaft in jeder Richtung extremer und radikaler zu werden, nicht zuletzt auch durch die Bedrohungen von außen.

Richard C. Schneider, geboren 1957, ist Journalist, Buch- und Fernsehautor. Er war von 2006 bis 2015 ARD-Studioleiter und Chefkorrespondent in Tel Aviv, 2016 Leiter TV und Chefkorrespondent im ARD Studio Rom, und arbeitete bis Ende 2022 als Editor-at-large und Filmemacher für die ARD. Zudem schreibt er als SPIEGEL-Autor regelmäßig über Israel und den Nahen Osten. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit dem Nahostkonflikt, der israelischen Gesellschaft und der jüdischen Geschichte. Zuletzt sind von ihm erschienen »Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel« (DVA 2018), »Wie hättet ihr uns denn gerne?« (2022, zusammen mit Özlem Topçu) und die vierteilige Dokumentarserie »Die Sache mit den Juden« (2021) über unterschiedliche Formen des Antisemitismus in Deutschland. Richard C. Schneider lebt nach Jahren in Tel Aviv heute wieder in München.

Einführung

19482018. Siebzig Jahre und kein Ende in Sicht

Nie werde ich diesen Tag vergessen. Ein warmer Frühlingstag in München, Anfang Juni. Ich war gerade aus der Schule nach Hause gekommen, war wie immer als erstes in mein Zimmer gegangen, um die Schultasche abzulegen, um dann mit meinen Eltern in der Küche gemeinsam zu Mittag zu essen. Doch meine Mutter war sofort in mein Zimmer gekommen, ich hatte meinen Schulranzen noch in der Hand. Sie sah mich sehr ernst an und sagte nur: »In Israel ist Krieg. Die Araber haben angegriffen.« Es war der 5. Juni 1967, ich war zehn Jahre alt. Ich wusste nicht genau, welche Konsequenzen dieser Krieg haben würde. Aber ich dachte sofort an Napalm und verbrannte Kinder – Bilder aus dem Vietnamkrieg, die bei uns täglich während des Abendessens über den Schwarz-Weiß-Fernseher ins Wohnzimmer eindrangen. Diese Bilder kannte ich gut, sie gehörten zu meinen Kinder- und Jugendjahren wie eine Hintergrundmusik im Kino, eine Art Leitmotiv. Man nimmt sie kaum wahr, doch sie ist immer da. Der Vietnamkrieg. Irgendwie nah und doch weit weg. Vietnam. Wo lag das? Zum Glück waren da keine Juden und keine Deutsche involviert, keine Nazis, sondern Amerikaner, und die waren doch schließlich die Guten, hatten die nicht Hitler besiegt und somit meinen Eltern das Leben gerettet? Dass sowohl mein Vater als auch meine Mutter von der Roten Armee gerettet wurden, hatte ich zwar gehört, schließlich waren meine Eltern in Konzentrationslagern der Nazis in Osteuropa gewesen, aber ich wusste auch, dass meine Eltern nach dem Krieg zweimal vor den Kommunisten aus der Tschechoslowakei und Ungarn fliehen mussten, ehe sie endlich im Westen ankamen. Und dass die Russen Antisemiten waren, das hatte ich auch gehört. Und dass sie Frauen in den befreiten KZ vergewaltigt hatten, das auch. Also: die USA. Nur die USA. Und die USA waren in der Tagesschau, aber vor allem waren sie im Radio täglich präsent mit der heißesten Musik, die man in Deutschland hören konnte. Im AFN, dem amerikanischen Armeesender. AFN prägte meine Generation in Deutschland. Wolfman Jack war unser Idol. Denn in Deutschland, da gab’s nur Vico Torriani, Peter Alexander und Lou van Burg. Also, was konnte schlecht an den USA sein? Amerika war der Garant für Freiheit und Zukunft. Ein Land mit vielen Juden und ohne Antisemitismus, davon war ich überzeugt. Also mussten die GIs im Vietnamkrieg auch für die gute Sache kämpfen. Ich erschrak zwar, wenn ich brennende Kinder sah, aber ich konnte kaum glauben, dass die USA dafür verantwortlich waren, und wenn, dann geschah dies wohl eher aus Versehen als mit Absicht. So dachte ich damals.

