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Sterben in Deutschland (eBook)

Wie wir dem Tod wieder einen Platz in unserem Leben einräumen können
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
296 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560935-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sterben in Deutschland -  Reimer Gronemeyer
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Bedrohung, Erlösung, Tabu - von unserem Umgang mit dem Sterben Je älter unsere Gesellschaft wird, umso drängender stellt sich die Frage nach unserem Umgang mit dem Lebensende. Die medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung sind fast unbegrenzt, doch viele wünschen sich einen plötzlichen, schmerzfreien Tod. Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, Experte für Sterbeforschung, Hospizarbeit und Palliative Care, zeigt, wie die zunehmende Institutionalisierung und Medikalisierung des Sterbens immer schwierigere ethische Fragen aufwerfen und welche Antworten es darauf geben kann. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, geb. 1939, Studium der Theologie in Hamburg, Heidelberg und Edinburgh, dann lutherischer Pfarrer in Hamburg, ist seit 1975 Professor für Soziologie an der Universität Gießen. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher.

Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, geb. 1939, Studium der Theologie in Hamburg, Heidelberg und Edinburgh, dann lutherischer Pfarrer in Hamburg, ist seit 1975 Professor für Soziologie an der Universität Gießen. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher.

Zur Einführung


Früher ist man gesund gestorben


Der flexible Mensch und sein brüchiges Lebensende

Meine Großmutter hatte das Privileg, zu Hause sterben zu können. Ich nehme jedenfalls an, dass es ein Privileg war. Ich weiß genau, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, sie ins Krankenhaus zu bringen. Sie hatte bei uns, bei ihrer Tochter mit deren Mann und drei Söhnen, ihren Enkeln, gewohnt. Sie war Eisenbahnerwitwe und hatte einen weißgrauen Knoten im Nacken, ein schwarzes Kleid mit einer kleinen weißen gestärkten Schleife. Eine neue Schleife, das war ihr immer wiederkehrender Geburtstagswunsch, sonst nichts. Außerdem wünschte sie sich von Zeit zu Zeit Gummiringe für ihr Brillenetui, das nicht mehr schloss. Diese Gummiringe schnitten wir Kinder dann aus alten Fahrradschläuchen. Sonst strickte sie in der Sofaecke und war bescheiden, aber selbstbewusst. Irgendwann begann sie unter Schwindelanfällen zu leiden, sie fiel manchmal um. Eines Tages erlitt sie einen Schlaganfall. Sie konnte nicht mehr richtig sprechen, nur noch lallen und sich kaum noch bewegen. Ihr weißes, metallenes Bettgestell stand an der Wand und ich, zwölf Jahre alt, bekam die Aufgabe, über sie hinwegzusteigen, damit wir gemeinsam ihren Kopf hochhalten konnten, um ihr etwas zu trinken einzuflößen, was nicht richtig gelang. Wir entnahmen ihrem Stammeln den Wunsch, man möge ihre eigene Tasse holen, eine sehr einfache, blassgelbe, dicke Porzellantasse mit breiter Öffnung. Ich meine, sie hätte schließlich etwas getrunken. In unmittelbarer Nachbarschaft gab es ein Heim für so genannte »gefallene Mädchen«, junge Prostituierte. Man hörte sie am Abend singen – 1953 sass man offenbar abends noch im Kreis und sang Lieder! – und sie sangen: »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.« In der Nacht hörte ich plötzlich lautes Weinen, die Großmutter war gestorben. Das Zimmer, in dem sie gestorben war, fand ich am Morgen verschlossen. Später konnte ich in den Raum sehen, als eine Ärztin kam, die der Verstorbenen einen kleinen runden Taschenspiegel vor den Mund hielt, um den Atemstillstand zu prüfen (der Spiegel wäre sonst beschlagen). Das Fenster war geöffnet, »damit die Seele den Raum verlassen konnte«, sagte meine Mutter. Und die große alte Standuhr war angehalten worden. Die Ärztin wickelte der weißhaarigen Großmutter, im weißen, linnenen Nachthemd, im weißen Bett, eine weiße Mullbinde um den Kopf, die den Mund schließen sollte. Die Zahnprothese wurde eingesetzt und dann kam irgendwann im Laufe des Tages der Beerdigungsunternehmer und nahm sie im Sarg mit. Aus dem Fenster sahen wir, wie die Großmutter für immer weggefahren wurde.

