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Schizophrene Dichter (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
358 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560822-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schizophrene Dichter -  Leo Navratil
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Schizophrenie ist nach den Erkenntnissen des bekannten Psychiaters Leo Navratil nicht nur eine psychische Störung, sondern auch ein schöpferischer Zustand, dem literarische Werke entspringen können. An Beispielen auch aus seiner eigenen Praxis zeigt der Autor viele Aspekte des Zusammenhangs zwischen Schizophrenie und Literatur. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Leo Navratil (1921-2006) studierte in Wien Medizin, Psychologie und Anthropologie und trat 1946 als Sekundararzt in die Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalt Gugging (später Landesnervenklinik Maria Gugging) ein. Nach zusätzlicher Ausbildung und einem Studienaufenthalt in London wurde er 1959 Leiter einer psychiatrischen Abteilung in Gugging. Auf seine Anregung hin wurde dort 1981 das »Haus der Künstler« gegründet. Leo Navratil war 40 Jahre in Gugging tätig. Er hat zahlreiche Bücher zu Fragen des Zusammenhangs zwischen psychischen Störungen und kreativer Tätigkeit veröffentlicht.

Leo Navratil (1921–2006) studierte in Wien Medizin, Psychologie und Anthropologie und trat 1946 als Sekundararzt in die Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalt Gugging (später Landesnervenklinik Maria Gugging) ein. Nach zusätzlicher Ausbildung und einem Studienaufenthalt in London wurde er 1959 Leiter einer psychiatrischen Abteilung in Gugging. Auf seine Anregung hin wurde dort 1981 das »Haus der Künstler« gegründet. Leo Navratil war 40 Jahre in Gugging tätig. Er hat zahlreiche Bücher zu Fragen des Zusammenhangs zwischen psychischen Störungen und kreativer Tätigkeit veröffentlicht.

Wortanfälle


In einem kurzen Essay mit dem Titel ›Wortanfälle‹ berichtet Elias Canetti,[3] daß er während seiner Emigration in England zeitweise den Drang hatte, alle deutschen Worte, die ihm einfielen, wahllos niederzuschreiben. »Plötzlich kam es wie ein Furor über mich«, schreibt er, »und ich bedeckte einige Seiten blitzrasch mit Worten.« Es war eine Spielerei, die ihm pathologisch vorkam, er schämte sich ihrer und verbarg die Zettel vor seiner Frau.

»Wenn ich spürte, daß ein solcher Anfall bevorstand«, schreibt Canetti dann weiter, »sperrte ich mich wie zur Arbeit ein.« Außerdem gibt er an, er habe sich bei dieser »privaten Narretei« besonders glücklich gefühlt.

Elias Canetti hat in der Emigration weiter deutsch geschrieben. Er meinte, daß den einzelnen Wörtern eine besondere Kraft innewohne, daß sie mit einer Art Leidenschaft geladen seien, die in einer fremdsprachigen Umgebung noch stärker als sonst hervortrete und die diese seltsame Erscheinung bei ihm bewirkt habe: Er nannte sie »Wortanfälle«.

Die Schilderung Canettis interessierte mich deshalb, weil ich auch bei meinen Patienten sprachliche Äußerungen beobachtet habe, die man als »Wortanfälle« bezeichnen könnte, und weil die Wortanfälle Canettis mit denen meiner Patienten gewisse Ähnlichkeiten haben. Ich möchte damit keineswegs diese Phänomene als identisch erklären, sondern ich möchte bloß den von Canetti geprägten Begriff aufgrund der Analogien auf meine Beobachtungen übertragen.

Josef B. war kaufmännischer Angestellter, er begann nebenher Medizin zu studieren, konnte das Studium aber nicht beenden, weil er an Schizophrenie erkrankte. Er verlor seinen Beruf und arbeitete vorübergehend auf einer Baustelle. Im Krankenhaus bemerkte ich, daß Josef B. oft sehr schnell vor sich hin redete und dabei einzelne Wörter aneinanderreihte. Er habe sich dieses Sprechen auf der Baustelle angewöhnt, sagte er mir, es sei für ihn eine Übung. Hier eine Probe nach einer Tonbandaufzeichnung. Josef B. spricht schnell und psalmodisch:

 