Aber letztendlich waren Franz Beckenbauer und Gerd Müller, Pierre Brice und Lex Barker in meiner Welt einfach wichtiger als irgendein Krieg, den ich nicht begriff, Lichtjahre von uns entfernt. Nun aber: Krieg gegen Israel. Ich hatte keine Vorstellung, welche Konsequenzen er weltpolitisch möglicherweise haben würde. Aber dass es um das Überleben des jüdischen Staates ging, dass dieser Krieg auch das Leben meiner Familie betraf, das war mir sofort klar. Und so ließ ich den Schulranzen in meiner Hand einfach auf den Boden fallen und blickte meine Mutter unsicher an. Ich war gerade mal ein halbes Jahr zuvor das erste Mal in Israel gewesen, mit meinem Vater, wir wohnten bei seiner Cousine Piri im Galil und reisten durch das Land. Ich besuchte all die Orte, die ich aus dem Religionsunterricht und dem Gebet kannte. Nur den Tempelberg mit der Klagemauer, dem Stück Westmauer des Zweiten Tempels, den konnte ich nicht besuchen. Er lag in Ostjerusalem, war damals noch in jordanischer Hand. Ich stand mit meinem Vater an der stacheldrahtüberzogenen Grenzlinie zwischen West- und Ostjerusalem, ganz in der Nähe des Mandelbaumtors, da deutete mein Vater in Richtung des Tempelbergs und sagte: »Eines Tages, wenn der Meshiach (Messias) kommen wird, dann werden wir beide dort stehen und beten.« Wir beide ahnten nicht, dass es gerade mal ein halbes Jahr dauern würde, bis sein Wunsch Realität würde.

Der Meshiach kam im Juni 1967 in Gestalt zweier Militärs: Verteidigungsminister Moshe Dayan, der Mann mit der Augenklappe, und Generalstabschef Yitzhak Rabin, der spätere Premierminister. Beide wurden als Helden gefeiert. Sie hatten nicht nur den Sechs-Tage-Krieg gewonnen und die jüdischen Heiligtümer und biblisch bedeutenden Orte nach 2000 Jahre Diaspora wieder in jüdische Gewalt gebracht, sie hatten vor allem den Untergang Israels verhindert. Allen Juden weltweit, selbst mir, dem zehnjährigen jüdischen Kind, war die Drohung des ägyptischen Herrschers Gamal Abdel Nasser ständig im Ohr gesessen: »Wir werden die Juden ins Meer werfen.« Viele Jahrzehnte später entdeckte ich in einem Filmarchiv Bilder von Tel Aviv wenige Tage vor Kriegsausbruch. Am Strand: kein Mensch. Auf den Straßen: kaum jemand. Später, als Journalist, interviewte ich Freunde, Bekannte, ältere Verwandte, wie das damals war in den Tagen vor dem Krieg. Und fast einhellig erhielt ich die gleiche Antwort: »Wir dachten, jetzt ist es vorbei. Die Shoah haben wir überlebt, aber jetzt, jetzt ist es endgültig aus.« In der Euphorie, die die gesamte jüdische Welt nach dem Krieg erfasste, dachte niemand mehr daran, dass nur kurz zuvor das Schicksal des jüdischen Staates besiegelt zu sein schien.

Als meine Mutter mir an jenem Mittag sagte, in Israel herrsche Krieg, müssen sie und mein Vater dieselbe Angst verspürt haben wie alle Juden rund um den Globus. Natürlich hingen wir von dem Augenblick an nur noch vor dem Fernseher und am Radio. Mein Vater wechselte die Frequenzen, um in allen Sprachen, derer er mächtig war, neue Informationen zu bekommen. Wir versuchten, unsere Verwandten in Israel zu erreichen, doch das war damals keine einfache Angelegenheit, und häufig sagte uns das »Fräulein vom Amt«, man käme nicht durch, die Leitung sei unterbrochen.

