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Befreiung von der Neurose (eBook)

Methoden der Verhaltenstherapie
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
204 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561646-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Befreiung von der Neurose -  Dieter Schwarz,  Elisabeth Sedlmayr
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Die revolutionierenden Möglichkeiten der Verhaltensmodifikation eröffneten nicht nur für die Behandlung schwerer klinischer Störungen (Phobien, Zwang) neue Wege, sondern auch bei der Bewältigung alltäglicher Konflikte. Neurosen als bestimmte erlernte Verhaltensweisen zu entdecken, die man nach den experimentellen Ergebnissen der Lerntheorie wieder verlernen kann - das bedeutete eine völlige Neuorientierung des therapeutischen Denkens. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Dieter Schwarz war Facharzt am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie.

Dieter Schwarz war Facharzt am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie. Elisabeth Sedlmayr war als Diplompsychologin am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie tätig.

Lernen von Verhaltensweisen


Als Aldous Huxley 1932 in seinem Roman ›Schöne neue Welt‹ schilderte, wie Menschen bereits in der Embryonalentwicklung auf ihren künftigen Beruf vorbereitet werden, hielten das die meisten Leser für dichterische Phantasie. Aber schon 1925 hatte ein Wissenschaftler, John B. Watson, gesagt: »Geben Sie mir ein Dutzend gesunder wohlgestalteter Kinder und meine eigene besondere Welt, in der ich sie erziehe. Ich garantiere Ihnen, daß ich blindlings eines davon auswähle und es zum Vertreter irgendeines Berufes erziehe, wie Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder auch Bettler, ohne Rücksicht auf seine Eignungen, Fähigkeiten, Anlagen oder Vorfahren.« Und Watson meinte das im Ernst. Denn er konnte sich auf eigene Untersuchungen berufen, in denen es ihm gelungen war, bei einem einjährigen Kind heftige Angstreaktionen gegenüber Tieren zu erzeugen. Zwar konnte er selbst die experimentell hervorgerufene Störung nicht mehr beseitigen, da das Kind aus dem Krankenhaus genommen wurde; er war aber davon überzeugt, daß er die Störung durch eine entsprechende Maßnahme wieder hätte beheben können.

Darin behielt er recht: Schon kurze Zeit nach der Veröffentlichung seiner Experimente wurden Methoden zur Beseitigung solcher und ähnlicher kindlicher Ängste beschrieben. Methoden, die auf demselben Prinzip basierten, das Watson zur Erzeugung solcher Störungen verwandt hatte: dem Prinzip der klassischen Konditionierung, auf dem zahlreiche Lernvorgänge beruhen.

Inzwischen sind 50 Jahre vergangen. Aus einzelnen Experimenten haben sich Behandlungsmethoden entwickelt, die heute erfolgreich in der Therapie zahlreicher Störungen eingesetzt werden. Sie werden unter dem Namen »Verhaltenstherapie« zusammengefaßt. Die Verhaltenstherapie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie – anders als die Psychoanalyse – auf kontrollierten wissenschaftlichen Experimenten aufbaut und daß ihre Ergebnisse durch eine entsprechende Methodik ständig überprüft werden können. Sie bezieht sich nicht auf hypothetische Konstruktionen, wie »Krankheit«, »Konflikt«, »Unbewußtes«, »Komplex« usw., sondern zielt auf sichtbare und meßbare Verhaltensweisen. Die Ursachen, die zu einer Störung führen, sind dabei von zweitrangigem Interesse. Ihre Kenntnis ist nicht Voraussetzung für eine Behandlung. Entscheidend für die Anwendung dieser Therapie ist die Erkenntnis, daß Verhaltensweisen erlernt und verlernt werden können.