Leukocyten, Lymphocyten, Thrombocyten, Histiocyten, Ödem, Kapillaren, Delirium, Meningen, Dura, Pleura, Liesing, Atzgersdorf, Traiskirchen, Mödling, Grammat-Neusiedl, Stix-Neusidl, Groß-Neusiedl, Brot, Rahm, Käse, Marmelade, Tee, Butter, Whisky, Eier, Wien eins, zwei, drei vier, Mariahilferstraße, Kärntnerstraße, Rotenturmstraße, zweiter Bezirk, dritter Bezirk, Eiweiß, Kohlehydrate, Fette, Bor, Rela, Universale, China, Weizen, Hafer, Gerste, Zuckerrübe, Kartoffel, Mais, anorganisch, organisch, Wurzeln, Bakterien, Wasser, Luft, Licht, Wärme, Temperatur, Siebenhirten, Vösendorf, Brot, Käse, Endokard, Myokard, Perikard, Aschoff-Tawara, Ziegel, Zement, Sand, Kalk, Mischmaschine, Bagger, Kran, Aufzug, Wilcek, Hirschfeld, Megrelle, Stummvoll, Eiweiß, Kohlehydrate, Fette, Elektronen, Protonen, Uranium, Blei, Zink, Kupfer, Ödem, Meningen, Nucleus caudatus, Dura, Pleura, Cyste, Scharlach, Masern, Keuchhusten, Endokard, Myokard, Eiweiß, Kohlehydrate, Fette, Ödem, Mangan, Chlor, Ziegel, Zement, Kalk, Mischmaschine, Eiweiß, Kohlehydrate, Weizen, Hafer, Gerste, Zuckerrüben, Kartoffeln, Mais …

 

Ein anderer schizophrener Patient, aus der Landwirtschaft stammend, hatte die Gewohnheit, Tiernamen aneinanderzureihen und diese Wortreihe sehr schnell und rhythmisierend aufzusagen:

 

Spatzen, Maden, Tolken, Amseln, Hendel, Enten, Anten, Eulen, Geier, Gansel, Specht, Star, Rabe, Käfer, Gelsen, Bienen, Fliegen, Reiher, Kuckuck Eier … Decken, Schnecken, Fuchsen, Dachsen, Marder, Iltis, Igel, Reh, Hirschen, Kühe, Roß, Sau, Elefanten …

 

Wieder ein anderer hatte die Bedeutung von Verkehrszeichen auswendig gelernt und sprach diese Worte, besonders wenn er alleine war, außerordentlich schnell und litaneiartig vor sich hin:

 

Gefahrenzeichen, Linkskurve, Rechtskurve, Kreuzung, Kreuzung mit Vorrang, Bahnübergang, Fußgänger-Übergang, Kinder Achtung, Tiere, Wildwechsel, Vorrang beachten … 240, 240, 160, 180 Meter, unbeschrankter Bahnübergang, eingleisig, mehrgleisig, Haltesignal beachten, Blinklicht beachten …

 

Canetti hat einen eigenen Ausdruck geprägt für eine Erscheinung, die er an sich selbst beobachtet hatte. Warum sprach er von »Anfällen«? Das klassische Anfallsleiden ist die Epilepsie. Der Epileptiker stürzt oft mitten im Alltag bewußtlos zusammen und wird hierauf von Krämpfen geschüttelt. Im Altertum glaubte man, dieses Anfallsleiden käme von einer göttlichen Macht. Die Epilepsie hieß deshalb »heilige Krankheit«. Oft geht dem epileptischen Anfall eine Aura voraus. Man versteht darunter bestimmte kurzdauernde Empfindungen oder Gefühle, die beim einzelnen Kranken in stets gleicher Weise wiederkehren. »Aura« heißt wörtlich »Lüftchen«: Manche Patienten spüren einen Hauch an der Stirn, bevor sie das Bewußtsein verlieren. Diese epileptische Aura zeigt zumindest im ursprünglichen Wortsinn eine gewisse Verwandtschaft mit dem Begriff der »Inspiration«: Auch die Verfasser der Heiligen Schrift und später die Dichter bedurften eines göttlichen Hauches, einer Berührung durch das Übernatürliche.

Es scheint deshalb nicht so abwegig, daß der Psychiater und Gerichtsmediziner Cesare Lombroso, dessen Buch ›Genie und Irrsinn‹ 1887 auf deutsch erschienen ist, auf den Gedanken kam, Genie und Epilepsie könnten miteinander in Beziehung stehen.[4] Lombroso hielt die Inspiration für ein epileptisches Äquivalent. Nach heutiger Auffassung besteht zwischen einer schöpferischen geistigen Leistung und epileptischen Manifestationen kein Zusammenhang. Wie sehr Lombroso dabei auch geirrt haben mag, in einer Hinsicht hat er doch recht gehabt: Es gibt Erlebnisweisen, die anfallsartig auftreten und sich dadurch vom normalen Erleben und Verhalten abgrenzen. Elias Canetti hat dafür – ohne direkten Bezug zur Lehre Lombrosos – ein Beispiel gegeben.