 

Heute würde man sie nach dem Schlaganfall wohl sofort ins Krankenhaus bringen. Sie würde einen Tropf bekommen, vielleicht eine PEG-Sonde für die künstliche Ernährung. Möglicherweise würde sie sich sogar etwas erholen. Aber würde sie es wieder bis in einen Rollstuhl schaffen? Nach einer gewissen Zeit jedenfalls hätte man sie in ein Pflegeheim verlegt, um dort noch eine Zeit zu leben: ernährt, gepflegt, gewindelt, gewaschen. Sie, die nie viel für sich beansprucht hatte, wäre ein teurer Sozialfall geworden.

Die Situation der fünfziger Jahre ist nicht wieder herstellbar. Für die Großmutter gab es keine professionelle Pflege, keine medizinische Versorgung, keine Institution, in die man sie hätte bringen können. Vermutlich wäre ihr die moderne Variante des Lebensendes zuwider gewesen. Aber wir stehen heute vor einem Dilemma: Da es nun einmal die professionelle Pflege gibt, die Ambulanz, die Sonde, die Rehabilitation, das Pflegeheim und die Windeln, besteht gar nicht die Möglichkeit, »nein« zu sagen, weil das im Grunde unterlassene Hilfeleistung wäre. Kann man sich das noch vorstellen, dass ein Zwölfjähriger über die sterbende Großmutter klettert, ihren Kopf hält, damit ihr Tee eingeflößt werden kann? Wenn erst einmal die Wahlmöglichkeit da ist, führt nichts an der Professionalisierung vorbei. Und auf diesem Wege verschwimmen natürlich auch die Grenzen zwischen dem Sterben zu Hause und dem Sterben in der Institution: Der Trend geht dahin, die Menschen zwar möglichst zu Hause sterben zu lassen, wenn das der Wunsch ist – aber um den Preis, dass das Krankenhaus in die Familie kommt: Das Sterbezimmer wird personell und technisch so aufgerüstet, dass der Unterschied zwischen Krankenhaus und Zuhause fast verschwindet.

Meine Großmutter war als junge Frau von einer nordfriesischen Insel nach Hamburg gekommen. Der Beruf des Ehemannes brachte das mit sich. Sie war von einer rauen, störrischen Frömmigkeit, die im Abendgebet und im sonntäglichen Kirchgang zum Ausdruck kam. Daneben war sie aber auch offen für heidnische Bräuche: Sie las die Zukunft aus Teeblättern und bei Krankheiten kam jemand zum »Besprechen«. Zu diesen Anlässen wurde die Tür geschlossen und wir Kinder hörten ein geheimnisvolles Gemurmel. Die Warzen verschwanden dann bald von der Hand, ebenso wie andere kleinere Gebrechen. Und wenn man von Zähnen träumte, so hieß es, fürchtete man, dass jemand sterben würde. Das Leben und den Tod betrachtete die Großmutter als etwas, das aus Gottes Hand kommt. Sie hatte von ihrer Rente das Beerdigungsgeld auf die Seite gelegt, mehr Vorsorge konnte es nicht geben. Dass das Grab neben ihrem schon lange verstorbenen Mann für sie bestimmt war, das war ohnehin selbstverständlich. Dieses Grab hat sie in ihrer Witwenzeit sehr häufig besucht, sorgfältig gepflegt und mit Blumenschmuck versehen.

Was vor und was nach dem Tod geschieht, hat sich in dem halben Jahrhundert seit dem Tod meiner Großmutter in den fünfziger Jahren radikal umgekehrt. Aus dem unspektakulären, irgendwie selbstverständlichen Sterben ist heute ein medizinisch kontrolliertes Sterben geworden, das meist im Krankenhaus oder im Altenpflegeheim stattfindet: 80 Prozent der Deutschen sterben in einer Institution, obwohl 80 Prozent der Deutschen sagen, dass sie zu Hause sterben möchten. Außerdem ist Sterben der teuerste Lebensabschnitt geworden: Krankenversicherer sagen, dass zwei Drittel der Krankenhauskosten heute im Durchschnitt in den letzten Lebenswochen und -monaten anfallen. Teure Therapien, teure Schmerzmittel, teure Pflegeeinrichtungen oder äußerst kostspielige Intensivstationen. Das Lebensende ist oft noch einmal durch eine bisweilen absurde Mobilität gekennzeichnet, als würde die Beschleunigung, die unser Leben heute kennzeichnet, auch am Ende noch einmal triumphieren: Viele Sterbende werden mit der Ambulanz im letzten Augenblick noch aus ihrer Wohnung ins Krankenhaus gebracht, vom Pflegeheim ins Krankenhaus, vom Krankenhaus ins Pflegeheim oder vom Krankenhaus ins Hospiz, immer auf der Suche nach Rettung in letzter Sekunde oder nach Verbesserung der Situation durch Beatmungsgeräte, Morphium, Ernährungssonden. Es wäre im Sterbezimmer meiner Großmutter niemand auf die Idee gekommen, eine Ambulanz zu rufen: Erstens gab es überhaupt kein Telefon in der Wohnung und zweitens waren die Ambulanzen noch Krankenwagen, die keineswegs kurzfristig zur Verfügung standen.