Lernprozesse haben in den letzten Jahren zunehmendes öffentliches Interesse gefunden, so sehr, daß man von »lebenslangem Lernen« und von »unserer Lerngesellschaft« gesprochen hat. Wenn vom Lernen die Rede ist, so denkt man zuerst an Erwerb von Wissen oder Fähigkeiten. Wir lernen Rechnen oder wir lernen eine Sprache, wir lernen Fahrradfahren oder Maschinenschreiben. Wenn dagegen das Kind dem Ruf seiner Mutter folgt, wenn Leute, die sich begegnen, einander grüßen oder sich die Hände schütteln, halten wir das für selbstverständlich. Ein Student, der unter Prüfungsangst leidet, oder ein Angestellter, der zu schwitzen beginnt, wenn er dem Chef begegnet, nimmt das als lästig, aber unvermeidlich hin. Wenn ein junger Mann unfähig ist, Kontakt zum anderen Geschlecht aufzunehmen, wenn jemand unter einer »hysterischen Lähmung« leidet oder über häufig auftretende Angstzustände klagt, sprechen wir bereits von einer »Neurose«. Alle diese Verhaltensweisen, ob »normal« oder pathologisch, scheinen mit Vorgängen, die beim Wissenserwerb eine Rolle spielen, nichts zu tun zu haben.

Und doch hat die seit Anfang des Jahrhunderts entwickelte Lernpsychologie schon früh gezeigt, daß nicht nur Wissenserwerb, sondern auch unser normales Verhalten und zahlreiche Verhaltensstörungen als Ergebnis eines Lernprozesses angesehen werden können. Das überrascht zunächst, denn wir sind gewohnt, im Lernen einen Vorgang zu sehen, der bewußt vom Lehrenden oder Lernenden herbeigeführt wird. Aber schon wenn wir kleine Kinder beobachten, so wird uns auffallen, daß sie weit mehr gelernt haben, als wir ihnen beibringen wollten. Kinder sprechen mit ihren Puppen oder Stofftieren in derselben Weise wie wir mit ihnen. Sie haben, ohne daß sie es wollten, unsere Sprechweise angenommen. Sie »bestrafen« ihr Spielzeug in der gleichen Weise, wie sie von uns bestraft werden. Häufig beginnt dieser Lernprozeß schon zu einer Zeit, zu der wir noch gar nicht mit ihm rechnen. Untersuchungen haben gezeigt, daß einfache Lernvorgänge sogar schon vor der Geburt im Mutterleib stattfinden können.

Vögel lernen fliegen. So sagen wir jedenfalls. Und unsere Beobachtung scheint das zu bestätigen. Wir sehen, wie die Jungvögel zunächst am Nestrand stehen und mit den Flügeln zu schlagen beginnen, wie sie später, immer noch ans Nest gebunden, kurz auffliegen, dann nach einiger Zeit vielleicht einen nahen Zweig ansteuern. Doch 1939 berichtet J. Grohmann über ein interessantes Experiment. Er sperrte junge Tauben in einen Käfig, so daß sie ihre Flügel nicht bewegen konnten. Wenn nun eine gleichaltrige Gruppe junger Vögel, die ohne Einengung und sozusagen unter elterlicher Belehrung aufgewachsen zu fliegen begann, ließ er die eingezwängten Tauben aus dem Käfig heraus. Es zeigte sich, daß die Tiere, obwohl sie keine Möglichkeit zum Lernen gehabt hatten, praktisch genauso gut fliegen konnten wie die Kontrollgruppe. Offenbar war das Fliegen gar nicht Ergebnis eines Lernvorganges, sondern stellte eine angeborene Reaktion dar, die im Laufe des Reifungsprozesses von selbst in Gang kam.

Die vergleichende Verhaltensforschung hat gezeigt, daß zahlreiche Verhaltensweisen artspezifisch angeboren sind. Noch bevor der Säugling erste Erfahrungen mit der Mutterbrust gemacht hat, können wir an ihm Suchbewegungen beobachten. Isoliert aufgezogene Tiere zeigen auf bestimmte Reize gezielte Reaktionen. Sie betteln um Futter, wenn bestimmte Reizbedingungen gegeben sind.

Häufig genügen dazu schon Attrappen, die in Form und Farbe nur entfernte Ähnlichkeit mit dem normalerweise fütternden Elterntier haben. Sosehr wir also einerseits dazu neigen, bestimmte Verhaltensweisen als Charaktereigenschaften, also als angeboren zu betrachten, so sehr neigen wir auf der anderen Seite dazu, bestimmte genetisch festgelegte Verhaltensweisen, die erst im Laufe eines Reifungsprozesses zu Tage treten, als erworben anzusehen.