Anfallsartig nennen wir also ein psychisches Geschehen, das unabhängig von unserem Willen plötzlich einsetzt und den normalen Tagesablauf unterbricht. Die sozialen Bezüge sind dabei gelockert, der rationale Sinn fehlt, dafür ist die subjektive Bedeutung oft erhöht; die ständige Wiederholung ist dabei kennzeichnend.

Wortanfälle zeigen alle Übergänge vom reinen Automatismus bis zu scheinbarer Absichtlichkeit. Die Freiheitsgrade, die wir normalerweise besitzen, sind dabei aber stets vermindert. Es gibt soziokulturell festgelegte Bahnen für Wortanfälle, zum Beispiel beim Fluchen oder Schimpfen, aber auch manche Formen des Betens oder Dichtens gehören hierher. Denn Wortanfälle müssen keineswegs aus einzelnen unzusammenhängenden Wörtern bestehen. Im weiteren Sinn ist jedes dranghafte Bedürfnis zu sprechen ein Wortanfall. Wir alle kennen Menschen, die im Gespräch zu Wortanfällen neigen und ihre Zuhörer dabei oft äußerst langweilen und ermüden, ohne es selbst zu bemerken. Man sagt dann, sie haben einen Redefluß, eine Logorrhoe.

Wortanfälle brauchen sich also vom konventionellen Reden äußerlich nicht besonders zu unterscheiden. Die Wörter können den grammatischen Regeln folgen und verständliche, ja geschliffene Sätze ergeben. Wortanfälle können sich in wissenschaftlichen Referaten äußern. Eine Ansprache, eine Predigt können Wortanfälle sein.

Ich gebe als Beispiel einen Ausschnitt aus einer Weihnachtsansprache des Patienten Josef B. wieder. Obwohl er hier nicht einzelne Wörter aneinanderreiht, so wirkt seine Ansprache dennoch wie ein Automatismus mit ständigen Wiederholungen, bei erhöhtem Pathos und Sprachgestus. Aber sie erinnert doch auch wieder sehr an die eingeschliffenen Wendungen im Fluß vieler Reden, die oft auf weite Strecken hin gedanklich leerlaufen:

 

Wenn wir in der Stabilisation des Lebens, wenn wir den Kreislauf des Geschehens beobachten, finden wir, daß die Suggestion in dieser kreistherapeutischen Grundlage der Manifestationen unserer Zeit aufgefunden haben. Wenn wir im Leben draußen, wenn wir in der Einheit der Suggestion, wenn wir die Kraft brauchen, dann dringen wir weit hinaus in das Leben. Wir suchen dann mit diesem Dasein das zu finden, was in der Einheit des bleibenden Wertes einer suggestiven Darreichung bedarf. Wenn wir in den bleibenden Werten dieser Suggestionen Kräfte brauchen, wenn wir die Kräfte finden, so daß dieses Bestreben, so daß diese Einheiten in der gefundenen Darreichung aufgezogen würden, müßten wir weit in der Suggestibilität, müßten wir in der eingenommenen Tatsache, der von Jesum Christum, dem Herrn, der von der katholischen und evangelischen Kirche gefundenen Tatsachen zu widerstreben. Wenn wir weit hinausgehen in das Land, wenn wir die Fabriken und Suggestionen in den Arbeitsbereichen befürworten, so finden wir, daß all diese Geschehnisse zwar vorhanden sind, aber immer wieder dem gesteigerten Bedürfnis obliegen kann oder muß, weil diese Kraftausdrücke heute in den Werten des Lebens der Publikation Einteilung gefunden haben und daß diese Werte dann stabilisiert werden …

 

Manche Wortanfälle sind vom Inhalt her schwer verständlich. Deshalb verglich schon Lichtenberg die Dichter mit Nachtigallen und Kanarienvögeln und meinte, ihr Gesang gefalle vielleicht gerade deswegen, weil man keinen Sinn darin finde.

Dann aber gibt es Wortanfälle, bei denen die Sprache grammatikalisch deformiert und neologistisch wird und schließlich den Charakter einer fremden, unverständlichen Sprache annimmt. Solche Wortanfälle können in religiös-ekstatischen Zuständen auftreten: Man denke an das Pfingstwunder, die Glossolalie, also das...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Autor • Cesare Lombroso • Dichtkunst • Edmund Mach • Ernst Herbeck • Friedrich Hölderlin • geisteskranke • Geisteskrankheit • Gugging • Irrsinn • Kreativität • Oswald Tschirtner • Paris • Psychose • Sachbuch • Schizophrenie • Schreiben • Wien • Wortanfall • Zungenrede
ISBN-10 3-10-560822-2 / 3105608222
ISBN-13 978-3-10-560822-7 / 9783105608227
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