 

Die Veränderung der Situation, die Menschen heute, im Vergleich zu meiner Großmutter, am Ende des Lebens erfahren, ist für mich greifbar in der Geschichte eines alten Ehepaars, die sich so oder ähnlich vielfach ereignet:

Friedrich H. ist 1903 geboren. Kurz nach seinem neunzigsten Geburtstag erleidet er 1993 einen heftigen Herzanfall. Seine Frau ruft den Notarzt und die Ambulanz kommt, um ihn ins Krankenhaus zu bringen. Er fleht seine Frau an, ihn zu Hause zu lassen. Die verzweifelt, weil sie nicht weiß, was sie tun soll. Sie fügt sich der Autorität der Ambulanzbesatzung und Friedrich H. wird mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Er stirbt im davonrasenden Wagen. Als sein Sohn am anderen Morgen ins Krankenhaus geht, wird ihm das Ableben des Vaters mitgeteilt, und gleichzeitig, dass es nicht mehr möglich sei, den Vater noch einmal zu sehen. Erst im kommenden Monat werde es möglich sein, gegen eine Gebühr von 80 Mark eine kurze Aufbahrung zu veranlassen. Er bekommt eine Plastiktüte in die Hand, in der sich die Kleidungsstücke, der Ehering und das Gebiss des Vaters befinden. Die Beerdigung findet im Familiengrab statt, wo bereits die Eltern des alten Mannes, seine Geschwister und deren Ehepartner beerdigt sind. Die ohnehin ängstliche Frau hatte es nicht vermocht, dem Wunsch des Ehemanns zu entsprechen, weil die Resthoffnung, er könne doch noch gerettet werden, stärker war. Er, der in seinem Bett zu Hause sterben wollte, stirbt den medikalisierten Tod in der Ambulanz. Seine Frau, 1909 geboren, lebt noch acht Jahre länger. Im letzten Jahr ihres Lebens wiederholt sie immer häufiger den Satz: »Ich möchte nicht mehr leben.« Am Grab ihres Mannes sagt sie: »Ich komme bald zu dir«. Sie lebt nun allein, ist durch ein Alarmsystem mit der Pflegezentrale verbunden. Trotzdem findet man sie eines Tages bewusstlos auf dem Boden in ihrer Wohnung. Sie hat die Zentrale nicht mehr alarmieren können, obwohl sie den Alarmknopf am Arm trug. Niemand weiß, wie lange sie dort gelegen hat. Sie wird in die KZP gebracht, in die Kurzzeitpflege, sehr teuer, sehr gut ausgestattet. Sie ist ein wenig verwirrt, aber sie erkennt ihre Kinder und ahnt, dass sie nicht mehr in ihre Wohnung zurückkehren wird. Die Frau war, wie gesagt, immer ein eher ängstlicher Mensch. Nun verweigert sie entschlossen die Nahrungsaufnahme. Sie presst die Lippen zusammen und öffnet sie nur noch, um zu sagen, dass sie nicht essen und nicht trinken will. Der Arzt bespricht mit den Söhnen die Frage, ob sie...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte AIDS • Altenpflegeheim • Demenz • Deutschland • Euthanasie • Gesellschaft • Hospiz • Hospizbewegung • Krankenhaus • Lebenserwartung • Pflegeheim • Sachbuch • Sterbebegleitung • Sterben • Tod • Tötung
ISBN-10 3-10-560935-0 / 3105609350
ISBN-13 978-3-10-560935-4 / 9783105609354
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