Für meine Familie hatte der Krieg unmittelbare Auswirkungen. Meine Schwester sollte Mitte Juni in München heiraten, die Hochzeitsvorbereitungen waren längst in vollem Gange. Aber nun was tun? Kann man eine große Hochzeit feiern, wenn man nicht weiß, ob Israel vernichtet wird? Und selbst wenn nicht, wie viele Tote wird es geben? Wie viele tote Freunde, Verwandte? Meine Eltern wandten sich an den Rabbiner der jüdischen Gemeinde in München, der entsprechend des Religionsgesetzes entschied, man könne eine »Simche«, ein Freudenfest, nicht so ohne weiteres absagen. Aber man solle das Fest auf ein Minimum reduzieren, nur das Nötigste. So entschieden, so getan. Meine Eltern mussten die gebuchten Räumlichkeiten, in denen nach der Hochzeit die große Party hätte stattfinden sollen, wieder absagen. Die deutschen Veranstalter waren sehr nett und hatten großes Verständnis für die Situation. Man entschied, ausschließlich in der Synagoge zu feiern und keine Musikkapelle zu engagieren. Als meine Schwester schließlich heiratete, war der Krieg schon vorbei, der Sieg triumphal und die Freude in der Gemeinde riesig. Die Hochzeitsfeier fiel zwar bescheiden aus, aber sie war nach dem Sieg Israels dementsprechend stimmungsvoll.

Keinen Monat nach dem Sechs-Tage-Krieg stand ich mit meinem Vater an der Klagemauer, um zu beten. Mein Vater, Jahrgang 1920, konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Für seine Generation war die Eroberung des Tempelbergs, des Grabes der Stammmutter Rachel bei Bethlehem und die Eroberung der Grabstätten von Abraham und den anderen Stammvätern und -müttern in Hebron mehr als ein Wunder. Keine 25 Jahre zuvor waren mein Vater und meine Mutter aus den Lagern der Nazis befreit worden, die Eltern, die Geschwister und viele weitere Verwandte in den Gaskammern und Krematorien von Auschwitz in Asche und Rauch aufgegangen. Und nun stand er da, mein Vater, das chassidische Kind aus dem Stetl, zusammen mit seinem kleinen Sohn und betete an der Westmauer des Zweiten Tempels, der hier vor 2000 Jahren gestanden hatte. Wir waren durch den arabischen Suk zur Klagemauer gelangt, so wie man auch heute dorthin kommen kann. Damals aber war der Suk noch nicht touristisch-folkloristisch, noch nicht picobello sauber und hell. Der gesamte Suk starrte vor Dreck und war vor allem dunkel. Denn überall hingen schwere Teppiche über uns als Schutz gegen die Sonne, damit es im Bazar schön kühl bleibt. Die arabischen Ladenbesitzer starrten uns an, die Fremden in ihren Jeans und Polohemden. Da trafen in der Tat zwei Welten aufeinander. Wir waren fasziniert vom »wahren Orient«, und die Araber hatten wohl in erster Linie Angst. Natürlich wussten diese Palästinenser noch nicht, was die israelische Besatzung für sie bedeuten würde. Niemand wusste das. Selbst die Israelis nicht, wir Diasporajuden schon gar nicht.

In den ersten Jahren schien ja auch alles so einfach. Israel brachte den Palästinensern Wohlstand und Fortschritt. Und sie nahmen dies auch dankbar an, das muss gesagt werden. Israelis reisten mit Begeisterung in die besetzten Gebiete, die ja das eigentliche biblische Israel waren. Sie besuchten die jüdischen Heiligtümer, die biblischen Orte, kauften in den palästinensischen Städten ein oder gingen dort zum Essen. Beide Seiten profitierten voneinander. Es war, scheinbar, eine goldene Zeit. Ich erinnere mich nur zu gut, wie selbstverständlich das war, bis weit in die achtziger Jahre am Nachmittag in Jerusalem zu sitzen und mit einigen Freunden einfach so mal schnell nach Hebron zu fahren, um dort Kaffee zu trinken in diesem kleinen arabischen Lokal, wo man auch hervorragendes Knaffe bekam. Und wer aus meiner...

Erscheint lt. Verlag 19.3.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Benjamin Netanjahu • eBooks • Fundamentalismus • Gazastreifen • Hizbollah • Israel • Jerusalem • Nahostkonflikt • settlements • Siedlergebiete • Tel Aviv • Westbank
ISBN-10 3-641-16321-8 / 3641163218
ISBN-13 978-3-641-16321-1 / 9783641163211
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