Warum lernen wir überhaupt? Oder, wenn wir die Frage etwas theoretischer fassen, welche Motive haben wir für unser Handeln? Betrachten wir ein Neugeborenes: Es hat noch nichts gelernt. Aber ohne äußerlich sichtbaren Anlaß bewegt es Arme und Beine, wendet den Kopf hin und her. Sobald es Hunger oder Durst hat, wird es unruhig, es schreit und veranlaßt durch dieses Verhalten seine Umgebung dazu, seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Schon die erste Aktion, die wir überhaupt beobachten, sobald das Kind den Mutterleib verlassen hat, der erste Schrei, dient dazu, ein primäres Bedürfnis zu erfüllen, nämlich das nach Sauerstoff. Diese primären Bedürfnisse dienen offenbar der Selbsterhaltung.

Andere Artikulationen wie das Verlangen nach geschlechtlicher Aktivität und Pflegeverhalten scheinen mehr der Arterhaltung zu dienen. Aber kehren wir zum Säugling zurück. Wir sehen, daß das Kind, noch bevor es etwas lernt, eine ganze Reihe von Verhaltensweisen beherrscht. Es schreit, wenn es Hunger oder Durst hat, es bewegt die Glieder, es reagiert auf verschiedenartige äußere Reize. Nimmt die Mutter das Kind zu sich, so bewegt es den Kopf hin und her, und sobald es mit dem Mund auf die Mutterbrust trifft, beginnt es zu saugen. Diese Suchbewegungen sind zunächst ungezielt und werden, wie man bei Affen beobachten konnte, durch bestimmte Hautreize, nämlich den Übergang von behaarten zu unbehaarten Hautstellen, gesteuert. Aber bereits hier setzt ein Lernvorgang ein. Die Greifbewegungen, wobei zunächst der Mund als Greiforgan dient, werden von Mal zu Mal zielgerichteter und treffsicherer. In einer späteren Reifungsphase können wir beobachten, daß die Greiffunktion mehr und mehr von den Händen übernommen wird, aber auch hier gehen dem Lernvorgang reflektorische Greifbewegungen voraus: Angeborenes Verhalten und Lernvorgänge greifen ineinander. So sind auch die Reaktionen auf ein nahes Geräusch angeboren; das Kind muß aber ein gewisses Reifungsstadium erreicht haben, bevor es sich einem Geräusch, das ihm die Nähe von Nahrung ankündigt, zuwenden kann. Hat es einmal dieses Reifungsstadium erreicht, so gewinnen die Konsequenzen einer Reaktion an Bedeutung. Das Kind lernt um so rascher, je häufiger seine Reaktion mit einer Bedürfnisbefriedigung verknüpft ist.

In Lernexperimenten an Tieren hat man sich diese Beobachtung zunutze gemacht. Wir werden später noch sehen, daß bei Lernexperimenten Tieren häufig zunächst Futter und Wasser entzogen wurde, um die Bedürfnisstärke zu erhöhen und damit die Bedürfnisbefriedigung als einen das Lernen in Gang setzenden oder fördernden Reiz zu nutzen. Der bekannte Lerntheoretiker C. Hull hat darauf seine »Trieb-Reduktions-Theorie« aufgebaut. Lernvorgänge werden demnach in Gang gesetzt, wenn das Bedürfnis des Körpers nach Nahrung befriedigt wird, aber auch, wenn die durch eine Gefahr hervorgerufene Spannung durch Flucht oder Vermeidung reduziert wird. Diese Vorstellung hat große Ähnlichkeit mit dem von Freud postulierten »Lust-Unlust-Prinzip«. Daß die Verhältnisse nicht immer so einfach liegen, haben neuere Untersuchungen mit der Methode der sog. Selbstreizung gezeigt. Dabei werden Tieren in bestimmte Hirnregionen Elektroden eingeführt. Die Tiere können durch geeignete Reaktionen (z.B. Betätigung eines Schalters) einen...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Neurose • Phobie • Psychologie • Sachbuch • Therapie • Verhaltenstherapie • Zwang
ISBN-10 3-10-561646-2 / 3105616462
ISBN-13 978-3-10-561646-8 / 9783105616468
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